Der Freizeit- und Gastronomieverband heißt die BesucherInnen Porto Alegres ausdrücklich willkommen, verkündeten Aushänge in etlichen Restauranteingängen. „Eine andere Bank“ ist möglich, schrieb sich die Caixa, die Sparkasse, in Großbuchstaben auf die Pforten. Ein Optiker goss den Slogan des Weltsozialforums WSF in die Empfehlung: „Mit anderen Augen sehen ist möglich“. Und städtische Angestellte verteilten beim Internationalen Rat des WSF zwei Tage vor Auftakt der Veranstaltung eine Petition, nach der Porto Alegre zur Hauptstadt der Sozialforen und damit zum immerwährenden Austragungsort erklärt werden sollte. Aber es half alles nichts. Der Beschluss steht seit einem knappen Jahr: Das nächste Weltsozialforum wird erst 2007 stattfinden, um den AktivistInnen eine Atempause für heimische Mobilisierungen zu verschaffen, und wird dann in ein noch zu entscheidendes Land in Afrika umziehen. Danach wird man sehen. Aber die Porto Alegre Fans geben so schnell nicht auf. Es geht um Macht, Einfluss und Geld, auch beim WSF. Jedenfalls für manche.
2001 war das Weltsozialforum als „Gegengipfel“ zum Weltwirtschaftsforum (WEF) gegründet und in Porto Alegre einberufen worden, weil die Stadt wie der Bundesstaat Rio Grande do Sul von der damals noch oppositionellen, linken PT (Partido dos Trabalhadores) regiert wurden und neben einer Reihe positiven strukturellen Neuerungen den weltweit als Vorbild zitierten „orçamento participativo“, den mit BürgerInnenbeteiligung aufgestellten städtischen Haushalt, eingeführt hatten. „Eine andere Welt ist möglich“, wie die WSF-InitiatorInnen meinten, wäre in dieser Stadt also am glaubwürdigsten zu exemplifizieren. Nun hat sich das Blatt inzwischen gewendet. 2002 siegte im Bundesstaat Rio Grande do Sul wieder die Rechte. Bei den Kommunalwahlen im Oktober 2004, knapp zwar, auch in der Stadt. Warum dann weiterhin in einem Symbol tagen, das keins mehr ist? Der Gouverneur wie auch der neue Bürgermeister dachten an den Tourismusauftrieb und boten sich als freundliche Gastgeber an. Der Vizebürgermeister schien seine Klientel anderswo auszumachen und schimpfte zwei Wochen vor WSF-Beginn öffentlich über die Chaoten und Terroristen, die da einfallen würden.
Aber auch ohne solche amtlichen Ausfälle ist klar: Die Karawane zieht weiter. Schon beim zweiten WSF wurde beschlossen, dass das Forum sich weltweit ausbreiten müsse. Seither entwickeln sich thematische, regionale und nationale Sozialforen, wie etwa das Amerikanische Sozialforum im Juli 2004 in Quito (vgl. ila 278), die Europäischen Sozialforen im November 2002 in Florenz (vgl. ila 261) und im Oktober 2004 in London (vgl. ila 280) oder das Deutsche Sozialforum im kommenden Juli in Erfurt. Das vierte WSF im vergangenen Jahr wurde nach Mumbai/Indien verpflanzt und veränderte sich dort von Grund auf. In Mumbai fanden die Großveranstaltungen mit den Köpfen der (westlichen) sozialen Bewegungen vor leeren Stühlen statt, während die schieren Massen sich demonstrierend durch die Wege und Straßen des WSF-Geländes schoben.
Frucht der Erfahrung, dass Vernetzungen und strategische Allianzen wichtiger sind als schlaue Frontalvorträge, war eine Runderneuerung des Veranstaltungskonzepts. Das brasilianische Sekretariat und der Internationale Rat, gemeinsam für die Organisation verantwortlich, gaben die Gestaltung zurück an die TeilnehmerInnen. Per Internetbefragung wurden bis Mitte letzten Jahres die am meisten interessierenden Themenkomplexe herausgefiltert. Danach konnten Gruppen und Bewegungen ihre Veranstaltungs- vorschläge unter elf Oberbegriffen einreichen und möglichst mit anderen Gruppen gemeinsam durchführen. An die Stelle der Hierarchie aus zentral organisierten Leitveranstaltungen, Seminaren mit Simultanübersetzung und Workshops ohne Übersetzung trat ein einziges Format.
Das Programm war mindestens so dick wie in den Vorjahren, aber zur Orientierung reichte eigentlich der Lageplan am Ende. Statt wie zuvor in der PUC, den Räumen der schicken katholischen Privatuniversität weit weg vom Stadtzentrum zu tagen, tummelten sich die Teilnehmerinnen entlang des Guaíbasees (Baden wegen Verschmutzung verboten, stand auf einem Schild, aber der Gestank allein vermochte schon von solchem Ansinnen abzuhalten), an dem Hunderte Zelte und angepasste Naturbauten errichtet worden waren. Von A wie „Autonomes Denken“ bis K wie „Kosmovisionen, Ethik und Spiritualitäten“ war das WSF in thematische Sektoren unterteilt. Wer sich für „Soziale Kämpfe“ interessierte, konnte so vier Tage lang nur im Sektor „F“ alle treffen, die Rang, Namen, Kenntnisse oder auch nur Spaß an diesem Thema hatten. Wer mehr zum Thema „Erde und gemeinsame Güter“ arbeitet, wanderte am mitten im WSF platzierten Jungendcamp vorbei bis „E“. Bauern, Bäuerinnen und Faire-HandelsvorkämpferInnen boten gegen die alternative Währung „txai“ in den thematisch passenden Sektoren ökologische Kost an. Allerdings war den meisten KäuferInnen die Alternativwährung bei aller Solidarität suspekt. Und außerdem war die Konkurrenz der informellen HändlerInnen nicht faul. Das neue Prinzip des WSF, stadtoffen zu sein, so dass die BewohnerInnen Porto Alegres, wenn sie denn wollten, freien und nahen Zugang hatten, war für die fliegenden HändlerInnen wie Weihnachten. Nur dass sie das Geschäft des Jahres schon im Januar machten. Allerdings galt auch für sie auf dem WSF-Gelände CocaCola-Verkaufsverbot. Dass sie sich in den entprechenden Zelten über die Gründe des CocaCola-Boykotts kundig gemacht hätten, ist indessen eher unwahrscheinlich.
Die thematische Aufteilung war der Stärkung von Netzwerken sehr zuträglich. So kam die Wasserkampagne mit ihrer perspektivischen Forderung, den Zugang zum Wasser zum Menschenrecht zu erklären, ein gutes Stück weiter. Ebenso Gruppen, die den Bereich „Solidarische Ökonomie“ oder „Schuldenstreichung“ weitertreiben. Lateinamerikanische und europäische Gruppen, die den Gipfel der Staatschefs der EU und Lateinamerikas im Mai 2004 in Guadalajara kritisiert und den im Mai 2006 in Wien bevorstehenden Gipfel ebenfalls mit Gegenveranstaltungen realitätsnaher gestalten möchten, konnten einen gemeinsamen Vorbereitungskalender aufstellen. Freie Software-BefürworterInnen hatten dafür gesorgt, dass selbige auf allen PCs auf dem Gelände installiert war, zur Freude der vielen E-Mail-SchreiberInnen, zum Leidwesen dagegen einiger JournalistInnen, die nicht nur die PCs im Pressezentrum von irgendwelchen TeilnehmerInnen belagert sahen, sondern auch Probleme hatten, das unpatentierte Anwendersystem schnell genug zu begreifen, um ihre Artikel rechtzeitig vor Redaktionsschluss abzuschicken. Die diesbezügliche bittere Klage einer deutschen Journalistin bei einer Auswertungsveranstaltung im Goetheinstitut stieß auf schweigendes Staunen. Sollte da jemand täglich schreiben, ohne je mit Microsoft aneinander geraten zu sein?
Auch sonst kamen Klagen von JournalistInnen. Bei früheren WSFs konnten sie die Popstars der Bewegung am Ende der Großveranstaltungen kurz interviewen und schon war der tägliche Beitrag für die Zeitung daheim gesichert. Diesmal aber herrschte Klein-Klein und Unübersichtlichkeit. Wo war der rote Gesamtfaden, wer formulierte die zentralen Ideen, in welchen der gleichgroßen weißen Zelte saßen die Ikonen? Es war mühsam einen Überblick zu kriegen oder, ehrlich gesagt, unmöglich. Die Tafeln in jedem einzelnen der Sektoren, auf denen insgesamt 352 Aktionsvorschläge zusammenkamen, haben viele TeilnehmerInnen nie entdeckt. Spezialisierung bedeutet indessen auch Fragmentierung, hieß es hier und dort. Wird das WSF auseinanderfallen? Wird dieser Prozess nicht noch dadurch beschleunigt, dass auf dem Internationalen Rat zwei Tage vor dem WSF vorgeschlagen und durchgesetzt wurde, dass im nächsten Jahr doch ein WSF stattfindet, und zwar dezentral. Vermutlich stand dahinter, dass so durch die Hintertür dennoch wieder ein WSF in Brasilien landet, allerdings einigten sich die anwesenden Latin@s, für einige unverhofft, auf Venezuela.
Auf ihre Weise haben in Porto Alegre 19 Intellektuelle versucht, dem Ganzen Richtung und Zusammenhalt zu geben. Die „Monde-Diplomatique“-Chefs Ignacio Ramonet und Bernard Cassen, Emir Sader aus Brasilien, der Schriftsteller José Saramago und einige andere nebst einer einzigen Alibi-Frau lancierten gegen Ende des WSF ein „Manifest von Porto Alegre“, ein Zwölf-Punkte-Programm, das im Kern nicht ganz verkehrt ist, aber den Unmut vieler WSF-TeilnehmerInnen hervorgerufen hat. Nicht nur, weil Geschlechterfragen nicht einmal der Höflichkeit halber vorkommen. Die WSF-Charta sieht vor keine Abschlusserklärung herauszugeben, da sich 155 000 TeilnehmerInnen schon allein technisch nicht auf ein solches Dokument einigen können, geschweige denn sich inhaltlich so verengen sollten. Aber den Initiatoren unter den 19 juckte es wohl zu sehr in den Fingern. Ein paar JournalistInnen sprangen erwartungsgemäß darauf an, aber nach einem Strohfeuer entstand kein Flächenbrand und der Text verschwand auch offenbar wieder in der Versenkung.
Auch Lula, noch vor zwei Jahren kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten der Star der Auftakt- veranstaltung, spürte heftigen Gegenwind. Er trat diesmal außerhalb des offiziellen WSF-Programms im Sportstadion Gigantinho auf, um seinen „Global Call against Hunger and Poverty“ vorzustellen. Die PT wusste, dass das kein Heimspiel würde. Just zum WSF traten rund 100 PTlerInnen medienwirksam aus der Partei aus. Die PT in Rio Grande do Sul gehört ohnehin zu den kritischsten Sektionen der Partei. So war das Stadion gegen mögliche StörerInnen gut bewacht, von denen es trotzdem ein Gutteil schaffte, Eingang zu finden und lautstark ihren Unmut über die soziale Schwachseite des einstigen Hoffnungsträgers zu äußern. Wäre Lula nicht anschließend nach Davos abgedüst, er hätte sich auf die Lippen gebissen angesichts des euphorischen Spektakels vier Tage später, als Venezuelas Präsident Chávez – ebenfalls außerhalb des offiziellen Programms – am selben Ort auftrat. Die PT hat ein Problem. Nur wenige PT-Fahnen waren diesmal auf den Märschen und Veranstaltungen zu sehen, wo vor zwei Jahren noch Meere wehten. Die Lücke versuchten andere Linksparteien für sich auszunutzen. Überhaupt zeigen Parteien, auch europäische, zunehmend Präsenz.
Anfang April zieht der Internationale Rat Bilanz. Viele der Neuerungen sollten beibehalten werden. Nur eins muss auch die Bewegung noch lernen: Die Selbstorganisation hat die Frauen an den Rand gedrängt. Offenbar hat die Mehrzahl der Gruppen ohne Nachdenken ihre Hauptmatadore als Redner in die Arenen geschickt. Und die sind vor wie nach Männer.