Post aus Guatemala

Im März 1937 verließ die jüdische Rechtsanwaltsgehilfin Marianne Reyersbach Cottbus und schiffte sich in Hamburg mit ihrer Schwester Henriette und ihrer Mutter nach Guatemala ein. Dass sie ausgerechnet in dieses mittelamerikanische Land emigrierte, hatte persönliche Gründe. Günther Steinberg, ein jüdischer Freund aus Kindertagen, hatte dort 1934 die Finca eines Verwandten übernommen. Er lud die Schwestern Reyersbach und ihre Mutter ein, zu ihm nach Guatemala zu kommen, und kümmerte sich um die Einreiseformalitäten. Ein Visum für das Land zu erhalten war normalerweise relativ schwierig, einfacher war es nur für landwirtschaftliche Fachkräfte, was der Finquero Steinberg im Falle der drei Frauen neben der Zusage, für ihren Unterhalt zu sorgen, geltend machen konnte.

Marianne Reyersbach hatte bis zu ihrer Abreise eine Beziehung zu dem Richter Werner Besch. Da Besch in Guatemala keine berufliche Perspektive sah und selbst nicht jüdischer Abstammung war, blieb er in Deutschland, als seine Freundin in Richtung Guatemala abreiste. Bis kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges stand das Paar im regelmäßigen Schriftkontakt. Die Briefe, die Marianne Reyersbach ihrem Freund in Deutschland schrieb, sind erhalten geblieben und wurden nun von der Germanistin und Judaistin Susanne Bennewitz unter dem Titel „Ein Zimmer in den Tropen“ im Berliner Verlag Hentrich & Hentrich herausgegeben.

Bereits von den meisten Stationen der Überfahrt schrieb Marianne Reyersbach an Werner Besch und teilt ihm ihre Erlebnisse und Beobachtungen mit. Später schildert sie das Leben in Guatemala, sowohl in der Hauptstadt als auch auf der Finca, in der sich die Emigrantin aus Cottbus in einem von indigenen LandarbeiterInnen geprägten Milieu wiederfand. Da das tropische Klima den Frauen nicht besonders bekam und Henriette nach einem schweren Reitunfall intensive medizinische Behandlung benötigte, lebten die drei Frauen immer wieder für längere Zeit in Guatemala-Stadt, lernten also zwei sehr unterschiedliche Facetten der Realität ihres Exillandes kennen.

Das Buch „Ein Zimmer in den Tropen“ ist gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen sind vergleichsweise wenige Briefsammlungen, in denen jüdische Flüchtlinge Vertrauten in Deutschland ihre Erfahrungen in den Zufluchtsländern schildern, erhalten geblieben. Viele Deutsche wollten keinen Briefkontakt zu emigrierten Juden und Jüdinnen. Wenn die AdressatInnen selbst jüdischer Herkunft waren, flohen sie später ebenfalls aus Deutschland oder wurden Opfer des Holocaust. Zudem gibt es nur wenige Exilzeugnisse aus Guatemala, weil überhaupt nur eine sehr kleine Zahl von EmigrantInnen aus Nazideutschland dort hinkam. Die Briefe des in Deutschland gebliebenen und 1944 als Wehrmachtsangehöriger in Polen gestorbenen Werner Besch an die Freundin in Guatemala sind leider nicht erhalten.

Lesenswert ist das Buch auch deshalb, weil Marianne Reyersbach ihre Umwelt sehr genau beobachtet und das in ihren Briefen gut vermitteln konnte. Obwohl sie sich der Postkontrolle in Nazideutschland bewusst war und immer genau überlegen musste, was sie schreiben konnte, ohne den Freund oder in Deutschland zurückgebliebene Verwandte in Schwierigkeiten zu bringen, berichtet sie sehr lebendig und anschaulich über ihre Erlebnisse und Begegnungen in dem fremden Exilland. Natürlich verzichtete sie auf politische Wertungen, was wohl auch ihrem Naturell entsprach.

Die dritte Besonderheit des Buches ist seine Anlage. Natürlich stehen die Briefe mit einem Umfang von rund 110 Seiten im Mittelpunkt der 250-seitigen Edition. Üblicherweise stellen die HerausgeberInnen derartiger dokumentarischer Zeugnisse eine Einführung voran und schließen sie mit einem Nachwort ab. Bei Susanne Bennewitz steht am Ende kein „normales“ Nachwort. Stattdessen schließen zehn Texte – eigentlich sind es kleine Essays – mit einem Umfang von insgesamt 70 Seiten das Buch ab. In ihnen bezieht sich die Herausgeberin auf einzelne bzw. häufig wiederkehrende Formulierungen und Passagen in den Briefen und entwirft ein Panorama der Lebenssituation der Flüchtlinge in Guatemala. Dafür hat sie offensichtlich sehr genau recherchiert, zum Beispiel über die guatemaltekische Kaffeewirtschaft in den dreißiger Jahren.

Sie beschreibt die überragende Rolle der deutschen Kaffeepflanzer, schildert die Arbeitsbeziehungen auf den Fincas und die extreme Abhängigkeit der indigenen LandarbeiterInnen – skizziert also das Milieu, in dem sich Günther Steinberg und die Geschwister Reyersbach bewegen und behaupten mussten. In einem anderen Essay thematisiert sie die Ambivalenz der für die Briefeschreiberin enorm wichtigen Bezüge auf die deutsche Kultur; in einem weiteren nimmt sie Passagen über die Rolle der Musik und speziell der Marimba bei indigenen Festen zum Anlass einer äußerst interessanten Darstellung der indigenen Volksmusik und der Aneignung von deren wichtigstem Instrument, eben der Marimba, durch die städtische Tanzmusik in Guatemala und den Jazz in den USA. Ein zentraler Essay setzt sich mit den Veränderungen, die das Exil für die Geschlechterrolle Marianne Reyersbachs bedeutete, auseinander. In Deutschland war sie eine berufstätige Frau gewesen, die vergleichsweise selbstbestimmt lebte, in Guatemala war sie Gast des Patrón Günther Steinberg und lebte unter seiner – wenn auch sanften – Kontrolle.

Aus den Briefen Marianne Reyersbachs und den Texten von Susanne Bennewitz entsteht das differenzierte Bild eines Frauenlebens im Exil. Die gelungene Kombination von lebendiger Briefprosa und sozialpsychologischer Reflexion in den Essays machen dieses Buch zu einer anregenden Lektüre und einem innovativen Beitrag zur Publizistik über das Exil und die Emigration.

Ein Zimmer in den Tropen – Briefe aus dem Exil in Guatemala (1937-1940), Herausgegeben von Susanne Bennewitz, Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin 2013, 252 Seiten, 19,90 Euro