„Die gute Schülerin des Nazis Erich Priebke“ überschrieb im November 2020 die argentinische Zeitschrift Contraeditorial einen Artikel zu den Aussagen von Soledad Acuña, Bildungsministerin der Stadt Buenos Aires. Die Politikerin der vom Ex-Präsidenten Macri gegründeten konservativen Partei Propuesta Republicana (PRO) hatte in einem Interview behauptet, die Lehrer*innen würden sich lieber politisch engagieren als ihrer Lehrtätigkeit nachzugehen, und dass ihr Unterricht immer linkslastiger würde. Die Ministerin war Schülerin der Deutschen Schule in Bariloche gewesen, wo sie 1992 ihr Abitur ablegte, vier Jahre bevor der damalige Vorsitzende des Trägervereins dieser Schule, der ehemalige SS-Hauptsturmführer Erich Priebke, wegen Kriegsverbrechen nach Italien ausgeliefert wurde. Die Zeitungsüberschrift zeigt: Argentinien hat Erich Priebke nicht vergessen.
Über ihn entstand 2006 der Dokumentarfilm „Pakt des Schweigens – Das zweite Leben des SS-Offiziers Priebke“. Der Autor Carlos Echeverría, Sohn einer deutschen Mutter und eines argentinischen Vaters, ist in Bariloche aufgewachsen. Die Priebkes lebten unter ihrem echten Namen und mit gültigen argentinischen Papieren in unmittelbarer Nähe des Hauses seiner Familie. Auch Carlos Echeverría besuchte die Deutsche Schule. Über die Gräueltaten der Deutschen im Krieg oder über die Verfolgung der Juden und den Holocaust hat er dort nie etwas erfahren. Dafür sorgten auch Erich Priebke und der Schulvorstand. Erst als er nach Deutschland kam und an der Hochschule für Film und Fernsehen in München studierte, fand er heraus, was in der deutschen Gemeinde in Bariloche immer wieder verschwiegen oder geleugnet wurde.
Anfang der 80er-Jahre drehte er seine ersten Dokumentarfilme in Deutschland. Als sich Jahre später die Gelegenheit bot, entschied er sich, einen Film über Erich Priebke zu machen. Dabei ging es ihm darum, nachzuzeichnen und gleichzeitig anzuprangern, wie es möglich war, dass ein Kriegsverbrecher wie Erich Priebke so lange unerkannt in der deutschen Gemeinde von Bariloche leben und zu Ansehen kommen konnte. Er wollte so zu einer Auseinandersetzung beitragen und das bisherige Schweigen brechen.
Wie so vielen NS-Täter*innen gelang der Familie Priebke nach dem Krieg die Flucht über Italien nach Argentinien über die sogenannte Rattenlinie (s. ila 298) mit Hilfe kirchlicher Stellen und einen vom Internationalen Roten Kreuz ausgestellten Reisepass. Ende der 40er-Jahre kamen die Priebkes nach Bariloche, 1700 Kilometer von der Hauptstadt Buenos Aires entfernt. Heute ein bedeutendes Fremdenverkehrszentrum mit einem bekannten Skigebiet und über 130000 Einwohner*innen, damals ein kleiner, idyllischer Ort am Ufer des Nahuel-Huapi-Sees im Norden Patagoniens. Die in der „argentinischen Schweiz“ gelegene Stadt war gegen Ende des 19. Jahrhunderts von europäischen Siedlern gegründet worden, nachdem die Ureinwohner*innen besiegt und fast ausgerottet worden waren.
Nach seiner Auslieferung an Italien wurde der damals 83-Jährige dort im Oktober 1996 im Berufungsverfahren zu 15 Jahren Haft (die erste Instanz hatte ihn freigesprochen) und letztinstanzlich im Frühjahr 1998 zu lebenslanger Haft verurteilt. Wegen seines Alters und Gesundheitszustandes musste er nicht ins Gefängnis, sondern war bis zu seinem Tode 2013, drei Monate nach seinem 100. Geburtstag, unter mildem Hausarrest, durfte Spaziergänge unternehmen, viel Besuch empfangen, darunter zahlreiche bekannte Nazis und Neonazis, und Interviews geben, in denen er niemals auch nur ein bisschen Reue zeigte.
Argentinien war neben Brasilien schon im 19. Jahrhundert das beliebteste Ziel deutscher Auswander*innen in Südamerika. Die meisten deutschen Gemeinden waren (und sind) sehr konservativ, oft nationalistisch eingestellt, viele ihrer Mitglieder erkennen die Menschen in ihrer neuen „Heimat“ nicht als ebenbürtig an. Deswegen waren die Sympathien für das NS-Regime nach 1933 groß, eine NSDAP-Auslandsorganisation war in Argentinien schon 1931 gegründet worden. Das galt auch für die Gemeinde in Bariloche. Wikipedia berichtet, dass Otto Meiling, Bergsteiger, Skifahrer und deutscher Migrant, der sich in den 20er-Jahren in Bariloche niedergelassen hatte, 1937 seine erste Hütte unweit von Bariloche von „Bergfreude“ auf „Berghof“ umtaufte, Hitlers Lieblingsadresse am Obersalzberg. In jener Zeit leitete Meiling die Sommerlager der deutsch-argentinischen Pfadfinder, jener Truppe, die nur aufgrund einer Verfügung argentinischer Behörden nicht „Hitlerjugend“ heißen durfte.
Nur wenige Deutsche, wie die Mitglieder der Ende des 19. Jahrhunderts von deutschen Sozialdemokraten in Buenos Aires gegründeten Arbeitervereins „Vorwärts“, waren antifaschistisch eingestellt und solidarisierten sich mit den Flüchtlingen aus Nazideutschland, die nach 1933 in großer Zahl nach Argentinien kamen.
Aber auch viele Argentinier*innen, vor allem in rechten Kreisen und den Streitkräften, die traditionell gute Beziehungen zum deutschen Militär hatten, waren auf Seiten Hitlerdeutschlands. Argentinien war der letzte Staat, der Deutschland den Krieg erklärte, aber erst im März 1945, keine zwei Monate vor dessen Kapitulation. Ein Jahr später wurde Juan Domingo Perón Präsident Argentiniens. Der träumte davon, dass Argentinien die Rolle einer „Dritten Weltmacht“ übernehmen sollte, weswegen er die Einwanderung von Europäer*innen nach Argentinien unterstützte. An deutschen Fachkräften aus dem Militär und der Rüstungsproduktion war er ebenso interessiert wie an dem Geld, das Nazis im Ausland, vor allem in der Schweiz, gebunkert hatten. Optimale Bedingungen für Kriegsverbrecher auf der Flucht, die in großer Zahl nach Argentinien strömten.
Der Film „Der Pakt des Schweigens“ rekonstruiert die Geschichte Priebkes und die der deutschen Gemeinde in Bariloche mit Hilfe historischer Archivbilder und Dokumente. Dazu gibt es kürzere nachgespielte Szenen. In ihnen wird die Atmosphäre, wie sie der Autor in seiner Kindheit in Bariloche erlebt hat, wiedergegeben. Wobei in dieser Zeit von Priebkes Beteiligung an dem Massaker in den Ardeatinischen Höhlen noch nicht die Rede war. Obwohl er darüber gesprochen haben soll, war dieser Teil seiner Vergangenheit den meisten seiner deutschen Mitbürger*innen in Bariloche im Detail nicht bekannt. Und Angehöriger der Wehrmacht oder der SS gewesen zu sein, galt nicht als Makel. Auch Echeverria und seiner Familie war lange Zeit nicht bewusst, dass es sich bei ihrem Nachbarn nicht nur um einen SS-Angehörigen handelte, sondern dass sie Tür an Tür mit einem Kriegsverbrecher gelebt hatten. Aber auch was sein schlimmstes Verbrechen anbelangt, glauben manche bis heute, dass das Töten von Zivilisten, z.B. nach einem Partisanenanschlag, nach einer festgelegten Quote im Zweiten Weltkrieg legal gewesen sei.
Die Ausschnitte aus Super 8-Filmen, die ein Sohn Priebkes zur Verfügung gestellt hat, zeigen einen jovialen Mann, der sich bei Asado (Grill) und bei Festen in der argentinischen und deutschen Gemeinde amüsiert. Sie zeigen die Vertrautheit der Gemeinde mit Priebke. Trotzdem erinnern diese Bilder an die „Banalität des Bösen“ von Hannah Arendt. Die NS-Täter wurden nach dem Krieg meistens als Spießer und biedere Familienväter beschrieben. (Interessanterweise wurden NS-Frauen, z.B. KZ-Wächterinnen, meistens als Sinnbild und Inbegriff des Bösen dargestellt.)
Aber warum sollte sich die deutsche Gemeinde in Bariloche anders verhalten als die Deutschen in der „Heimat“? Gegen mehr als 100 000 Personen wurden bisher in Deutschland Ermittlungsverfahren wegen Kriegsverbrechen in der NS-Zeit eingeleitet. Allerdings sind lediglich 6495 Personen rechtskräftig verurteilt worden, die meisten anderen sind inzwischen verstorben. Die Strafverfolgung der NS-Verbrechen vollzog sich in einem tendenziell auf Verdrängung und Schuldabwehr ausgerichteten gesellschaftlichen Klima, in dem oft die Solidarität mit den Tätern stärker ausgeprägt war als die mit den Opfern. Die Berufung auf den „Befehlsnotstand“, die meistens in den Prozessen nach 1945 von der Verteidigung vorgebracht wurde, führte oft zu Freisprüchen, obwohl es bis heute keinen einzigen nachweisbaren Fall gibt, in dem einem Wehrmachts- oder SS-Angehöriger, der einen Mordbefehl verweigert hatte, selbst Gefahr für Leib und Leben gedroht hätte.
Auch nachdem Priebkes Verbrechen bekannt geworden waren, ließ die Sympathie gegenüber ihm nicht nach – nicht nur in der deutschen Gemeinde. Als er zunächst in Bariloche unter Hausarrest stand, setzte sich sogar der dortige Bürgermeister bei dem damaligen Präsidenten Menem für seine Freilassung ein. Während die einen den auch in Deutschland beliebten Spruch vorbrachten, mit der Vergangenheitsbewältigung müsse doch mal Schluss sein, sahen andere „die Juden“ oder jüdische Netzwerke hinter der Jagd nach den NS-Verbrechern. Solche Stimmen sind vor allem in der spanischen Langfassung (120 Minuten, die deutsche Fassung hat nur 45 Minuten) des Films zu hören.
Im Eintrag zu Bariloche finden wir bei Wikipedia: „Außerdem (also: ‚Neben Priebke‘ – die Red.) versteckten sich in Bariloche auch zeitweise die SS-Männer Josef Schwammberger, Reinhard Kopps, Ferdinand Tröstl und das ‚Fliegerass‘ Hans-Ulrich Rudel (kein Mitglied der SS). Bariloche hat eine größere deutsche Gemeinde, deren Präsident Erich Priebke bis zu seiner Festnahme 1994 war.“
Auch in der bundesdeutschen Botschaft in Buenos Aires wurde zu den in Argentinien untergetauchten Nazis lange Stillschweigen bewahrt. Der Berliner Historiker Felix Bohr fand im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes einen 1959 einsetzenden Schriftwechsel zwischen der Bonner Botschaft in Rom und dem Auswärtigen Amt. Er dokumentiert, wie deutsche Diplomaten und italienische Stellen gemeinsam die Leute von Kappler (Chef von Priebke in Rom) vor Strafverfolgung schützten.
Inzwischen versuchen manche, in Bariloche aus dem Fall Priebke und den Nazis Kapital zu schlagen. Abel Basti, ein argentinischer „Journalist“, hat nach eigenen Angaben in mehrjähriger Arbeit das Buch „Bariloche der Nazis – Ein Touristenführer“ herausgegeben, die er mit dem Hinweis bewirbt, die Stadt sei die Zweitheimat „deutscher und österreichischer Nazis, kroatischer Ustaschas, italienischer Faschisten sowie von Kollaborateuren aus Frankreich und der Schweiz“ gewesen. Inzwischen versucht er zu beweisen, dass Adolf Hitler und Eva Braun in Argentinien überlebt haben. Aber das ist ein anderer Film.