Wenn der Begriff „Postkolonialismus“ die Nach- und Fortwirkungen europäischer Kolonialherrschaft umfasst, ist Roberto Bolaño ein Meister der postkolonialen Fiktion. Der chilenische Autor, der mit 20 Jahren ins Exil gehen musste, über El Salvador und Mexiko 1977 nach Barcelona kam und dort 2003 verstarb, erlangte mit seinem posthum veröffentlichten Werk 2666 auch hierzulande Bekanntheit. Die postkoloniale Beschaffenheit der Welt zeigt sich in Bolaños Sprachwelten als globale Verwobenheit von Ideen, Handlungen und gesellschaftlichen Verhältnissen.
Una novelita lumpen (dt. „Lumpenroman“), ein Jahr vor Bolaños Tod erschienen, bietet einen wundervollen Einblick in seine Welten. Hier lässt er uns ein Lumpenleben aus Sicht von Bianca erleben, einer jungen, sozial deklassierten Frau in Rom. Bolaño verzichtet auf einen allwissenden Erzähler, der Ereignisse und Personen erklärt – Bianca erzählt ihr Leben und ihre Träume selbst. Es überrascht nicht, dass die deutsche Übersetzung von 2010 ihrer fieberhaften Erzählung, die Bolaño mit seinem reflexiven, bildvernarrten Stil erzeugt, nur schwer hinterherkommt. Biancas Geschichte ihrer Vergangenheit ist selbst wie ein unsicherer Traum: Erfahrungen und Träume sind kaum unterscheidbar, sie stecken voller absurder Farben, Personen, Dialoge und Szenen, die Sinn ergeben könnten, sich aber auch widersprechen, sinnlos, wirr und zusammenhangslos sind, sich mit Fantasie aber doch wieder sinnhaft fügen könnten.
Wie im Traum verknüpft Biancas Erleben lose Ereignisse und Handlungen. Bianca beginnt ihr testimonio, ihr Zeugnis, damit, wie sie die Leichen ihrer im Urlaub verstorbenen Eltern nach Rom bringt, begleitet vom jüngeren, namenlosen Bruder. Bianca verrät uns wenig über sich, nur dass sie heute Mutter und eine verheiratete Frau ist. Sonst bleibt viel ungewiss. Namen werden selten genannt, das Alter nie. Häufig sagt Bianca, dass ihre Erinnerung verschwommen ist. Nach dem Unfalltod der Eltern auf sich alleine gestellt, versuchen die Geschwister normal weiterzuleben, in die Schule zu gehen und von der Waisenrente zu leben.
Doch langsam rückt ihr Leben ins Abseits, in eine verkehrte Welt, zunächst bemerkbar dadurch, dass Bianca die Nächte wie Tage erlebt, keine Dunkelheit mehr wahrnehmen kann, wie am Tage sieht. Sie bekommt einen „Mondbrand“, ihre Haut wird immer bleicher, weil für Bianca der Mond wie die Sonne strahlt.
Sie kultivieren das stundenlange Fernsehen: Filme, Quizsendungen, Werbung, Interviews und Pornos, die der Bruder ausleiht, um etwas über Sex zu lernen. Bald gehen sie nicht mehr zur Schule; da die Rente nicht reicht, müssen beide schlecht entlohnte Jobs annehmen, sie in einem Friseursalon – Bianca sagt, die Alternative hätte Prostitution bedeutet –, er in einem Fitnessstudio.
Von dort bringt Biancas Bruder zwei namenlose Kollegen mit, die sich wie Brüder ähneln, aber nur Blutsbrüder sind. Der eine, aus Bologna, ist gesprächig und gescheit. Der andere, der aus Marokko oder Libyen stamme, ist verschlossen und spricht selten. Die beiden Männer, der Bologneser und der Libyer genannt, quartieren sich in dem leerstehenden elterlichen Schlafzimmer ein. Beide verhalten sich tadellos, putzen, kochen, treten Bianca nicht zu nahe. Gemeinsam verbringen die vier ihre Zeit vor dem Fernseher. Irgendwann fängt Bianca an, jede Nacht mit den Freunden des Bruders zu schlafen, wobei egal ist, wer von beiden es ist – sie will es nicht wissen.
Eine Wende erhält dieser Alltag durch den Plan ihrer neuen Mitbewohner. Ein ehemaliger Mister Universe, der nach seiner bekanntesten Filmrolle Maciste genannt wird, soll beraubt werden. Seit einem Autounfall blind, lebt Maciste allein und zurückgezogen in einem großen Haus an der Via Germanico, das wie verlassen aussieht. Die Rollläden sind immer unten, im Haus ist es stockduster. Über den Sex soll Bianca das Vertrauen dieses korpulenten glatzköpfigen Mannes, der nur einen schwarzen Bademantel trägt, erwecken und seinen Tresor ausfindig machen. Gleich einem Schatz würde der Tresorinhalt eine bessere Zukunft eröffnen. Wieso Bianca mitmacht, ist unklar, denn Menschen, die an eine Zukunft denken, findet sie lächerlich, sie will auch keine puta sein. Die Prostitution ihres Körpers sei nur akzeptierbar, solange sie so an den Tresor kommt – eine Kriminelle, keine Nutte.
Sie besucht Maciste ein- bis zweimal wöchentlich, sie haben Sex und fangen an, sich kennenzulernen. Nun beginnt Bianca sich erneut zu verändern: Sie erlebt bei Maciste wieder Dunkelheit, fantasiert ein Leben als seine Frau, sucht aber zugleich unentwegt nach dem Tresor, um ihn zu berauben. Im ständigen Hin und Her zwischen den Wohnorten überlegt sie, wohin das alles führen soll, welche Zukunft will sie? Was passiert, wenn sie den Tresor findet? Ihr Nachdenken verändert sie, Bianca gibt die Suche nach dem unauffindbaren Tresor auf. Auch weiß sie nun, dass sie ihre Fantasie, mit Maciste zu leben, nicht weiterverfolgen will, zumal er ihr keine Hoffnungen macht, als sie von ihrer Verliebtheit erzählt.
Bianca träumt, wie sie sich von Maciste verabschiedet. Im Erwachen fasst sie den Entschluss, die Beziehung zu beenden. Beim Abschied lässt sie den Geldumschlag Macistes zurück. Zu Hause angelangt, fordert sie den Bologneser und den Libyer auf fortzugehen. Sie will deren Plan nicht mehr weiterleben und lügt beide an: Der Tresor existiere zwar, doch nur Maciste könne ihn öffnen, weshalb sie ihn foltern müssten, um den Tresor zu öffnen. Die Brüder erschrecken über diese Idee und verlassen ihr Haus, sie verschwinden phantasmagleich ins Nichts, aus dem sie kamen. Bianca hat den eingeschlagenen Lumpenweg als Kriminelle verlassen. Die Nacht ist wieder dunkel, der Fernseher der Eltern ist nun ihr Fernseher geworden.
Una novelita lumpen – die als Band 7 der Reihe Año 0 mit Erzählungen lateinamerikanischer AutorInnen über ihre Besuche von Weltstädten im Jahre 2000 erschienen ist – lässt uns wie Bianca delirieren, sie, die in den taghellen Nächten kaum noch schläft und fortwährend Träume hat, in denen „nichts nichts bedeutete“, ein wunderbares Wortspiel Bolaños.
Die Brüder: Sie übernehmen die häuslichen Aufgaben der Eltern und zeigen einen gangbaren kriminellen Weg in eine materiell bessere Zukunft. Die Ersatzeltern führen Bianca inzestuös in die Sexualität ein, ihr Nichtwissenwollen, mit wem sie da schläft, ergibt dann Sinn. Maciste: ein Mann, der in einem Autounfall, bei dem zwei Menschen starben, erblindete. Die Brüder schärfen Bianca ein, seinen Unfall nicht zu erwähnen, da ihn dies immer in gewalttätige Rage bringe. War Maciste vielleicht in den Tod der Eltern involviert? Ist er schuldig? Begegnen sich in Bianca und Maciste zwei Menschen, die an den Folgen eines Unfalls leiden?
Dann eine merkwürdige römische Straßenszene, die sich in einem Traum Biancas wiederholt: Ein Auto fährt vorbei, aus dem ihr Jugendliche zurufen: „Faschismus oder Barbarei“. Maciste, mit seiner Glatze und der stämmigen, schwarz gekleideten Figur – der Duce? Die Idee zum Überfall, was Gewaltbereitschaft bedeutet, kommt wohl vom Bologner – ein Zeichen? In Bologna begann 1920 der Siegeszug des italienischen Faschismus, als motorisierte Faschisten das Kennzeichen des Faschismus zum ersten Mal öffentlich machten: politische Konflikte immer mit Gewalt zu lösen. Und ist ein Libyer in Rom, Blutsbruder des Bologners, Zeichen der Nachwirkung von Kolonialherrschaft, weil Faschisten die italienische Kolonie Libyen einst mit Gewalt „befriedeten“? Ist die Wortkargheit des Libyers Zeichen ehemaliger Kolonialsubjekte, für die die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak die Frage aufwarf, ob Subalterne eigentlich sprechen können, wenn die Begriffe der Macht sie sprachlos machen, weil sie ihrer Subjektposition nicht entsprechen?
Oder ist der Ausruf ein seltsam europäisierter Verweis auf die postkoloniale Verfassung Lateinamerikas? Deutet der Ausruf auf das berühmt-berüchtigte Civilización y barbarie (dt. „Barbarei und Zivilisation“) von Domingo Sarmiento, einst Präsident Argentiniens? Weil er in diesem rassistischen Manifest, das im chilenischen Exil 1845 erschien, die Einwanderung „weißer“ Menschen als Bedingung für den zivilisatorischen Fortschritt des neuen post-kolonialen Lateinamerikas setzt und dabei die unkultivierte, wertlose Unterschicht mit dunkelhäutigen Menschen gleichsetzt, mit Barbaren, die verschwinden müssten? Deutet der Ausruf den faschistoiden, weil gewaltfördernden Charakter dieses hegemonialen Selbstverständnisses Lateinamerikas an, der in Sonntagsreden fast ausschließlich „weißer“ Eliten verneint wird? Ist es bedeutsam, dass Sarmientos Ausspruch prominent ist, Lautaro, der berühmteste Widerstandskämpfer der Mapuche gegen die Spanier, sei nur ein ekelhafter, verlauster, fortschrittsunfähiger Indianer, den er gleich aufhängen lassen würde, und Bolaño die Novelle seinen Kindern Lautaro und Alexandra Bolaño gewidmet hat?
Und wieso ersetzt Bolaño Sarmientos „Zivilisation“ mit „Faschismus“? In Rom, von wo sich das Imperium Romanum ausbreitete, das nach unserer Europaideologie die Fackel der Zivilisation von Griechenland übernahm, eine Fackel, mit der die neoimperialen Faschisten, über die Via Germanico reisend, den letzten Weltenbrand entzündeten? Wenn dies Zivilisation/Faschismus bedeutet, was bedeutet dann Barbarei?
Bolaño lässt einem die Sinne schwirren, Imagination ist ein wichtiger Bestandteil der Realität. Bianca will ihre Würde verteidigen, doch lebt sie in historisch geformten menschenunwürdigen Verhältnissen, die ihren Handlungsraum einengen. Ihr traumhaftes Erleben erinnert an Freuds These aus seiner Traumdeutung – die 1900, einem anderen Año 0, erschien –, dass Trauminhalte immer aus der erlebten Vergangenheit stammen, doch wenn der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstelle, führe er in die Zukunft. Das Leben als Traum, als ständiger Versuch von Menschen, in losen, absurden, historisch beeinflussten Erfahrungen dennoch ein selbstbestimmtes Leben zu leben, dem Leben einen eigenen Sinn zu geben – das ist Bolaños Version des modernen Lebens in der Gewalt des postkolonialen Weltzusammenhangs.
Die eine Novelle definierende Neuigkeit könnte im herrschenden Neoliberalismus mit seiner Erniedrigung armer Menschen darin bestehen, dass auch „Lumpen“, jene deklassierten Menschen, die selbst Marx verachtete, ein Leben in Würde suchen. Doch ihr Leben ist ungleich schwerer zu leben. Menschenunwürdige Verhältnisse geben ihrem Handeln tradierte Mittel in die Hand, drängen sie ungleich stärker in menschenunwürdiges Leben. Bolaños Zärtlichkeit den Lumpen gegenüber zeigt, wie sie um ihr Glück und Gefühl von Würde kämpfen, auch wenn sie bürgerlich oder orthodox marxistisch betrachtet verachtenswert leben.
Leben, schreibt Bolaño, ist wie ein Traum, Menschen, die sich als normal vorstellen, werden normal.