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Prag-Mexiko und zurück

Abschied von Lenka Reinerová (1916-2008)

Am 28. Juni starb die Schriftstellerin Lenka Reinerová im Alter von 92 Jahren in Prag. Ich lernte sie im Juni 1997 in Berlin kennen. Nach ihrer Lesung in der Anna-Seghers-Gedenkstätte bat ich sie um ein Interview für unsere damalige Reihe „Lebenswege – Schicksale von Menschen zwischen zwei Kontinenten“, wozu sie sich sofort bereit erklärte, als ich ihr einige Exemplare der ila zeigte. Sie liebe Lateinamerika, vor allem Mexiko, sagte sie und wir verabredeten uns für den Folgetag. (s. das Interview in der ila 210)

Was sie mir da in ihrer sympathisch-nüchternen Art erzählte, war wirklich „hard stuff“: Flucht vor den Nazis, Internierung in Frankreich, Exil in Mexiko, Ermordung ihrer kompletten Familie im Holocaust, Knast in der sozialistischen Tschechoslowakei, in die sie voller Enthusiasmus zurückgekehrt war, mehrere Krebsoperationen, immer wieder Publikationsverbote. Am Ende meinte sie, das klinge vielleicht dramatisch, sei aber kein Einzelschicksal, es sei leider das Schicksal einer Generation, einer Epoche.
Lenka Reinerová gehörte zur deutschsprachigen jüdischen Gemeinschaft in Prag. Gerade 19-jährig begann sie 1935 bei der Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ) zu arbeiten, jener einst von Willi Münzenberg in Berlin gegründeten kommunistischen Massenzeitung, die ab 1933 im Prager Exil erschien. 

Als Nazitruppen im März 1939 den tschechischen Teil der Tschechoslowakei besetzten, war Lenka Reinerová für eine Recherche in Rumänien. Sie floh nach Paris, wo sie einen tschechischen Pressedienst betreute und erste belletristische Texte schrieb. Nach Beginn des Krieges wurde sie interniert, konnte aber aus dem Lager fliehen und sich in Marseille ein Visum für Mexiko beschaffen. Dort kam sie 1941 nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Casablanca an. Sie arbeitete für die Botschaft der tschechoslowakischen Exilregierung und publizierte die antifaschistische Exilzeitschrift El Chequoslovaco en México, für die auch ihre ebenfalls nach Mexiko emigrierten Prager Kollegen Egon Erwin Kisch und Otto Katz (Pseudonym: André Simone) schrieben. Wie diese arbeitete Lenka Reinerová eng mit den exilierten deutschen KommunistInnen um die Zeitschrift „Freies Deutschland“ zusammen.

In Mexiko heiratete sie den serbisch-jüdischen Arzt und Schriftsteller Dragutin Fudor, der unter dem Pseudonym Theodor Balk ebenfalls zum MitarbeiterInnenkreis von „Freies Deutschland“ gehörte.
Bereits 1945 kehrten Lenka Reinerová und ihr Mann nach Europa zurück, zunächst nach Belgrad. Als Fudor/Balk 1948 schwer erkrankte und im zerstörten Jugoslawien keine adäquate medizinische Behandlung möglich war, übersiedelte das Paar mit seiner kleinen Tochter nach Prag. Dort arbeitete Lenka Reinerová als Journalistin. 1952 wurde sie im Zuge stalinistischer Säuberungen verhaftet. André Simone, ihr Genosse aus dem mexikanischen Exil, wurde als „Trotzkist, Spion und Agent der Juden“ in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Sie selbst blieb 15 Monate in Untersuchungshaft. Das Schlimmste sei dabei gewesen, von den Kommunisten, den eigenen Leuten, eingekerkert worden zu sein. Von den Nazis verfolgt zu werden, darauf wäre sie gefasst gewesen, in einem französischen Lager interniert zu sein, damit hätte sie umgehen können, aber ihre Haftzeit in der CSSR sei nur schwer erträglich gewesen, auch weil sie draußen eine kleine Tochter und einen kranken Mann gehabt hätte. 

Nach dem Tod Stalins und seines Prager Handlangers Klement Gottwald wurde sie 1953 entlassen. Journalistisch durfte sie nicht mehr tätig sein, sie arbeitete in einem Großhandelsbetrieb für Glas und Porzellan.

1964 wurde sie rehabilitiert und konnte als Redakteurin einer deutschsprachigen Zeitschrift anfangen. In dieser Funktion beteiligte sie sich 1967/68 an dem als „Prager Frühling“ bezeichneten Reformprozess. Noch 1997 erinnerte sie sich mit leuchtenden Augen daran: „Das war eine tolle Zeit. Das gehörte zu den besten Kapiteln meines Lebens. Sozialismus mit menschlichem Antlitz war die Parole. (…) Es wäre der richtige Sozialismus gewesen, wenn es gelungen wäre. Denn das, was unter der Bezeichnung Sozialismus lief, war ja keiner“.[fn]aus: „Ich habe es trotzdem überlebt“ – Interview mit Lenka Reinerová, in: ila 210, November 1997[/fn] Sie war überzeugt, dass die Welt heute anders aussehen würde, wenn das Experiment der tschechoslowakischen ReformkommunistInnen damals nicht zerstört worden wäre.

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten wurde sie erneut aus der KP ausgeschlossen und wieder mit Publikationsverbot belegt. In der Tschechoslowakei konnte bis 1989 nichts von ihr erscheinen, während die Verantwortlichen des Ost-Berliner Aufbau-Verlages den Mut hatten, ab 1982 ihre Bücher in der DDR zu veröffentlichen. Ökonomisch schlug sie sich als Übersetzerin durch.

Erst nach 1990 wurde ihr größere Aufmerksamkeit zuteil. In der Tschechischen Republik, in Deutschland und weiteren Ländern erschienen ihre stark autobiographisch geprägten Romane und Erzählungen, die sich stets um die Themen Faschismus, Exil und Holocaust sowie um ihre Heimatstadt Prag drehen. Ihre schnörkellose Prosa begeisterte die LeserInnen, die Tatsache, dass sie die Letzte in der großen Reihe der Prager deutschsprachig-jüdischen AutorInnen (u.a. Franz Kafka, Max Brod, Egon Erwin Kisch, Friedrich Carl Weiskopf) war, bescherte ihr ein gewisses mediales Interesse. 

Bis zuletzt setzte sie sich für die Versöhnung von Tschechen und Deutschen ein. Und betonte immer wieder, dass sie ihrer Aufnahme in Mexiko das Überleben verdankte, vor allem dem „wunderbaren Gilberto Bosques“, dem mexikanischen Generalkonsul in Marseille, der zwischen 1940 und 1942 – teilweise in Überschreitung seiner Kompetenzen – Tausenden von AntifaschistInnen aus Spanien, Deutschland und den von den Nazis besetzten Ländern die Flucht nach Mexiko ermöglichte und sie damit vor Konzentrationslager und Ermordung rettete.

Prag-Mexiko und zurück – ilawordpress