Seit den neunziger Jahren wiederholt sich die offizielle Musik des Erdballs, also die englischsprachige, nur noch – immer dasselbe, selbst die großen Namen in einer Kreativitätskrise, nur noch Wiederholungen“, sagt Universal-Product-Manager Ricardo Moreira in seinem Büro des Rio-Strandstadtteils Barra da Tijuca. Er hatte die Idee zu der CD-Serie „Pure Brazil“, wählte in Heimarbeit sämtliche Titel aus, hält den Moment für günstig, sie gerade jetzt auch in Deutschland herauszubringen. Denn Moreira stimmt jenen brasilianischen Musikern zu, die seit Jahren sagen, die ganze Welt habe die Nase voll von der immergleichen anglo-amerikanischen Musik, die den Markt verstopfe.
Natürlich kennt auch Universal-Manager Moreira schlechtere Zeiten. In den siebziger Jahren, als in Europa der Kalte Krieg gegen den Osten immer weiter angeheizt wurde, in Brasilien das Militärregime mit Washingtons Segen herrschte, rackerte sich die multinationale Musikindustrie mit gewaltigem Werbeaufwand ab, um den Geschmack und die Hörgewohnheiten der musikbesessenen Einheimischen des Tropenlandes zu verändern: „Von zehn Titeln im Radio waren sieben englische, nur drei brasilianische.“ Vor allem im Rockbereich wurden immer mehr kurzlebige Wegwerfkünstler produziert, mittels Druck und Bestechung wurde der anglo-amerikanische Popanteil in den Privatsendern auf Kosten der Música Popular Brasileira (MPB) ständig erhöht. Doch die Brasilianer blieben größtenteils stur, hielten ihren Stars die Treue, tanzten, sangen nach deren Rhythmen auf ihren Feten, kauften vor allem deren Platten. Und heute hat brasilianische Musik einen Marktanteil von über achtzig Prozent; nimmt man die Raubpressungen hinzu, liegt er sogar noch weit höher.
Product-Manager Moreira freut sich: „Derzeit sind im Radio acht Titel von uns – das ist natürlich phantastisch – und toll für unseren Musikmarkt, sowas gibts nur in ganz wenigen Ländern der Erde!“ Die quotenstärksten Sender der brasilianischen Kulturmetropole São Paulo, mit über zwanzig Millionen Einwohnern drittgrößte Stadt der Welt, bringen ausnahmslos nur Brasilianisches, vor allem Sertaneja und Samba. Gleich auf die erste Pure-Brazil-CD „Bossa 4 Two“ packte Moreira jene klassischen Titel „Não deixe o Samba morrer“ (Lass den Samba nicht sterben) von Alcione aus Rio. Den brauchte sie heute wirklich nicht mehr zu singen, der Samba ist derzeit in einer erstaunlich guten Phase. „Zwar ist er hier nie völlig eingegangen, nie wirklich gestorben, musste aber immer tüchtig ums Überleben kämpfen, Tag für Tag! Hat sich glücklicherweise immer erneuert, ist jung geblieben.“ Und Alciones Hilferuf war nicht umsonst – denn jetzt geht’s dem Samba phänomenal gut. Und deshalb sind in der Pure-Brazil-Serie drei CDs ausschließlich dem Samba gewidmet, nennt sich eine sogar Samba Social Club, angelehnt an das Konzept des kubanischen „Buena Vista Social Club“. Mit beinahe allen Großmeistern des Samba – von João Nogueira, Zeca Pagodinho bis Jorge Aragão.“ Die CD „Home of Samba“ enthält Live-Duos von Samba-Stars, teils mit Pop-Größen, treffen sich Simone und Martinho da Vila, Nelson Sargento und Chico César, Jorge Aragão und Ivete Sangalo.
Aber bei Pure Brazil fehlt auch einiges – darunter Forró, vor allem aber die vielgehörte, immer beliebtere Sertaneja-Musik mit ihren Falsett-Duos, allen voran Zezé di Camargo & Luciano, Lulas Wahlkampf-Anheizer. „Das stimmt – ich dachte einfach, Sertaneja, besonders Sertaneja-Pop ist doch nichts für den Export, gehört eher in die Sparte romantische Musik, klingt gar nicht echt brasilianisch.“ Musikwissenschaftler und Komponist Luiz Tatit von der Universität São Paulo hält es immerhin für unmöglich, eine „pur“ brasilianische Musik zu finden. Andererseits nahm Moreira eine ganze CD mit englischen Bossa-Nova-Versionen in die Serie. Eingängiger für deutsche Ohren, eine Konzession an deren Hörgewohnheiten? „Diese Versionen sind wichtig! Die Bossa Nova hatte ihren internationalen Durchbruch nach dem legendären Konzert in der New Yorker Carnegie Hall, mit João Gilberto, Tom Jobim, Carlos Lyra – von da an interessierten sich nordamerikanische Verleger, Produzenten für die Bossa Nova und unsere Leute, nahmen sie unter Vertrag. Zum kreativen Kern der Bossa Nova stießen auch nordamerikanische Texter wie Ray Gilbert, machten da mit – ein kulturell wichtiger Faktor für die brasilianische Musik. Den Bossa-Nova-Hit „Corcovado“ kennt doch kein Nordamerikaner unter diesem Namen – aber „Quiet Nights of quiet Stars“, den kennen sie alle, über Stan Getz. Deshalb musste so eine Scheibe einfach in die Pure-Brazil-Serie rein, erleichtert die Kommunikation mit den deutschen Käufern, ist auch kommerziell interessant. Leider gibt’s ja keine Bossa-Nova-Klassiker auf deutsch. The ‚Girl from Ipanema’ wurde auf Englisch weltberühmt, erst danach hörte man Tom Jobim und andere mit der portugiesischen Originalversion.“
Aber warum fehlt der berühmte Roberto Carlos, Brasiliens Superstar, absoluter Hitmacher, den alle den Rei, König der Gefühle nennen, der von allen Großen, selbst von Maria Bethânia und Marisa Monte, fleißig nachgesungen wird? Angst, wegen Roberto Carlos von den deutschen Kritiker-Puristen Prügel zu bekommen? „Wenig von ihm ist authentisch brasilianisch“, kontert Moreira. „Carlos folgt der traditionellen Liedstruktur, ist eher authentisch lateinamerikanisch, wäre als romantischer Sänger in Pure Brazil ein richtiger Fremdkörper, sowas wie Julio Iglesias.“ Doch dann bekennt er: „Andererseits ist Roberto Carlos für mich einer der größten Interpreten – ich mag ihn unheimlich. Er ist eine Ikone der romantischen Musik Lateinamerikas, hat auf dem Kontinent einen Riesenerfolg. Psychologisch, emotional gesehen, ist Carlos zweifellos sehr brasilianisch. Und nicht zu leugnen – die Brasilianer mögen das Tiefromantische, die mögen langsame Titel. Schnellere, zum Tanzen sicher auch – aber die langsamen, romantischen bleiben immer am längsten in der Hitparade. Wir haben ja auch diese Tristeza in uns, vielleicht noch aus der Zeit der Sklavenschiffe. Ich selber fühle Tristeza in mir, die ganz tief in der Bossa Nova, im Samba drinsteckt. Aber ich dachte eben, wenn ich Sertaneja-Pop und Roberto Carlos in Pure Brazil mit reinpacke, wird das unsere Zielgruppe draußen in der Welt ablehnen.“ Gut möglich – coolen deutschen Kopfmenschen graust gewöhnlich vor ultraromantischer Sinnlichkeit, großen Gefühlen, gar engem Körperkontakt beim Tanzen nach Roberto-Carlos-Boleros. „Die CD-Serie hat übrigens eine richtige Fetenplatte, alle Stile gemischt, gut zum Schwoofen. – ich habe sie Caipirinha genannt.“
Dass Musiker Gilberto Gil jetzt Kulturminister ist, begünstigt für den Universal-Manager natürlich das Pure-Brazil-Projekt, überhaupt den Musikexport. Zudem schlug Gil der UNESCO vor, 2005 den Samba zum Kulturerbe der Menschheit zu erklären. „Passt echt gut, kommt gerade richtig für Pure Brazil!“ Inzwischen bastelt Moreira bereits am zweiten Zehner-Pack.