Sie war eine umwerfende Frau und hatte ein unglaubliches Leben: Stéphanie Sainte-Claire (vermutlich 1893-1969), Madame Queen, Ma‘am, Queenie. Dass die Einwanderungsbehörden in den USA 1912 ihren Familiennamen bedenkenlos zu St. Clair verkürzten, war sicher eine der geringsten Verletzungen, die der Schwarzen Frau im Laufe ihres Lebens rücksichtslos angetan wurden. Aber sie wusste sich zu wehren. Und wie!
Über ihre Jugend ist fast nichts bekannt. Ziemlich wahrscheinlich ist, dass sie aus Guadeloupe oder Martinique, einer der damaligen französischen Kolonien (heute Überseedepartements) in der Karibik, stammte und einzige Tochter einer unverheirateten Schwarzen Frau namens Félicienne war. Was dann folgte, wurde Gegenstand von Gangsterchroniken, Filmen, Comics, einem Theaterstück, Wikipedia-Einträgen. In den USA gilt sie inzwischen als Feministin „avant la lettre“, sie ist eine Ikone der Frauenbewegung und für viele Schwarze finanzielle Wohltäterin, unerschrockene Verteidigerin ihrer Rechte, Sinnbild für Harlem.
Die bei ihrer Ankunft (aus Marseille, sagen die einen, nach einer Anstellung in Quebec, die anderen) in New York fast mittellose junge Frau hatte bald Kontakt zu irischen, italienischen und jiddischen Mafias, war in der Zeit der Prohibition aktiv im Alkoholschmuggel und machte sich umgehend selbstständig. Zuerst einmal erwarb sie sich einen Namen im illegalen Handel von stark alkoholischen Medikamenten, dann, als die Prohibition endete, in der illegalen Zahlenlotterie. Die Leute wetteten gerne, aber die legale Lotterie war Schwarzen verboten, und auch sonst war in der legalen Wirtschaft für Schwarze nur am alleruntersten Dienstleistungsende Platz.
Also stieg Stéphanie St. Clair in das illegale Geschäft ein, ja zog es erst richtig auf. Der Ort, in den sie ihre Wettgeldsammler ausschwärmen ließ: Harlem. Unten Central Harlem, von armen Schwarzen bewohnt, von Polizeirazzien geschunden. Oben Sugar Hill, wohin die Überschüsse aus der Zahlenlotterie sie bald umziehen ließen, konkret in die Edgecombe Avenue. Dort wohnte auch W.E.B. Du Bois, der bedeutende Schwarze Intellektuelle und wichtigste Sprecher der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 1930er-Jahre[fn]Von W.E.B. Du Bois ist 2022 im C.H. Beck Verlag das sehr lesenswerte Buch „Along the Color Line – Eine Reise durch Deutschland 1936“ erschienen, in dem er den Alltag unter dem NS-Regime und den Terror gegen die jüdische Bevölkerung beschreibt.[/fn], und dort verkehrte dessen zeitweiliger Schwiegersohn, der Dichter Countee Cullen. Harlem war in und illegal zugleich. Weiße Männer setzten ihre Füße sehr gern, aber inkognito zu ausschweifenden und teuren Vergnügungen in Harlems Bars und Bordelle, der Schwarze Jazz wurde gefeiert (auch wenn die Musiker außerhalb der Tanzsäle diskriminiert wurden), die Texte der Schriftsteller*innen der Harlem Renaissance wurden auch in den Feuilletons erwähnt und fanden sogar den Weg in den deutschen Sprachraum.[fn]Afrika singt. Eine Auslese neuer afro-amerikanischer Lyrik. Übersetzung: Anna Nussbaum, Anna Siemsen, Hermann Kesser, Josef Luitpold, Wien/Leipzig 1929[/fn] Weiße Frauen sah man dort lediglich an der Hand solcher irgendwie reich gewordener Männer oder an der erklärter weißer Mafiosi. Auch Stéphanie St. Clair, die Schwarze Frau, frequentierte gern und häufig die Bühnen der Harlem Renaissance, war stets elegant gekleidet und ließ sich von einem Chauffeur kutschieren. Aber die Pelzmäntel gegen die Kälte New Yorks waren von ihrem Geld bezahlt und es war ihr eigener Ford T. Sie war Chefin, Bandenbossin, Lady Gangster. „Queenie“ nannten Freund*innen sie. Ihre Bodyguards konnten zeitweilig als Geliebte fungieren, wenn sie es wollte, aber nie in ihrer Wohnung logieren. Das war ihr Reich. Punkt. Revierfehden mit Al Capone, Lucky Luciano und Meyer Lansky ging sie nicht aus dem Weg. Als der Mafioso Dutch Schultz unter nicht eindeutig belegten Umständen – durch die Toilettentür vom Verbrechersyndikat erschossen, sagen die einen, durch eine Kugel von hinten auf der Straße, meinen die anderen – umkam, schrieb sie ein Telegramm an seine Adresse, das ist bezeugt: „As ye sow, so shall ye reap“, in etwa: „Was du säst, wirst du ernten.“ Ein Bibelspruch, der Furore machte. Gläubig war Stéphanie St. Clair jedoch überhaupt nicht. Ihre Besuche und Gaben in den verschiedenen Kirchen Harlems, katholische, protestantische, adventistische, waren strategischer Natur.
Viel aus diesem phänomenalen Frauenleben ist längst noch nicht geklärt und gerade im deutschsprachigen Raum noch kaum bekannt. Ein zweifellos dankbares Thema für Diplomarbeiten. Eine Ausnahmefrau? Ein mögliches weibliches Leben bis an seine Grenzen, dazu mit dem Glamour von Illegalität und gemeinhin Männern zugeschriebener Gewalt? Eine Grenzgängerin, schon weil sie als Schwarze per definitionem als „outlaw“ gesehen wurde?
Hier interessiert vor allem der Zeitraum vor ihrer Ankunft in den USA, zu dem kaum Quellen hebbar sind. Raphaël Confiant, 1951 in Martinique geborener Autor, hat über Queenie einen Roman verfasst, der ihre Jugend einbezieht. Egal, ob sein Roman biografisch stimmt oder erfunden ist, er lässt eine Figur aus einer Welt aufleben, die von Sklaverei geprägt war. Die Erfahrung Schwarzen Lebens nach dem Ende der Sklaverei in den Antillen ist die Folie, die sich im Roman über ebensolches Leben in den USA legt. Sie ermöglicht den „schielenden Blick“, von dem die feministische Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel in Bezug auf schreibende Frauen sprach, wenn diese herrschende Handlungsformen betrachteten und beschrieben. Queenie beherrschte diesen und hat ihn zu ihrem Profit in Bezug auf Männer und auf eine von Männern dominierte – illegale – Mikrowelt in Harlem, aber auch in den USA insgesamt, ausgenutzt. Confiant ist zwar ein Mann, aber er ist auch Schwarzer Antillaner und damit ebenfalls ein möglicher „Schielender“. Sein Kunstgriff: Queenie spricht selbst in der ersten Person. Nur wenn es allzu unangenehm wird, flüchtet sie selbst, wie sie jeweils später notiert, in die dritte Person, um Distanz zu schaffen. Ein 361-seitiger autobiografischer Monolog sei ihre Antwort auf die Bitte ihres Neffen in Martinique, der über einen Schulkurs aufmerksam auf sie wurde, ihre Adresse herausfand und Auskunft über ihr Leben haben möchte, um daraus von einem Autor (Confiant?) ein Buch verfassen zu lassen. Solche literarischen Schreibrechtfertigungen sind nicht wirklich originell, auch nicht die Begründung mangelnder Chronologie, die Queenie selbst gibt: Ihr Gedächtnis funktioniere eben so. Ob Raphaël Confiant damit eine neue Form der Kreolität einschlägt, nachdem die erste Generation des kreolistischen Romans in die Jahre gekommen ist, ist ein weiteres Thema für künftige deutschsprachige Diplomand*innen.[fn]Für den französischen Sprachraum siehe hierzu: Anais Stampfli: Madame St-Clair: reine de Harlem. Emblème du renouveau littéraire confiantien.
In: Archipélies N° 11-12, 2021, www. archipelies.org/963[/fn]
Was hier hingegen wichtig ist: Für Confiant ist Stéphanie Sainte-Claire in Fort-de-France auf Martinique geboren, andere Vermutungen werden gar nicht erst erwähnt. Eine karibische Sozialisation ist der Anker seines Buchs. Die außergewöhnlich selbstbewusste Félicienne Sainte-Claire schafft es, ihre einzige Tochter Stéphanie, Vater unbekannt, fünf Jahre lang zur Schule zu schicken, sauber angezogen, die schwarzen krausen Haare jeden Samstag glatt gebügelt. Für den Schulbesuch der Tochter hat Félicienne in allen ehrbaren Berufen gearbeitet, die Frauen ihres Standes offenstanden: Wäscherin, Kohlenträgerin, Essensverkäuferin, städtische Straßenfegerin, Wahrsagerin. Den Bürgerinnenstatus erhält sie auch 50 Jahre nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei in Frankreich und seinen Kolonien nicht, da sie nicht verheiratet ist. Die kleine Stéphanie muss sich in der Schule anhören, wie die weiße Lehrerin gegen den elsässischen Pädagogen Schoelcher wettert, da er auf den Antillen den Schulunterricht für freigelassene Sklav*innen durchgesetzt habe. Das höchste der Gefühle wäre für Félicienne, Stéphanie eine „aufrechte“ Stellung zu beschaffen, hinter dem Stuhl eines Weißen, wenn dieser speist, meint sie damit. Und später im Operationssaal eines Kolonialkrankenhauses. Oder in einer Schreibstube der Weißen. Und dass sie als Volljährige die Insel verließe, um in der großen weiten Welt ein besseres Leben zu führen. Das Schulgeld reicht indessen nur fünf Jahre. Stéphanie wird bei den Verneuils angestellt, einer Familie von „Gens de Couleur“ (Confiant verwendet die historische Kategorie „mulâtre“, die heute als diskriminierend empfunden wird). Der soziale Aufstieg auf den Antillen ist damals vollkommen abhängig von der Hautfarbe. Jede „Aufweißung“ bedeutet einen Schritt nach oben. Die Verneuils sind als Gens de Couleur viel mehr wert, das heißt auch, viel reicher als die Schwarzen. „Normal“ also, dass der älteste Verneuil-Sohn jede Nacht unbehelligt ins Bett der angestellten Schwarzen Stéphanie steigt, um seine sexuellen Erfahrungen zu machen, und dass diese schweigen muss.
Als Félicienne stirbt, verlässt Tochter Stéphanie Martinique, laut Confiant über Frankreich und Marseille, dem als paradiesisch imaginierten Mutterland, wo die noch Minderjährige neue Papiere auftreibt. Fortan ist sie Französin. Sie fährt weiter in die USA, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie es in der Heimat hieß. Eine der ersten Erfahrungen: Schwarze sind hier in der Minderheit, nicht Mehrheitsbevölkerung wie in der Karibik. Und weiter: Niemand macht, anders als dort, diffizile Unterscheidungen in Hautschattierungen, die sozialen Aufstieg rechtfertigen. Doch es gibt Schwarze Ärzte oder Wissenschaftler, wie der von ihr verehrte W.E.B. Du Bois, die über Bildung, nicht über gewisse Hautpigmente, zu Prestige und/oder Geld kamen. Einzelne jedoch nur, und ohne dass sie der herrschenden Diskriminierung entgingen. Viel schlimmer aber ist es in anderen Teilen der USA, muss Stéphanie feststellen, die später nie mehr wieder Harlem verlassen und dadurch in einer Schwarzen Mehrheitsgesellschaft leben wird.
Die wohl fürchterlichste Episode des Buchs spielt sich nordwestlich von New York ab. Stéphanie St. Clair flieht Hals über Kopf nach einem Mord an einem Bandenboss in einem Bus. Als dieser an einer Raststätte hält, zu der Schwarze keinen Zutritt haben, und Stéphanie einem Weißen einen 10-Dollarschein in die Hand drückt, damit er ihr etwas zu trinken besorgt, ist nicht nur dieser empört. Auch die Schwarzen halten Stéphanie allesamt vor, mit solch einer Beleidigung weißer Überlegenheit die Grenzen ihrer „race“ zu überschreiten. Irgendwann nachts wird der Bus von Mitgliedern des Ku-Klux-Klan umstellt, die alle Schwarzen aus dem Bus holen und sich auf das Grauenvollste an ihnen vergehen, während die Weißen von drinnen aus zuschauen, teils verängstigt, teils hämisch. Alle Schwarzen Männer werden verbrannt, erhängt oder beides. Einige Frauen überleben, vielfach vergewaltigt. So auch Stéphanie. Was sie nicht verstehen kann und später reflektiert: Wie können sich die US-Schwarzen so in ihr Schicksal ergeben, sich selbst für minderwertig halten und passiv Erlösung nur in ihrem nächsten Leben erwarten? Sie merkt: Mit den gospelnden und betenden Schwarzen der USA verbindet sie rein gar nichts. Doch auch Marcus Garveys Predigten von der Notwendigkeit, nach Afrika zurückzukehren, kann sie nichts abgewinnen. Dass sie seinem Projekt einer Schifffahrtsgesellschaft zur Rückkehr nach Afrika Geld spendet, ist ihrer Rufpflege einer Wohltäterin der Schwarzen geschuldet.
Seltsam ist, dass sie in Confiants Roman mit 50 Jahren einem anderen Prediger erliegt, diesen aus Liebe auf den ersten Blick heiratet, zum Islam konvertiert, den von ihm ausgesuchten Namen Samia annimmt und abends die unterwürfige Hausfrau daheim gibt. Das scheint alles nicht zu Queenie zu passen. Aber vielleicht konnte sich Raphaël Confiant auch keinen Reim auf die Beziehung Stéphanie St. Clairs zum „ersten Moslem“ der USA machen, der zudem ein Hassprediger war und allen voran den Juden die Schuld an der Großen Depression, der Wirtschaftskrise in den USA, zuschob. „Operettenphilosoph“, nannte Stéphanie St. Clair ihn im Nachhinein, er selbst nennt sich Seine Heiligkeit Amiu Al-Munimin Sufi Abdul Hamid, womit er seinen „Sklavennamen“ Eugene Brown ablegte.
Die Heirat ist verbürgt. Allerdings schlossen die Brautleute einen Ehevertrag für ein Jahr ab, was Confiant nicht erwähnt. Lange hielt die Ehe tatsächlich nicht. Queenie schoss auf Sufi Abdul Hamid, als sie ihn mit einer anderen Frau erwischte, und ging dafür jahrelang ins Gefängnis. Danach zog sie sich offenbar, weiterhin wohlhabend, aus dem Geschäft zurück. Ihren letzten Geliebten Bumpy Johnson überlebte sie um ein Jahr.
Dass in den unterschiedlichen Mafias in Harlem niemand zimperlich sein konnte und versuchen musste, die Konkurrenz zu verdrängen, um sich zu behaupten, ist unmittelbar einsichtig. Das könnte eine Erklärung dafür sein, dass Sufi Abdul Hamids Aufrufe, jüdische Geschäfte zu boykottieren, wenn sie keine Schwarzen einstellten, gerade in Zeiten wirtschaftlicher Not Gehör fanden. In den Monologen des Romans distanziert sich Queenie halbseiden von antijüdischen Aktionen. Raphaël Confiant macht sie in Bezug auf Sufi Abdul Hamid zur bedingungslos Verliebten, was sie bis dahin nie war. Auch in einem anderen Aspekt ist die Buchgestalt durchgängig „weiblich“ im Sinne des Kanons, nämlich bei ihrem Töten. Zwar trägt sie eine kleine Pistole in ihrer Handtasche, aber wenn sie schießt, trifft sie nicht richtig, wie bei Sufi Abdul Hamid. Ansonsten wehrt sie sich im Roman klassisch grausam „weiblich“. Ein Mafiaboss wird von ihr mit einer Rasierklinge entmannt, einem anderen sticht sie mit einer Essgabel ins Auge, ein dritter stürzt im Kampf und verletzt sich tödlich beim Aufschlag auf den Wohnzimmertisch. Sagen wir: Das sind Männerängste vor starken Frauen.
Belassen wir es schlicht bei dem, was Queenie über sich selbst sagte, auf Kreolisch: Sie sei eine „femme-debout“, eine aufrechte Frau!