Queering weltwärts?

Dieses kleine, im Kölner Wissenschaftsverlag erschienene Buch hat es in sich. Direkt eine Warnung: Es ist nicht leicht zu lesen. Aljoscha* Sanja Bökle widmet sich mit großer Theoriefreude und unbeirrbarem Enthusiasmus einem bisher sehr wenig untersuchten Thema im Rahmen der internationalen Freiwilligendienste: den vielfältig miteinander verwobenen Feldern ,race‘ (der Begriff, die kursive Schreibweise und Anführungszeichen werden so von der Autor*in gewählt), Geschlechterverhältnisse, Gender, Sexualität(en) und Begehren. Wie und wo diese Felder (nicht) behandelt werden, welche Rolle sie aber dennoch spielen und welche Wirkungen das Nicht-Behandeln hat, wird am Beispiel des entwicklungspolitischen Lern- und Austauschprogramms weltwärts untersucht.

Es geht darum, dass sich die Freiwilligen, im weltwärts-Kontext überwiegend weiße junge Frauen nach dem Abitur, auch in den gesellschaftlich konstruierten Feldern Männlichkeit und Weiblichkeit verorten, ihre Sexualität in ihrem Zielland (aus)leben und (neu) erfahren, aus verschiedenen Gründen begehren und begehrt werden (weil sie als attraktiv empfunden werden, oder einfach nur als reich, als anders), weil sie exotische und erotisierende Bilder von den schwarzen Körpern im Kopf haben, die sie erfahren wollen. Und sie kommen als „Helfende“, „Entwickelnde“, mit einer bestimmten Mission und haben von daher eine Machtposition. Sie bringen ihre Vorstellungen einer von ihnen selbst überwiegend als progressiv, selbstbestimmt, befreit, gay-friendly definierten Einstellung zu Sexualität mit und transportieren damit meist unhinterfragt bestimmte Normen, Einteilungen und Zuschreibungen. Und sie nehmen sie auch mit zurück. Beides trägt dazu bei, bestehende Machtverhältnisse zu zementieren. Diese meist nicht hinterfragten Vorstellungen, Bilder und Verhaltensweisen beruhen auf Meistererzählungen, die es zu dekonstruieren gilt.

Die Autor*in hat, um den Anteil von „sexwärts“ an weltwärts zu untersuchen, Tiefeninterviews mit mehreren Rückkehrer*innen aus Freiwilligendiensten zu den Themen Sex, Gender und Begehren geführt und sich die Strategiepapiere, Broschüren und Internetauftritte von weltwärts, BMZ und anderen Organisationen angesehen. Er*Sie hat aber viel mehr als das getan, nämlich in stark verdichteter Form dekoloniale, postkoloniale, post-development und queer/feministische Theorieansätze zunächst beschrieben und dann auf ihr* sein Thema angewendet. Damit nicht genug, werden auch „Aufrisse und Einführung in Grundbegrifflichkeiten“ aus der aktuellen Sex- und Genderforschung sowie der Critical-Whiteness-Theorie vorgestellt, „Geschlecht“ und „Zweigeschlechtlichkeit“ zum Beispiel auf wenigen Seiten als im Europa des 18. Jahrhunderts erzeugte soziale Konstruktionen entlarvt, „Körper“ als empirischer Forschungsgegenstand oder das Konzept doing gender und die von Judith Butler so genannte „Performativität“ ähnlich knapp erläutert. In den zentralen Kapiteln werden diese Erkenntnisse zueinander in Beziehung gesetzt, dann auf den Entwicklungskontext im Allgemeinen und zuletzt auf weltwärts übertragen. Das heißt dann: „Synthese-/Transfer“. Etwa wird in Kapitel 4.3 „queering development – queering weltwärts“ auf wenigen Seiten die lange Geschichte von Sexualität in der Entwicklungspolitik beschrieben, vom früheren, eher negativ besetzten Fokus auf Gesundheits- und Reproduktionspolitiken einschließlich Biopolitik über die neueren Genderansätze (gezielte Unterstützung von Frauen in der Entwicklungspolitik) bis hin zur Einforderung sexueller Rechte und zum queering-development-Ansatz. Hier wird bei „Synthese-/Transfer“ das Fallbeispiel QueerTausch beschrieben. Das ist eine von Ehrenamtlichen getragene Interessengemeinschaft innerhalb von AFS Interkulturelle Begegnungen. AFS organisiert internationale Schüler*innenaustausche und Freiwilligendienste, der deutsche Zweig ist eine weltwärts-Entsendeorganisation. QueerTausch existiert seit 2010 und will Ansprechpartner für alle queeren Themen sein (für Gasteltern, Schüler*innen, Freiwillige, Mitarbeiter*innen der Organisation) und auch dafür sensibilisieren. Sie überarbeiten Handbücher, geben rechtliche Informationen über die Situation von LGBTIQ in den Entsendeländern und haben unter anderem eine queere Spielesammlung erarbeitet. Nach langen Interviews mit QueerTausch-Mitgliedern kommt die Autor*in zu folgendem „Synthese-/Transfer“: QueerTausch kann nicht als radikale queere Intervention gelesen werden, sie übe keine radikale, vereinsübergreifende Heteronormativitätskritik. Das sei aber auch nicht der Anspruch der Gruppe. Sie leiste wichtige Pionierarbeit bei der Einforderung und Sichtbarmachung von Sexualität und LGBTIQ-Agenden. Allerdings sei QueerTausch latent „homonationalistisch“ (damit ist die Vorstellung gemeint, dass etwa Deutschland nicht frauenfeindlich und homophob sei, andere „rückschrittliche“ Länder sehr wohl, oder die Forderung, dass Homosexuelle in Deutschland vor Immigrant*innen geschützt werden müssen).

Bökle selbst positioniert sich als Anhänger*in der queering-development-Theorie. Dabei geht es zum einen um die (Nicht-) Sichtbarmachung von queerer (nicht heteronormativer) Sexualität in den Institutionen, der Praxis und den Diskursen der Entwicklungspolitik, etwa bei der Armutsbekämpfung oder dem Frauenempowerment, bei gleichzeitiger Opposition zu „Normativitätstendenzen bei queerness“ (indem etwa „schwul“ und „lesbisch“ als festgelegte Identitäten konstruiert werden). Zum anderen geht es um sehr viel mehr: eine radikale Kritik am Entwicklungsmodell und speziell an weltwärts und seinen „herrschafts-, macht-, ungleichheitsstabilisierenden Funktionen, Strategien, Praktiken und Diskursen“. Beides unternimmt die Autor*in konsequenterweise auch in dieser Arbeit.

Eine derart umfassende theoretische Einbettung (die den größten Teil des Buches ausmacht), verbunden mit der Infragestellung grundlegender Erzählungen von Mann, Frau, Jugend, Geschlecht, Weißsein, Entwicklung, dem „Anderen“, „Exotik“ und Erotik führt zu einer derartigen Verdichtung, Mehrdimensionalität und Intersektionalität (alles ist mit allem verwoben), dass sie zumindest mir den Zugang nicht einfach machte.

Das erste Kapitel setzt neben der Erklärung des gewählten Titels „weltwärts-sexwärts?!“ zunächst den Sprachgebrauch für die Arbeit fest, denn auch in der Sprache werden Herrschaftsverhältnisse transportiert. Weiß wird kursiv gesetzt und kleingeschrieben, wenn es nicht die Farbe meint, um die unmarkierte weiße Norm anzugreifen (Beispiel: weiße Männer schützen braune Frauen vor braunen Männern), Schwarz großgeschrieben, um die rassialisierte Konnotation von Schwarzen und People of Colour zu kennzeichnen. Ungleicheit generierende Begriffe werden in Anführungszeichen gesetzt, der gender gap (der Unterstrich) durchgehend benutzt und, um Raum für Identifikationen jenseits der Dichotomie Frau und Mann zu eröffnen, wird von Frauen* und Männern* gesprochen. Die Autor*in verortet sich selbst als weiß, able-bodied (d.h. nicht behindert), studiert, lohnarbeitend und trans. Sie*er hat einen anderen Dienst im Ausland in São Paulo 2007 absolviert, studierte internationale Entwicklung in Wien und arbeitet heute als Trainer*in der „machtkritischen“ Bil-dungsarbeit. Er*sie begleitet Freiwillige, kennt also „sex gap“ aus eigener Anschauung und begreift sich als Forschende*r und Beforschte*r zugleich.

Nach viel theoretischem Input werden im sechsten Kapitel die Interviews ausgewertet. Dabei benennt er*sie typische Zuschreibung wie „der andere war‘s“ (weil bestimmte Vorstellungen von political correctness erfordern, als nicht korrekt empfundenes Verhalten, etwa sexistische Witze, eher anderen Freiwilligen zuzuschreiben), eine eurozentristische Konzeption von Homosexualität (im Süden sind sie „verklemmt“, „nicht geoutet“), der Süden wird generell als „homophob“, „konservativ“ und „sexistisch“ gesehen und die eigene Geschlechterrolle schwankt zwischen dem Bedürfnis, sich völlig anzupassen, dem desire of going native (was für Männer und Frauen unterschiedliche Folgen hat), und dem Genießen der Narrenfreiheit als Europäer*innen und der weißen Privilegien. Auffällig ist die häufige Nennung von Haus- und care-Arbeit wie Waschen, Putzen, sich um Kinder kümmern als Marker für Geschlechterdifferenz, das heißt, die im Gastland als typische Frauenarbeit definierten Tätigkeiten gelten als Ausweis für die Rückständigkeit der Länder, als wäre Reproduktionsarbeit in Deutschland gleich verteilt! Sexuelle Beziehungen während des Aufenthalts der Freiwilligen werden als „Kickfaktor“, „Ausleben“, „Genießen des Augenblicks“, „nicht langfristig gedacht“ beschrieben, oft reduziert auf den Faktor Sex. Bökle stellt fest, dass die Ausblendung der Dimensionen race, Gender, Sexualität und Begehren zu „gewalttätigem, übergriffigem Verhalten“ und „sexistischen, exotisierenden und eurozentrischen Projektionen“ führt.

Die Autor*in weist in der Arbeit nach, dass es die von ihr*ihm festgestellte Leerstelle in den Feldern race, Geschlecht, Gender, Sexualität(en) und Begehren im weltwärts-Kontext gibt. Obwohl diese Themen nicht explizit thematisiert werden, werden sie in den Programmen, Strategien und Strukturen der Freiwilligen- und Entwicklungsarbeit implizit als heterosexuelle Norm transportiert, was dann in den Selbst- und Fremdbildern der Freiwilligen neben der mangelnden Auseinandersetzung mit gendered racism und racialized sexuality eine wichtige Rolle spielt. Genau das führt nach Meinung der Autor*in zu sexistischen, exotisierenden und eurozentrischen Verhaltensweisen. Die tief verwurzelten „Meistererzählungen“ in diesen Feldern untersucht Bökle seit den Anfängen der deutschen Jugendgemeinschaftsdienste (die Erfindung der Jugend), in den institutionellen Orten und nicht zuletzt mithilfe der Interviews. Ob aber diese Arbeit, wie er*sie an einer Stelle schreibt, für die Freiwilligen bei der Vor- und Nachbereitung eine Hilfe sein kann, wage ich zu bezweifeln. Sinnvoller wäre es, die von ihm*ihr angesprochene Broschüre zu dem Themenkomplex zu erstellen und zugleich auf allen Ebenen für das Thema gendered racism und racialized sexuality zu sensibilisieren, was bei den Themen Kolonialismus und Rassismus im weltwärts-Kontext gut gelungen zu sein scheint.

Und welche Meistererzählungen sollen nun dekonstruiert werden? Etwa die orientalistischen Erzählungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, die unsere Vorstellungen von der „Welt“ bis heute prägen oder die Erotisierung des Anderen, der als „sexuell potent, aggressiv, Vergewaltiger, exotisch“ imaginiert wird, oder auch die Abenteuerlust, durch die Umarmung eines schwarzen Körpers neue, exotische, andere Erfahrungen zu machen, oder die Vorstellung vom guten, fortschrittlichen, nicht homophoben Norden und dem schlechten, rückschrittlichen, homophoben Süden oder die weiße, asexuelle, zu beschützende Frau, das potenzielle Opfer. Das sind sehr dicke Bretter, die da gebohrt werden sollen. Weltwärts – queerwärts, das wird ein hartes Stück Arbeit. Bleibt zu hoffen, dass weitere (lesbarere) Arbeiten folgen werden.