Rap ist in aller Munde, ertönt auf vielen Kanälen, in deutschen Musikzeitschriften gibt es momentan massig Specials, vor allem zu deutschem Rap. In unserer Arbeitsgruppe zum ila-Schwerpunkt hatten wir auch den Eindruck, dass Rap gerade einen (erneuten) Boom feiert, und zwar weltweit. Da passt es gut, dass der Sozialwissenschaftler und Rap-Experte Marc Dietrich kürzlich in der „Cultural Studies Reihe“ des Transcript-Verlages einen Band veröffentlicht hat, der den aktuellen Stand des Rap unter die Lupe nimmt: „Rap im 21. Jahrhundert. Eine (Sub-)Kultur im Wandel.“
Heutzutage ist Rap ein sogenannter umbrella term für eine ungeheure Anzahl von Strömungen beziehungsweise Subgenres. Dietrich verschafft in seinem einleitenden Beitrag einen Überblick und stellt dar, wie Rap im 21. Jahrhundert zur dominanten Gegenwartskultur von höchster kommerzieller Relevanz geworden ist. Des Weiteren geht er der Frage nach, inwiefern heute noch von Jugendkultur oder Subkultur gesprochen werden kann, und stellt fest: „Rap hat durch seine Integration in den Mainstream oder auch eine gewisse jugend/juvenilkulturelle Dominanz mit dafür gesorgt, dass zuvor randständige oder subkulturell verhandelte Semantiken eben Teil des Mainstreams geworden sind. Die Kultur- und Gesellschaftskritik ist salonfähig, sie wird sogar für den Grammy nominiert.“ (S. 14) Als lateinamerikanisches Beispiel für diese These fällt einem sofort die Band „Calle 13“ ein, die zwar verschiedene Musikgenres im Repertoire hat, bei der Rap jedoch von Anfang an eine wesentliche Rolle gespielt hat.
Die Leitfrage, die sich durch Dietrichs Einleitung, aber auch durch die weiteren Beiträge zieht, lautet: Welches sind die wichtigsten Veränderungen in der Hiphopkultur im digitalen Zeitalter? Schließlich findet Rap heutzutage besonders im Internet statt. KünstlerInnen nutzen das Netz für ihre Selbstvermarktung, aber auch Inhalte werden dort diskursiv verhandelt. Dabei war Hiphop in seinen Anfängen absolut analog. Die Subkultur entstand auf (Straßen-)Parties, bei denen ein DJ Platten auflegte, ein MC dazu rappte. Die Events lebten von der Begegnung face to face zwischen DJ, MC und Publikum, körperliche Performance und spontane Interaktionen waren wesentliche Bestandteile. Als diese Partykultur 1979 das erste Mal auf Tonträger gepresst wurde, nämlich in Gestalt des Songs Rapper‘s Delight von der Sugarhill Gang, waren viele schockiert. Dieser Moment stellt einen Bruch dar, die vermarktbare Rapmusik war geboren. (S. 153)
Neben der sehr guten Einleitung versammelt der Band acht weitere Beiträge von Experten (leider nur eine Frau dabei), die sich zum Teil sehr unterschiedliche Aspekte des Rap zur Brust nehmen, mit Perspektiven aus Soziologie, Medienwissenschaft, Genderstudies und Journalismus: Da ist zunächst das höchst unterhaltsame und reichhaltig mit Anekdoten versehene Interview mit einem Fachmann, der das Hiphopuniversum von verschiedenen Warten aus durchdrungen hat. Stephan Szillus, der als Journalist, Chefredakteur, schließlich auch Labelbetreiber und Musikmanager das Genre und seine ProtagonistInnen bestens kennt, plaudert hier wunderbar aus dem Nähkästchen und vermittelt äußerst lehrreich, wie ein gutes Interview mit Rappern zustande kommt (oder auch nicht). Herrlich dabei solche Geschichtchen wie diejenige, dass Szillus ein Interview spontan in der Sauna eines Hotels führen muss (S. 42).
Ein weiterer Höhepunkt im Band ist der Beitrag zu Männlichkeiten im Rap von Anthony Obst. Klassischerweise basiert Männlichkeit im Hiphop auf Heteronormativität und Homophobie, die Rede ist von „Hypermaskulinität“, misogyne Elemente sind gang und gäbe. Obst erklärt die Hintergründe und verweist auf die Idee der double consciousness nach W.E.B. Du Bois. In der rassistischen US-Gesellschaft gingen die Selbstwahrnehmung und die oppressive Fremdwahrnehmung schwarzer US-Bürger auseinander; die Fremdwahrnehmung bedient sich stereotyper Vorstellungen von schwarzer Männlichkeit, die zerstörerisch auf die Identitätsbildung und die Selbstwahrnehmung wirken (S. 56). Im Folgenden erläutert Obst, wie sich Männlichkeitskonstruktionen im Hiphop des Internetzeitalters verändern, und stellt den kanadischen Superstar Drake als Beispiel vor, der eine complex coolness aufweist, bei dem also hypermaskulines Auftreten und ehrliche Emotionalität koexistieren. (S. 61) Damit ist Drake, der in Internetkommentaren aufgrund seiner Emotionalität schon häufig als „schwules Weichei“ diskreditiert wurde, Wegbereiter einer neuen inklusiven Männlichkeit im Hiphop.
Auch im Beitrag zu „Weirdo-Rap“ wird aufgedröselt, wie stark das Internet zur Ausdifferenzierung des Genres beigetragen hat: „Nerds, Freaks und Outsider bekamen eine wichtige Stimme innerhalb der Hiphop-Kultur. Die Kunstform öffnete sich dadurch für andere Erzählstränge und Narrative als das ewig gleiche Ghettolied und die zwanghafte Betonung der eigenen Maskulinität.“ (S. 90)
Sufi Mohammed untersucht die Entwicklungen von Freestyle-Battles im Internetzeitalter: Wenn ein in seinen Ursprüngen zutiefst analoges Livevent nun gefilmt, gepostet, gestreamt, kommentiert und diskutiert wird, ergeben sich daraus eine ewige Perpetuierung und nicht zuletzt auch zusätzliche Vermarktungsmöglichkeiten (über beispielsweise Werbung in Youtubekanälen, S. 160).
Gleich drei Beiträge widmen sich dem Themenfeld Deutschrap und Politik. Zum einen bietet Martin Seeliger einen kenntnisreichen Überblick und sorgt für Orientierung. Malte Gossmann untersucht ein konkretes politisches Minenfeld im Deutschrap, nämlich den Israel-Palästina-Konflikt, der zu den Topics von Rappern wie Haftbefehl oder Massiv gehört. Das ist absolut instruktiv und hilft, die komplexe Gemengelage und die Motivationen der Rapper nachzuvollziehen. Interessant dabei die Beobachtung, dass der Israel-Palästina-Konflikt im Deutschrap im Vergleich zum Rap in Großbritannien oder Frankreich relativ wenig thematisiert wird. (S. 127) Im Beitrag „Lyrics und Lesarten: Eine Drei-Sphären-Analyse anlässlich einer Anklage“ schließlich stellt Jannis Androutsopoulus überzeugend dar, warum eine Medienanalyse auf mehreren Ebenen absolut notwendig ist, um Rapmusik und vor allem deren Lyrics im Zeitalter des Web 2.0 zu beurteilen. Diesen Beitrag sollten alle PolitikerInnen lesen, die sich auf unterkomplexe Art und Weise ein schnelles Urteil bilden und Songs indizieren wollen. Die hier vorgestellte „Drei-Sphären-Analyse“ ist ein sehr nützliches Tool, das auch für andere popkulturelle Diskurse genutzt werden kann.
Ein Blick über den Tellerrand darf natürlich nicht fehlen. Rainer Winters und Eve Schiefers präsentieren die Hiphopbewegung in Mali als wichtigen Widerstandsakteur und Stimme der von jeglicher Partizipation ausgeschlossenen Jugend im Spannungsfeld von Putsch und islamistischer Bedrohung. Einen der hier vorgestellten Protagonisten, Master Soumy, kann man sich übrigens auch wunderbar auf der Leinwand angucken, in der empfehlenswerten Musikdokumentation „Mali-Blues“.
Die Beiträge sind insgesamt alle sehr gut lesbar (selbst der einzige englische von Anthony Obst) und bieten erhellende Einblicke in Geschichte und aktuelle Debatten der Rap-Kultur. Für Lateinamerikainteressierte ist speziell nichts dabei, da sich die AutorInnen auf die für ein deutsches Publikum relevanten Hiphopgeografien beschränken, also die USA als Wiege dieser Kultur und Deutschland, aber für allgemein Musikinteressierte ist das Buch allemal eine Fundgrube.