Gerade drei Wochen vor seinem Tode durfte es Orlando selbst noch erleben, dass sein Lebenswerk eine große öffentliche Würdigung erfuhr. Am 23. Juli wurde eine erweiterte Neuauflage (die vierte) seines 1967 zuerst erschienen Buches „Die Subversion in Kolumbien“ vorgestellt, und zwar in Anwesenheit des Präsidenten der linken Sammlungsbewegung Polo Democrático Alternativo, Carlos Gaviria, der mutigen linksliberalen Politikerin Piedad Córdoba und vieler VertreterInnen des intellektuellen Lebens des Landes. Der Sozialwissenschaftler Ricardo Sánchez Angel hielt eine beachtenswerte Rede, die das Denken von Fals Borda in die Nähe des indoamerikanischen Sozialismus eines José Carlos Mariátegui (1894-1930) rückte.

Als das nun neu aufgelegte Buch vor 41 Jahren erschien, war sein Verfasser bereits ein anerkannter akademischer Lehrer. Orlando Fals Borda hatte als Sprössling einer presbyterianischen Bürgerfamilie aus der Küstenstadt Barranquilla ein Studium in den USA absolviert und war mit soliden Kenntnissen der damals vorherrschenden empirischen Soziologie zurückgekehrt, um Feldstudien über bäuerliche Produktion und bäuerliches Leben in den kolumbianischen Anden durchzuführen. Seine beiden Bücher zu diesem Themenfeld aus den 50er Jahren sind klassischer Lesestoff geblieben. 1959 führte er die Soziologie als akademische Disziplin an der Nationaluniversität ein. Über akademische Kreise hinaus wurde er 1962 als Mitautor (zusammen mit Eduardo Umaña Luna und German Guzman Campos) des Sammelwerks La Violencia en Colombia bekannt, das die „klassische“ Violencia (kolumbianischer Bürgerkrieg – die Red.) seit der Ermordung des liberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitan 1948 minutiös aufarbeitet. Das Buch wurde von der kolumbianischen Rechten sofort hart attackiert, weil es aufzeigt, in welchem Maße die traditionellen Parteien, Kirche und Streitkräfte Mitverantwortung für vieltausendfache Morde trugen.

Orlando Fals engagierte sich dann auch politisch an der Seite seines Kollegen Camilo Torres, der als katholischer Priester zugleich Soziologieprofessor war und die linke Sammlungsbewegung Frente Unido ins Leben rief, die durch Aufklärung und Massenmobilisierungen die herrschende Ordnung erschüttern wollte. Den Weg von Camilo Torres in die Guerilla ist Orlando Fals Borda nicht mitgegangen. Camilo fiel schon 1966, als ihn die ELN in sein erstes Gefecht schickte. Aber der Tod des Freundes war für Orlando eine Verpflichtung, die Gründe für dessen Schritt zur Guerilla verständlich zu machen und auf andere Weise selbst dazu beizutragen, dass der Widerstand gegen ein demokratisch verbrämtes System illegitimer Herrschaft an Boden gewann.

Zunächst aber zog sich Fals Borda 1967 aus der Nationaluniversität zurück, um den ungerechtfertigten Angriffen maoistischer Agitatoren aus dem Wege zu gehen, die ihn beschuldigten, wegen seiner Kontakte zu linksliberalen US-AmerikanerInnen und der Beschaffung ausländischer Mittel zum Ausbau der Soziologie ein „Agent des Imperialismus“ zu sein. Die Befreiung von den Zwängen akademischer Verwaltung bot ihm aber auch die Möglichkeit, in viel größerem Umfang Basisarbeit zu leisten, und zwar in seiner Heimatregion, der weiteren Atlantikküste, wo seit dem Beginn der 70er Jahre mit der Organisation ANUC eine radikale Bauernbewegung exis-tierte. Orlando erarbeitete für die ANUC Schulungsmaterial zur Geschichte des Kapitalismus an der Costa und er erprobte in der Zusammenarbeit mit Bauernorganisationen eine sozialwissenschaftliche Untersuchungsmethode, die mit politischem Engagement einherging und die Handelnden nicht zu Untersuchungsobjekten herabstufte, sondern sie einbezog, das Bewusstsein der Forschenden wie der „Erforschten“ veränderte und so neue Möglichkeiten umwälzender Praxis erschloss. Diese Methode ist als Investigación Acción Participativa (IAP) weit über die Grenzen Kolumbiens hinaus bekannt geworden. Fals war ihr Pionier, seine Methode wurde durch große internationale Kongresse in Cartagena (1977, dann wieder 1997) weltweit bekannt.

Forschung, die solcherart an den bestehenden Verhältnissen rührt, ist nicht ohne Risiko. Das erfuhren im Jahre 1979 Orlando Fals Borda und seine Lebensgefährtin, die Soziologin María Cristina Salazar, als sie selbst der Repressionswelle des Regimes von Turbay Ayala zum Opfer fielen. Orlando war nur kurze Zeit in Haft, María Cristina aber volle 15 Monate, ohne dass man schließlich die Anschuldigung einer Beteiligung an der Waffenbeschaffung für die Guerillabewegung M 19 aufrechterhalten konnte. In den siebziger Jahren war Orlando Fals Borda zusammen mit Gabriel García Márquez und Enrique Santos Calderón Mitherausgeber der unabhängigen linken Zeitschrift Alternativa, die einen investigativen Journalismus praktizierte und zum unerreichten Vorbild späterer alternativer Medien wurde. Die wissenschaftliche Arbeit von Fals erreichte ihren Höhepunkt mit der Publikation einer vierbändigen Historia doble de la Costa (1979-1986), in der er gegenwartsbezogene Untersuchungen seiner weiteren Heimat mit einer Geschichtsschreibung verbindet, in der die Ausgebeuteten und Unterdrückten in den Mittelpunkt rücken, vor allem auch die verdrängte indianische Urbevölkerung und die AfrokolumbianerInnen. Das zunehmende Interesse an den Regionen seines Landes, deren Geschichte er für die Linke wiederherstellen wollte, war auch wichtig für seinen spezifischen Beitrag zur neuen Verfassung von 1991, an der er als gewähltes Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung aktiv mitwirkte. Seiner Initiative verdanken sich Verfassungsartikel, die eine territoriale Neuordnung des Landes als Voraussetzung für neue Partizipationsformen fordern, Verfassungspostulate, die bis heute nicht in eine Gesetzgebung umgesetzt worden sind. 

Auch in seinem letzten Lebensjahrzehnt hat Orlando Fals Borda unermüdlich versucht, zu einer Sammlung der durch viele Rückschläge geschwächten Linken beizutragen. Dabei ging es ihm darum, an das Konzept der Frente Unido von Camilo Torres im Sinne eines pluralistischen demokratischen Sozialismus anzuknüpfen, der sich auf das verschüttete Erbe früherer Volksbewegungen beziehen konnte, eine Zielvorstellung, die er mit socialismo raizal (zu den Wurzeln zurückgehender Sozialismus) bezeichnete. Seine Freunde waren oft davon beschämt, wenn sie noch den 80-Jährigen bei praktischer Organisationsarbeit erlebten, obwohl er von der Sorge um seine kranke Lebensgefährtin María Cristina Salazar (gestorben 2006) sehr in Anspruch genommen war. 

Orlando spielte eine tragende Rolle bei der Schaffung der Frente Social y Político, aus der dann Polo Democrático Alternativo hervorging, dessen Vorsitzender Carlos Gaviria bei den Präsidentschaftswahlen von 2006 mit 24 Prozent der Stimmen unerwartet erfolgreich war. Das Ende des von ihm verabscheuten US-hörigen Regimes von Alvaro Uribe hat Orlando Fals Borda nicht mehr erleben dürfen.