Im November 2005, wenige Wochen vor den Parlamentswahlen, diskutierten lateinamerikanische Intellektuelle und bolivianische indigene Bewegungen, insbesondere CONAMAQ (der „Nationale Rat der Ayllus und Markas des Qollasuyo“) in einem Tagungszentrum in Cochabamba. Im Mittelpunkt der Beiträge standen die Wiedergewinnung der Kontrolle der indigenen Bevölkerung über ihre Territorien, die neoliberale Wirtschaftsordnung, das Verhältnis indigener Kulturen zu anderen sozialen Bewegungen, die Dekolonialisierung des eigenen Denkens und die kommende verfassunggebende Versammlung, die den juristischen Rahmen für eine multikulturelle Gesellschaft schaffen soll. Die Wahl, Evo Morales und seine Partei, die „Bewegung zum Sozialismus“ MAS, spielten kaum eine Rolle bei dem Treffen. Wie die Frauenbewegung, die organisierten arbeitenden Kinder und Jugendlichen und die Anti-Freihandelsbewegung, so hat auch die kleinbäuerliche indigene Bevölkerung ihre eigene politische Agenda und ihre Skepsis gegenüber dem politischen System bewahrt. Das hinderte sie jedoch nicht daran, am 18. Dezember zusammen mit der Bevölkerung aus den Randvierteln der Städte und weiten Teilen der Mittelschicht massiv zu den Urnen zu strömen und Evo Morales mit 53,7 Prozent der Stimmen zu einem überraschend hohen Wahlsieg zu verhelfen.
Was war geschehen? Die Meinungsforschungsinstitute, die noch wenige Tage vor der Wahl Evo nur fünf Prozent vor Konkurrent Tuto Quiroga gesehen hatten, redeten sich damit heraus, wenigstens den Anteil des ehemaligen Banzer-Zöglings Quiroga einigermaßen exakt bei den späteren 28,6 Prozent angegeben zu haben. Auch die Voraussagen für den Zementunternehmer Samuel Doria Medina und seine neugegründete Partei Unidad Nacional (UN) lagen nicht weit über den endgültigen 7,8 Prozent der Stimmen. Durchaus mögen manche tatsächlich für Morales gestimmt haben, weil sie sich mit ihm an der Regierung mehr Stabilität und weniger Straßenblockaden und Demonstrationen erwarteten. Oder wie der achtjährige Sohn einer Kollegin, der darauf bestand, wählen zu dürfen, von der Mutter mit in die Kabine genommen wurde und Evo wählte, weil der jetzt einfach dran sei. Andere führten die hohe Zahl der Unentschlossenen an. Doch dann hätte Tuto Quiroga im Verlauf des Wahlkampfes zulegen müssen. Hier der smarte, sympathische Familienvater, dort der alleinstehende Morales, den ein Gericht zur Zahlung von Alimenten hatte bewegen müssen. Eine unabhängige Beobachtergruppe konstatierte zudem einseitige Berichterstattung in den Medien zu Gunsten des Oberschichtlers Quiroga und Versuche der Abwertung, bis hin zu rassistischer Diskriminierung des ehemaligen Schafhirten mit Aymara-Herkunft.
Auch in den Straßen und auf öffentlichen Plätzen wurde deutlich, dass Quirogas Wahlbündnis PODEMOS und die UN über die weitaus höheren Wahlkampfetats verfügten, während an den Wohnungen überwiegend die von der Bevölkerung selbst zu bezahlenden blau-schwarz-weißen MAS-Fähnchen hingen. Auch das Programm der MAS, das, anders als die süßen Versprechungen diverser Subventionen wie Schulbesuchs- und Schulerfolgsprämien durch Quiroga, wenig soziale Komponenten hatte, sondern vor allem auf politisch-wirtschaftliche Reformen und die Steigerung der Produktion ausgerichtet war, gab angesichts eines durchaus noch weit verbreiteten Populismus wenig Anlass zu der Erwartung, dass die Unentschlossenen sich ausgerechnet für die MAS entscheiden würden. Als dann aber im Fernsehen ein Video mit Aussagen eines bei einem Wahlsieg von Morales angeblich um seinen Arbeitsplatz bangenden Textilarbeiters gesendet wurde, der dann aber als Chauffeur eines der Wahlkampfbüros von PODEMOS entlarvt wurde, fühlten sich viele an die Wahlkampfmethoden von Sánchez de Lozadas US-amerikanischem PR-Team bei den letzten Präsidentschaftswahlen erinnert.
Auch Sánchez de Lozada hatte seinerzeit einen Wandel der Wirtschaftspolitik versprochen und danach das Gegenteil getan. Zudem war dessen Wahlkampfslogan „Sí se puede“ (ja, man kann es!) dem Namen von Tuto Quirogas Wahlvereinigung „Wir können es“ doch erstaunlich ähnlich. Zwar hatte Quiroga auch diverse, bislang parteipolitisch nicht in Erscheinung getretene Fernsehmoderatorinnen auf seiner Liste, aber die meisten KandidatInnen waren, wie er selbst, aus den traditionellen Parteien, vor allem Banzers ADN, aber auch von der MIR (ehemals sozialdemokratische und später neoliberale Partei, deren RepräsentantInnen in zahlreiche Korruptionsskandale verwickelt waren – die Red.) rekrutiert worden. Und so ist die wahrscheinlichste Erklärung für den hohen Wahlsieg, dass die Bevölkerung wie schon bei den letzten Wahlen einen grundsätzlichen Wandel der Politik wünschte und dass die MAS die einzige Gruppierung mit Siegchancen schien, die ernsthaft zu diesem Wandel bereit war. Am Wahlabend bedankt sich ein sichtlich gerührter und ungewohnt bescheidener Evo Morales bei der indigenen Bevölkerung, den sozialen Bewegungen, den Bauern der Chapare-Region, die ihn politisch sozialisiert haben, und bei den vor dem Sitz der Kokabauern in Cochabamba Cueca tanzenden Anhängern der Partei. „Zum ersten Mal in der Geschichte Boliviens sind wir – Aymara, Quechua und Guaraní – Präsident“[fn]SOMOS MAS bedeutet „Wir sind MAS (Movimiento al Socialismo)“ und gleichzeitig „Wir sind mehr.“[/fn], und wie gewohnt im kurzärmeligen Hemd verspricht Morales mit einem Marcos-Zitat, „zu regieren, wie das Volk uns befiehlt“. Der gewählte Vizepräsident, der Mathematiker und Politikwissenschaftler Alvaro García Linera, spricht wenig später in La Paz – wie gewohnt im Anzug – vom Bündnis von Poncho und Krawatte, von der demokratischen Revolution.
Und während die US-Botschaft noch eine Weile ähnlich sprachlos war wie viele einfache Menschen aus den städtischen Randvierteln; während nicht nur die Bauern aus Evo Morales’ Geburtsort Orinoca auf der Hochebene von Oruro ihren „Bruder“ im Altiplano feierten und ihn ermahnten, seine Zeit als Schafhirte nicht zu vergessen und endlich den Wandel für Bolivien zu bringen; während indignierte Kommentatoren in den Tageszeitungen sich noch Gedanken darum machten, ob hier nun eine geläuterte oder eine radikale Linke an die Regierung gekommen sei und sich darum sorgten, warum die erste Auslandsreise von Morales nach Kuba und Venezuela ging und ob es einem künftigen Präsidenten angemessen sei, sich mit dem chinesischen, südafrikanischen oder französischen Staatspräsidenten in einen schlichten bunten Pullover gekleidet zu unterhalten; während findige Textilproduzenten bereits die neue Evo-Linie der blau-weiß-rot quergestreiften Wollpullover auf den Markt brachten; während einzelne Protagonisten früherer sozialer Konflikte wie Gewerkschaftsführer Jaime Solares in alter Manier dem künftigen Präsidenten schon vor Amtsantritt Ultimaten stellten, waren viele andere VertreterInnen von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Bauernorganisationen und Intellektuelle bereits intensiv in Kommissionen mit der Ausarbeitung eines neuen Regierungsstatuts und des Regierungsprogramms beschäftigt. Und trotz der Beteuerungen, dass dies Kompetenz des herumreisenden Evo Morales sei, natürlich auch mit dem Geschacher um die Besetzung der Ministerposten.
Das Ministerium für indianische Angelegenheiten wird abgeschafft und kein Frauenministerium, wie von vielen gefordert, geschaffen. Ein eigenes Ministerium sei diskriminierend; die Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppen sollten angemessen in der Regierung vertreten sein, ließ Morales verlauten. Am Ende waren es dann doch nur vier Frauen und ein einziger traditioneller Indígena, dafür aber in wichtigen Funktionen: David Choquehuanca als Kanzleramtschef und Außenminister sowie die frühere MAS-Senatorin Alicia Múñoz als Staats- und Innenministerin. Mit z.B. dem Präsidenten der Nachbarschaftsvereinigung von El Alto, Abel Mamani, einem urbanen Aymara im Wasserressort, und der Quechua und langjährigen Vorsitzenden der bolivianischen Vereinigung der Hausangestellten, Casimira Rodríguez, als Justizministerin sowie mit VertreterInnen der Bergarbeiterkooperativen und der Gesundheitsgewerkschaften ist vielmehr das urban-populäre Element in der Regierungsmannschaft präsent, die um ausgewiesene Fachleute wie den Universitätsprofessor Carlos Villegas im Wirtschaftsressort, Andrés Soliz Rada als Minister für Erdöl und Erdgas sowie dem Rechtsanwalt Hugo Salvatierra als Landwirtschaftsminister ergänzt wird.
„Das Ende des kolonialen Staates“ versprach Evo Morales dann am 21. Januar vor über 7000 JournalistInnen, Mitgliedern der sozialen Bewegungen und indigenen Gemeinden nach einem Reinigungsritual in den mehrtausendjährigen Ruinen des Tiwanaku-Reiches. Dies in einer historischen Vorbildern mit moderner EDV-Technik nachgestalteten roten Tunika, bevor ihm Vertreter anderer indigener Gruppen aus Nord-, Mittel- und Südamerika ihre Glückwünsche und symbolischen Geschenke überbrachten. Im Publikum flatterten Che-Fahnen neben dem Banner der Mütter der Verschwundenen aus der an Bolivien grenzenden argentinischen Provinz Jujuy, den Flaggen diverser lateinamerikanischer Staaten und auch der grün-weißen Flagge aus Santa Cruz. „Früher waren wir eins, und heute wollen wir wieder eins werden“, sagte eine indigene Autorität aus dem Norden von Potosí mit der Whipala, der Regenbogenflagge, die zum Banner der indigenen Bewegungen geworden war und die bolivianischen Nationalfarben allemal überwog. „Wenn wir den indigenen Völkern ihre Rechte zurückgeben, werden wir auch die wirtschaftlichen Probleme lösen“, ließ Evo verlauten und forderte vom Parlament die umgehende Verabschiedung des Gesetzes für die verfassunggebende Versammlung. Der Kampf sei mit diesem Tag nicht zu Ende, der Kampf eines Tupaj Amaru, eines Che Guevara… Der neue Präsident forderte die indigenen Organisationen auf, ihn zu kontrollieren und notfalls anzustoßen, wenn er Fehler mache.
Als einzigen seiner politischen Konkurrenten rief er den Aymara-Nationalisten Felipe Quispe zur Zusammenarbeit auf, dessen politische Hochburg das Altiplano (Hochebene) bei La Paz ist, von wo er mit Demonstrationen und seinen oft polemischen Äußerungen (etwa „Sánchez de Lozada kann in meiner Regierung Minister für Angelegenheiten der Weißen werden“ auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, Minister für indigene Angelegenheiten im Kabinett von Sánchez de Lozada zu werden) einen entscheidenden Beitrag zur Bewusstseinsbildung und zum Aufbrechen des postkolonialen Rassismus des politischen Systems geleistet hat. „Wir können uns irren“, hatte Evo Morales beim Abschied aus seinem bescheidenen Haus in der armen Südzone von Cochabamba gesagt, „aber ich hoffe, dass meine Fehler keine schwerwiegenden Folgen für Bolivien haben werden“. In der Tat deutet sich mit der neuen Regierung auch ein neuer Führungsstil an, der den Dialog mit den Basisorganisationen nicht erst dann sucht, wenn es zu Konflikten gekommen ist. Ein neuer Stil auch in den Außenbeziehungen: So empfing er den US-Unterstaatssekretär Shannon noch am selben 21. Januar in seiner Pazeñer Privatwohnung, an billigen Tischen und Stühlen ohne jeden Komfort, selbstbewusst und ohne seine Herkunft zu verleugnen.
Das Dankeswort für den Besuch Shannons am folgenden Tag bei der Antrittsrede im Parlament, nach einer Schweigeminute für die Opfer des Befreiungskampfes, u.a. Tupaj Katari und Bartolina Sisa (FührerInnen des Indígena-Aufstands gegen die spanische Kolonialherrschaft, 1781 ermordet), Marcelo Quiroga Santa Cruz (sozialistischer Politiker und Intellektueller, 1980 ermordet) oder die Opfer der Massaker im Oktober 2003 (Aufstand, der zum Sturz von Präsident Sánchez de Lozada führte), war durchaus ehrlich: „Von den USA bis Kuba bekomme ich Zeichen der Unterstützung“, auch wenn Vize García Linera gemahnt hatte, dass es in den internationalen Beziehungen keine Freundschaften, sondern nur Interessen gäbe. (ein kluger Mann, dieser García Linera – d. Säz.) Entsprechend nahm Morales in seiner Rede kein Blatt vor den Mund. Kampf gegen den Drogenhandel ja, aber das dürfe kein Vorwand für Einmischung oder Bevormundung sein. Den auf der Empore sitzenden Ex-Präsidenten Jaime Paz Zamora kritisierte er, Bolivien mit an die Spitze der Korruptionsskala weltweit gebracht zu haben und versprach, massiv gegen Bestechung und Vetternwirtschaft vorzugehen. Morales erinnerte an fast zwei Jahrhunderte der Diskriminierung, aber auch des indianischen Widerstands. Er erwähnte, dass er ebenfalls an einem 22. Januar vom bolivianischen Parlament ausgeschlossen worden war, welches seine Eingaben blockiert habe, um ihn später, als sie auf den Straßen gekämpft hätten, als Blockierer zu denunzieren. Während die Rede des frisch gewählten Vizepräsidenten Alvaro García Linera in Analyse und Bekenntnis zu einer multikulturellen Demokratie noch viele Ähnlichkeiten mit der Antrittsrede von Carlos Mesa hatte, war Morales’ Auftritt kämpferischer, zum Teil witzig-ironisch („Wenn ich heute so viel rede, ist es nicht, weil Chávez und Fidel mich angesteckt hätten“), aber auch emotional. Den Amtseid legte er mit erhobener Faust und Tränen in den Augen ab.
Politisch brachte die Rede kaum eine Überraschung, sondern bekräftigte, was im umfangreichen Wahlprogramm bereits angekündigt worden war: verfassunggebende Versammlung, Autonomiestatut für die Regionen, die Umsetzung der Landreform, Rückführung des Besitzes der Bodenschätze in staatliche Hände und ihre Industrialisierung, Korrekturen der Privatisierungen öffentlicher Dienste, insbesondere im Wassersektor, und das Wiederflottmachen der staatlichen Bergbaugesellschaft, auf die wohl auch García Linera angespielt hatte, als er von der Notwendigkeit sprach, den Staat politisch, wirtschaftlich und sozial zu stärken. Überraschend vielleicht die gegenüber dem Wahlkampfprogramm stärkere Betonung sozialer Aspekte (Alphabetisierung, soziale Sicherung für Alte, Senkung der Kindersterblichkeit), für die er um internationale Unterstützung bat. Und auf Aymara dann das geflügelte und von der Musikgruppe Awatiña popularisierte Wort vom „Großen Tag, der gekommen ist“. Die Zeit sei da, dass sie gemeinsam mit den indianischen Völkern für dieses Land eintreten würden. Pathetisch kommentierte Venezuelas Präsident Chávez nach seiner Ankunft in la Paz: „Nach 500 Jahren wurde Evo vom Sonnengott geschickt“.
Der in der Gewerkschaftsbewegung sozialisierte und kaum Aymara oder Quechua sprechende Evo Morales, ein indianischer Präsident? Gewiss hat er sich in den letzten Jahren der indigenen Logik angenähert, von den Vertretern der traditionellen Gemeinden gelernt. Auch war die Rede gespickt von symbolischen Begriffen und voll von Respekt und Dank gegenüber den indigenen Kulturen und seinem Herkunftsort Orinoca. Insgesamt erscheint er aber eher ein postmoderner, vor allem der Volkskultur verbundener Präsident, der verstanden hat, dass die indigene Mehrheit endlich einen prominenten Platz in der Gesellschaft einnehmen muss, der aber die unterschiedlichsten Erfahrungen und Weltsichten verbindet und vermischt. Eine Pro-Evo-Demonstration der Gewerkschafter von Santa Cruz, Straßenfeste im Chapare und den Bergwerkszentren, spontane Salutschüsse in Mittelschichtvierteln von Cochabamba sowie hunderttausende feiernde Städter und indianische Bauern in dem für Fahrzeuge gesperrten Stadtzentrum von La Paz zeigen die Popularität der neuen Regierung.
Die Flitterwochen sind zu Ende, jetzt beginn die Arbeit“, kommentierte ein Fernsehsender das Ende der Fernsehübertragung am 22. Januar. Ein Vierteljahr vor den Wahlen war der nun gewählte Vizepräsident Alvaro García Linera, der wegen Mitgliedschaft in der aufständischen indianistischen Bewegung Felipe Quispes fünf Jahre im Gefängnis gesessen hatte, noch sehr skeptisch, ob eine Regierung von Evo Morales viel länger als ein Jahr halten würde, wenn selbst eine bürgerlich gemäßigte Regierung, wie die von Carlos Mesa, Widerstand der Oligarchie im Tiefland und Destabilisierungsversuche und massiven Druck des Kartells der Erdölkonzerne wie der US-Botschaft zu erleiden hatte, nur weil sie sich den Wünschen der Bevölkerungsmehrheit angenähert hatte. Den Begriff vom katastrophalen Gleichgewicht, in dem die traditionellen, rechten, der Oberschicht nahen Kräfte die neuen Kräfte der Veränderung blockieren, verwendete García Linera noch in seiner Antrittsrede. Doch das überwältigende Wahlergebnis hat solche Kräfte geschwächt oder zumindest vorsichtiger gemacht. Die Erdölkonzerne signalisieren weiterhin Investitionsbereitschaft, und wenn nicht, stehen die Staatsbetriebe Venezuelas oder Brasiliens oder gar aus China bereit, die in einem souveränen Bolivien auch bessere Chancen haben.
Das Wahlergebnis hat zwar nicht die wirtschaftliche Abhängigkeit und Spaltung Boliviens überwinden können, wohl aber die politische Dualität von indianischen Formen der Organisation und politischen Artikulation einerseits und einem parlamentarischen, von den Oberschichten kontrollierten Regierungssystem andererseits. Zudem gibt es zahlreiche organisierte Gruppen, soziale Bewegungen, NRO, Intellektuelle, die sich intensiv an der Regierungsarbeit beteiligen, ohne selbst dort einen Posten zu haben oder zu erhoffen. Sie haben parallel zu den Übergangskommissionen praktische Vorschläge erarbeitet und sind entschlossen, dieses politische Projekt von der Basis aus zu begleiten und zu stärken. Erschwerend werden die tiefen Gräben innerhalb der Regierungspartei wirken, die viel zu schnell gewachsen und sich über manche Grundfragen noch gar nicht einig geworden ist. Dort haben sich viele Opportunisten gefunden, z.T. aus den politisch desavouierten Parteien wie der MNR. Manche einfach nur, um weiter in der Politik ein Auskommen zu haben, andere expressis verbis (wenn auch nicht öffentlich), um innerhalb des Regierungsapparates Sand ins Getriebe zu schütten und den Wandel zu sabotieren. Nicht zu vergessen sind große Gruppen der Mittelschicht, die vom und im politischen System oder gar von der Korruption gelebt haben und nun um ihre Pfründe fürchten müssen. Und es gibt nicht wenige Mitstreiter des MAS und vor allem Mitstreiterinnen, die bei den internen Kämpfen um Macht den noch viel zu machistischen, viel zu autoritären Strukturen der eigenen Bewegung zum Opfer gefallen sind. Manche, wie der legendäre Bergarbeiterführer Filemón Escobar, sind froh über die Entwicklung, manche aber auch – und zu Recht – bitter.
Doch Evo Morales verfügt zumindest im Chapare mit den Verbänden der Kokabauern über eine gut organisierte, strategisch denkende Basis, die ihn wiederholt in der Vergangenheit zurückgepfiffen und kontrolliert hat, wenn er zu autoritär wurde oder Caudillo-Allüren bekam. Auch wenn MAS-Kandidaten entgegen den Vorhersagen doch drei der neun Präfekturen gewannen, und zwar die der ärmsten Departements Boliviens (Oruro, Potosí und Chuquisaca), werden die Präfekten der erdölproduzierenden Provinzen und von La Paz künftig von der Rechten gestellt. Nachdem das Parlament jetzt hinter der Regierung steht, profilieren sich diese Regionalregierungen möglicherweise als politischer Gegenpol, doch andererseits kann diese De-Konzentrierung auch zu einem Stabilitätsfaktor werden, weil die Parteiklientel in den Ämtern Unterschlupf findet und die Opposition sich als Regionalregierung bewähren muss. Damit ist die kulturelle Fremdheit zwischen Tiefland- und Hochlandkulturen und Regionen noch nicht überwunden. Auch hatte die MAS im Wahlkampf wenig getan, um die indianischen Organisationen des Tieflands stärker einzubinden. Mit den Unternehmern von Santa Cruz gab es zumindest intensive Gespräche. Die Arbeit des Informationskartells von Santa Cruz, beherrscht von einer kleinen Oberschicht von Großgrundbesitzern und Agrarindustriellen, bescherte dem Vertreter der „Camba Nation“, Rubén Costas, bei den Präfekturwahlen eine satte Mehrheit von 48 Prozent. Doch die 24 Prozent der MAS bei den Präfektenwahlen und die über 33 Prozent für Evo im selben Departement bei den Präsidentschaftswahlen haben gezeigt, dass der Alleinvertretungsanspruch der „Cambas“ gebrochen ist und politische Alternativen auch dort massiv wachsen.
Trotzdem sind im östlichen „Halbmond“, der Region mit einer kleinen Oberschicht, die jahrzehntelang von staatlichen Subventionen, der Diskriminierung der indianischen Bevölkerung und dem Statthaltertum für internationale Konzerne oder Spekulanten profitiert hat, in Zukunft die größten Widerstände zu erwarten. Denn wie sagte Evo Morales in der Antrittsrede, nachdem er auch neue Exportchancen für Agrargüter des Tieflandes erwähnt hatte: „Wir alle wollen gut leben. Vielleicht haben manche das Recht erworben, besser zu leben. Aber nur wenn sie nicht ausbeuten, diskriminieren… Wenn wahr ist, was Journalisten berichten, dass es in Bolivien immer noch Sklaverei gibt, dann wird das nicht mehr toleriert werden.“
Bei der öffentlichen Feier auf dem San Francisco-Platz, auf dem sich traditionelle Musik mischte mit Pieros „Dem Volk, was dem Volk gehört, weil es sich das verdient hat“, zitierte Eduardo Galeano anschließend die legendäre Bergarbeiterführerin Domitila Chungara. Vor vielen Jahren habe sie auf die Frage nach dem größten Feind geantwortet: unsere Angst. Und diese Angst, so Galeano vor einer begeisterten Masse, hätten die Menschen in Bolivien heute verloren. „Verboten, rechts abzubiegen“, mahnte ein großes Transparent.