Du bist Artivistin und Doktorin der Philosophie. Was reizt dich daran, in beiden Feldern aktiv zu sein und zu bleiben?

Als Artivistin, aber auch als Philosophin ist für mich der transdiziplinäre Dialog bedeutsam. Die Begriffe und Vorstellungen der Geisteswissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, mit denen wir immer noch die Realität interpretieren und beschreiben, reichen nicht mehr aus, um die zeitgenössische Welt zu erklären. Die Überspezialisierung des Wissens und der Praxis fragmentieren die Möglichkeit, diese Komplexität zu erkennen und zu beschreiben. Die Aufteilung in verschiedene Gebiete und Disziplinen ist vielfach verbunden mit der Annahme, dass du nur in einem Feld tätig sein kannst, zum Beispiel wenn du Wissenschaftler bist, kannst du nicht gleichzeitig Künstler sein. Das ist doch absurd, weil wir keine eindimensionalen Subjekte sind. Wir handeln auf verschiedenen Ebenen; sowohl durch das Denken als auch durch das konkrete Handeln sollten Dialoge und Diskurse entstehen. Ich stelle mich gegen den kategorischen Dualismus, der das Denken und Handeln trennt. In meiner Perspektive braucht die Theorie eine Praxis der Transformation, die auf bestimmte Bedingungen abzielt. Durch das Nachdenken, das Ausdrücken von Diskursen in Wissenschaft und Kunst sowie konkrete Praktiken und Konzepte entstehen Verbindungen. Das Wissen muss über bzw. durch den Körper, das Alltägliche und den öffentlichen Raum gehen. Die akademische Lehre ist sehr wichtig, da sie uns diskursive Werkzeuge an die Hand gibt, um Widerstand zu „denken”. Durch die künstlerische Praxis können wir Transformationen und Widerstand „einüben”. Auf eine spielerische Art und Weise können wir Grenzen bestimmter Sprachen bzw. Eigenlogiken ausdehnen und durch die Kunst eine spielerische Kritik an bestehenden Kategorien wie Geschlechter, Körperlichkeiten oder Ethnien üben.

In deinen Arbeiten steht als ein Thema die Konstruktionen von Geschlechtern im Mittelpunkt. Dabei beziehst du dich auch auf den Transfeminismus – welche theoretischen Diskurse und Praktiken zeichnen ihn aus?

Der Transfeminismus wurde durch ganz verschiedene Menschen aus unterschiedlichen Kulturen – MigrantInnen, Feministinnen, Menschen in prekären Lebenssituationen, Transgender, Queer-Aktivisten und andere – ins Leben gerufen. Der Transfeminismus ist in gleichem Maße eine soziale Bewegung, eine politische Praxis und ein Raum der epistemologischen Konstruktion, d.h., er bietet ein Denkgerüst und einen akademischen Diskurs, der versucht, die Kämpfe, die in der Vergangenheit stattfanden, weiterzuführen und dabei die historische Erinnerung der feministischen Bewegungen und ihre immer noch stattfindenden Kämpfe einzubeziehen. Es geht darum, die bisherige Vorstellung, dass die Subjekte des Feminismus weiße, heterosexuelle Frauen der Mittelklasse seien, aufzubrechen. Der Begriff Transfeminismus öffnet das Spektrum für andere Minderheiten, die aufgrund einer bestimmten Körperlichkeit, z.B. sexueller Orientierung, Prekarisierung, Ethnie, Migrationsstatus, körperlicher oder physischer Besonderheiten etc. als solche eingeordnet werden. In Anlehnung an feministische Kämpfe in verschiedenen geopolitischen Räumen zu verschiedenen Zeiten ist der Transfeminismus ein gewaltfreier Kampf des Widerstandes und der Transformation.

Das Präfix „Trans-“[fn]lat.: hindurch, hinüber[/fn] weist darauf hin, dass es darum geht, etwas zu überqueren, etwas ist in einem Prozess, in Bewegung. Es geht ganz allgemein um Grenzüberschreitungen von Körpern, sei es auf physisch-motorische Art, wie bei Migranten und Migrantinnen, oder im Sinne einer Überschreitung einer körperlichen oder affektiven Norm, die durch die Korporalhegemonie und deren manichäische[fn]schwarzweißmalend[/fn] und duale Kategorien wie „normal” und „anormal” vorgegeben wird. Jede politische Bewegung beinhaltet Politiken der Sexualität, des Körpers, Biopolitiken. Als besonders deutliches Beispiel gelten hierbei die Queer Theories.

Welche Schnittstellen siehst du zwischen den postkolonialen Theorien und Praktiken und dem Transfeminismus? Und wie ist die Reaktion auf die Vorschläge, die der Transfeminismus anbietet?

Eine Genealogie des Transfeminismus sind die dekolonialen oder postkolonialen Bewegungen. Es geht um gemeinsame subalterne Subjekte. Des Weiteren überschneiden sie sich in der Konzeptionalisierung, da der Transfeminismus bereits methodische Beispiele für die zeitgenössischen Kämpfe gibt. Wie in den dekolonialen Kämpfen ist die Mehrheit derjenigen, um die es geht, südamerikanisch, nicht-weiß oder – wie es bei mir der Fall ist – mestizo bzw. mestizo fronterizo. In der radikalen Kritik der Epistemologie des akademischen Kapitalismus, der eine Struktur der Blanquitud[fn]des„Sittlich-weiß-Sein“, d.h. weiß, männlich, heterosexuell[/fn] vorgibt, treffen sich der Postkolonialismus und der Transfeminismus. Heute kann die Welt nicht mehr ausschließlich aus der weißen Hegemonie heraus interpretiert werden. Die Welt ist komplexer und vielschichtiger. Die postkolonialen Bewegungen sind wichtige Elemente, um neue historische Perspektiven und Erkenntnisse aufzuzeigen. Viele Unabhängigkeitskämpfe zur Befreiung der kolonisierten Länder wurden durch den Aufstand von „nichtlegitimen“ Subjekten erreicht: Das erste Land, das sich als Kolonie befreite und unabhängig wurde, war Haiti. Es war ein Flüchtling of color und Sklave, der die Revolution auslöste. Eine der größten Feministinnen in Lateinamerika war eine cubanische Frau mit afrikanischen Vorfahren. Von diesen Ereignissen wird nicht gesprochen. Aber es wird deutlich, dass in der Methodologie des mestizischen Denkens der dekoloniale/postkoloniale Kampf auch historisch ein Kampf im Alltag ist.

Für mich ist der Postkolonialismus ein wichtiges Werkzeug in einer Welt, die mehrere Male ökonomisch kolonialisiert wurde und in der der Kolonismus nun nicht mehr länger nur die peripheren Bevölkerungen und die, die dem Rassisierungsprozess unterlagen, betrifft. Inzwischen fällt diese Kolonisierung durch eine zunehmende ökonomische Prekarisierung auch über „weiße” Bevölkerungen her, die bisher zur sogenannten Ersten Welt gehörten. Diese ökonomische Rekolonisierung schafft durch die weltweite Wirtschaftskrise eine Dystopie – eine Dystopie, die nun auch von Bevölkerungen erlebt wird, die sich das bisher nicht vorstellen konnten, weil sie selbst die Kolonisierung ausübten. Wir sprechen dabei von der Tercermundialización (Dritteweltwerdung) der Ersten Welt. Für die Ex-Kolonien wie für die „Neukolonisierten“ wird eine Aktualisierung der Kämpfe deutlich. Die Kolonisierung durch das Kapital ist auch in der Ersten Welt sehr gore. Obwohl die Gewalt nicht in der gleichen Weise zum Spektakel wird wie zum Beispiel in Lateinamerika, ist sie auch hier präsent und maßlos.

Obwohl Trans- oft mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert wird, können und sollen die Subjekte des Transfeminismus auch Männer sein, Männer, die eine radikale Kritik am ökonomischen, heteropatriarchalen und sexofoben System machen, wie das beispielsweise von Männern aus dem linken Spektrum schon gemacht wird. Der Transfeminismus ist keine Doktrin. Er ist eine transversale Strategie zur Transformation. Er ist eine komplexe Optik, um Machtstrukturen zwischen Ethnien, Geschlechtern, Klassen und geopolitischen Räumen zu analysieren. Es gibt Männer in den sozialen Bewegungen, die den Transfeminismus sehr offen und interessiert annehmen. Sie nutzen ihn als ein Werkzeug, um diskursive Körper zu kreieren und Praktiken sichtbar zu machen, die bisher nicht mit der hegemonialen Männlichkeit in Verbindung gebracht wurden. Der Transfeminismus ist für sie eine andere Optik, die die Perspektive komplett verändert. In der Geschichte der Linken und der sozialen Bewegungen gab es immer Frauen – Frauen waren Marxistinnen, Sozialistinnen, Anarchistinnen und Zapatistinnen. Jedoch gab es immer eine unsichtbare Unterdrückung innerhalb der Bewegungen und die Frauen blieben an zweiter Stelle. Es geht um die Bereitschaft, in einer selbstkritischen Reflexion die Privilegien aufgrund des Mann-seins ins Spiel zu bringen und die Dominanz des maskulinen Systems über weibliche UND männliche Körper anzuerkennen. Es geht auch um einen Ungehorsam gegenüber der einen „Männlichkeit“.

Der Transfeminismus versucht durch die Kritik am Geschlechtsdualismus und am kapitalistischen Heteropatriarchat, das die Geschlechtskategorien wirtschaftlich nutzbar macht, den Körper, die Körperlichkeit, zu dekolonialisieren.

Der Transfeminismus hat etwas mit Ungehorsam zu tun,  mit einem kritischen Ungehorsam, der sich der Konsumstrukturen, der Homogenisierung, der körperlichen Normalisierung und der Art und Weise, wie das hegemoniale Machtsystem unsere Körper konstruiert, bewusst ist. Ein Ungehorsam, der durch geopolitische Bewusstheit und situiertes Wissen gegen die Nekropolitik und soziale Kontrolle des dominierenden Systems eine Biopolitik des Gegenaufstandes aufbaut. Das verbindende Element zwischen den unterschiedlichen politischen Subjekten ist der Schmerz. Die körperliche Verwundbarkeit wird gegen die räuberischen Logiken über unsere Körper gestellt.