Dreißigtausend Menschen sind während der letzten Militärdiktatur in Argentinien (1976-1983) „verschwunden“, das heißt sie wurden von Sicherheitskräften entführt, gefoltert und ermordet. Gegenüber den Angehörigen bestritten Militär und Polizei, dass sich die „Verschwundenen“ jemals in ihrer Gewalt befunden hätten, sie seien vielleicht untergetaucht oder hätten das Land verlassen. Für die Familie und FreundInnen bedeutete das eine furchtbare Ungewissheit, sie mussten davon ausgehen, dass ihre Kinder, Schwestern, Brüder, PartnerInnen tot waren, konnten sich dessen aber nicht sicher sein und klammerten sich an die verzweifelte Hoffnung, dass sie in irgendeinem geheimen Verließ oder tatsächlich im Ausland noch am Leben seien. Abschiednehmen und Trauern konnten sie so nicht.
Die Zahl 30 000 wurde zum Symbol der schlimmsten Militärdiktatur in der argentinischen Geschichte. Doch abstrakte Zahlen lassen allzu leicht vergessen, dass jedeR Einzelne der verschleppten Compañeros/as ein Mensch mit Gefühlen, Fähigkeiten und Sehnsüchten nach einem besseren Leben und einer gerechteren Gesellschaft war. Dass die Geschichten der Einzelnen in der Betrachtung der Geschichte nicht übergangen oder vergessen werden, ist ein Antrieb der schriftstellerischen Arbeit von Erich Hackl. Seine Erzählungen stehen stets in einem konkreten historischen Kontext – dem Abwehrkampf gegen den Faschismus in Spanien, der nationalsozialistischen Besatzung Österreichs, den Militärdiktaturen der siebziger Jahre in Uruguay und Argentinien – und basieren auf authentischen Fällen.
Seine ProtagonistInnen sind fast immer Menschen, die Opfer der politischen Verhältnisse wurden. Mit Hilfe von Zeitzeugen, meist engen Verwandten und FreundInnen, rekonstruiert er Leben, Handeln und Hoffnungen seiner HeldInnen. Anders als in vielen dokumentarischen Büchern und Filmen sind die Leute, die dem Autor Auskünfte geben, weit mehr als bloße InformantInnen. Sie werden in Hackls Büchern selbst zu den handelnden Personen, die sie in der historischen Wirklichkeit auch waren. Dies gilt ganz besonders für seine jüngste Erzählung „Als ob ein Engel“. Sie rekonstruiert das kurze Leben der Gisela Tenenbaum, die am 8. April 1977 in der argentinischen Stadt Mendoza „verschwunden“ ist. Zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung war sie 22 Jahre alt. Über Giselas („Gisis“) Geschichte berichten ihre Eltern Helga und Willi, ihre Schwestern Heidi und Mónica, ihr Schwager Oscar sowie FreundInnen und GenossInnen, mit denen sie in ihrer Schulzeit und ihren politischen Aktivitäten eng verbunden war.
Gisis Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits waren 1938/39 mit ihren Kindern vor dem antisemitischen Terror der Nazis aus Wien nach Argentinien bzw. Bolivien geflohen. Ihre Eltern lernten sich Ende der vierziger Jahre in Buenos Aires kennen. Sie heirateten und siedelten 1952 nach Mendoza um, wo Helga Tenenbaum drei Töchter zur Welt brachte. Neben Überlebensjobs und Kindererziehung besuchten beide Eltern abends die Mittelschule und begannen nach deren Abschluss 1958 Medizin zu studieren. 1972 eröffneten sie eine gemeinsame Praxis, Willi als Allgemeinmediziner, Helga als Gynäkologin.
Die Töchter wuchsen in dem jüdisch-sozialistisch geprägten Elternhaus in einer offenen und gleichzeitig vertrauten Atmosphäre auf. Gisi – so der übereinstimmende Tenor aller Erzählungen – war die Mustertochter, sehr sozial, eine überdurchschnittliche Schülerin und eine hervorragende Sportlerin. Dazu früh an dem interessiert, was um sie herum auf der Welt passierte, was ihren Eltern durchaus nicht unsympathisch war. In den Schilderungen von Gisis Schul- und Jugendzeit hatte ich zeitweilig das Gefühl, es würde etwas zu dick aufgetragen. Alle beschrieben sie nur als edel, hilfreich und gut – auch in ihrem politischen Engagement, obwohl etwa ihre ältere Schwester dafür wenig übrig hatte. Warum, dachte ich zunächst, hat der Autor hier nicht das eine oder andere Lob, die eine oder andere Anekdote weggelassen? Doch bald wurde mir klar, dass es ihm fernlag, die ermordete Gisi zu glorifizieren. Die Rekonstruktion ihrer Geschichte ist nur ein Strang des Buches. Mindestens genauso wichtig ist die Frage, was ihr „Verschwinden“ für ihr soziales Umfeld bedeutet hat. Wenn ein nahestehender Mensch stirbt, reagieren Menschen in der Regel so, dass sie in der Phase der Trauer mühsam beginnen, sich neu zu orientieren und zu organisieren. Auch wenn der/die Weggegangene in Gedanken präsent bleibt, geht das Leben ohne sie/ihn weiter und die Angehörigen und FreundInnen beginnen, sich auf den Verlust einzustellen. Ist aber gar nicht klar, ob der/die Andere wirklich weg ist oder vielleicht im nächsten Moment wieder durch die Tür tritt, gibt es keine wirkliche Chance für die Trauerarbeit und den notwendigen Neuanfang.
Die Mystifizierung der „verschwundenen“ Tochter/Schwester/Freundin ist eine Strategie, mit dieser Situation umzugehen. Gisi bleibt permanent präsent, als jemand ganz Besonderes, die mit normalen Kategorien nicht zu fassen ist. Bei der Lektüre des Buches trat bei mir ein ganz eigenartiger Effekt ein. Je mehr ich aus den Erinnerungen der anderen über Gisela Tenenbaum erfuhr, desto mehr wurde sie zum Phantom: Kein reales Wesen mit Stärken und Macken, sondern jemand nicht Greifbares, „als ob ein Engel“, wie es im Buchtitel heißt. Gisis „Verschwinden“ hat das Leben ihrer Umgebung, vor allem ihrer Familie, nachhaltig bestimmt, wahrscheinlich ungleich stärker als wenn sie überlebt hätte und wie alle anderen versuchen würde, mit den Widrigkeiten des argentinischen Alltags in Zeiten der Krise fertig zu werden.
Erich Hackl wäre nicht der Autor, der er ist, wäre seine Erzählung „nur“ eine meisterhafte Studie über den Umgang einer Familie und guter FreundInnen mit dem Tod eines Menschen unter ganz besonderen Umständen. Gisela Tenenbaum war kein zufälliges Opfer, sie war nicht einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie tat zwischen 1975-77 in Argentinien genau das, was sie tun wollte und was sie für notwendig hielt. Aus ihrer Geschichte wird deutlich, warum viele Jugendliche wie sie Anfang der siebziger Jahre Mitglied revolutionärer Organisationen wurden. Sie sahen eine Oligarchie, deren einziges Interesse darin bestand, ihre Privilegien um jeden Preis zu verteidigen, während die Verarmung zunahm und auch der Mittelstand seine Felle davonschwimmen sah. Eine gesellschaftliche Debatte über politische Veränderungen wurde durch die Repressionskräfte verhindert. Leider war für viele ArgentinierInnen ausgerechnet der im Franco-Spanien residierende autoritäre Ex-Präsident Juan Domingo Perón ein Hoffnungsträger. Von ihm erwarteten sie einen politischen Neuanfang und soziale Veränderungen. Da sie die Nähe zum „Volk“ suchten, schlossen sich auch viele Jugendliche aus dem progressiven, traditionell antiperonistischen Bildungsbürgertum der radikalen peronistischen Jugend an.
So kam auch Gisi Tenenbaum über Unizirkel schließlich zu den Montoneros, der linksperonistischen Guerilla, die sich 1974/75 stark genug fühlte, den rechten Peronisten, der Oligarchie und dem Militär den Krieg zu erklären. Gelangen ihnen anfangs spektakuläre Aktionen und Entführungen, über die sie auch an beträchtliche finanzielle Mittel kamen, sahen sich die Montoneros bald einer massiven Gegenoffensive des Militärs und der paramilitärischen Todesschwadronen, allen voran der berüchtigten Alianza Anticomunista Argentina (Triple A), ausgesetzt. In diesem schmutzigen Krieg gerieten die Montoneros, aber auch die anderen revolutionären Organisationen, sehr schnell in die Defensive. Sie waren bereits militärisch besiegt, als die Streitkräfte im März 1976 putschten. Die Repression nach dem Staatsstreich zielte einzig auf die physische Vernichtung der linken Opposition, keinesfalls nur der bewaffneten Organisationen, sondern von allen, die Widerstand gegen das liberale Wirtschaftsmodell leisteten.
Die Darstellung des letzten Lebensjahres der Gisi Tenenbaum in Hackls Erzählung macht die Ausweglosigkeit deutlich, in der sich die Mitglieder der revolutionären Gruppen 1976/77 befanden. Während die Führung der Montoneros im Ausland noch großmäulig neue Offensiven verkündete und ihre Leute zu Aktionen aufrief, waren die KämpferInnen in Argentinien längst nur noch verzweifelt damit beschäftigt, ihren Häschern zu entkommen. Gisi Tenenbaum suchte in den letzten Monaten vor ihrem „Verschwinden“ ständig neue Unterkünfte, stand bei Bekannten vor der Tür und bat sie, sie für eine Nacht aufzunehmen. Immer häufiger wurde dieses Ansinnen zurückgewiesen, weil schon das Aufnehmen eine/s/r „Subversiven“ Verhaftung, Folter und Ermordung bedeuten konnte. Man spürt bei der Lektüre regelrecht, wie sich die Schlinge immer enger um die junge Frau zieht. Von der Mutter und Schwester werden die wenigen Möglichkeiten dargestellt, wie sie vielleicht hätte überleben können: nach Buenos Aires gehen, sich dort einige Monate ohne jeden Kontakt zur Organisation versteckt halten und dann ein unauffälliges Leben führen oder mit dem Pass einer Wiener Cousine aus Argentinien ausreisen und nach Europa flüchten. Aber diese Möglichkeiten hätten den Bruch mit der Organisation vorausgesetzt, den Gisi nicht vollziehen wollte. So war es nur eine Frage der Zeit, bis man sie aufspürte und sie „verschwand“.
Bis heute ist nicht bekannt, wie und wann Gisi Tenenbaum gestorben ist. Nach dem, was man heute weiß, können Familie und FreundInnen sich vorstellen, was man ihr vor ihrer Ermordung vielleicht noch angetan hat. Dies wird ihnen in ihren Alpträumen schon oft genug begegnet sein. Noch immer hoffen sie, dass Gisis sterbliche Überreste gefunden werden. Dafür haben die Eltern schon vor Jahren ihre DNA bei Menschenrechtsorganisationen hinterlegt. „Einen Knochen von dir finden, mit ihm den Schmerz begraben, dir Blumen streuen.“
Hackls Erzählungen leben von einer sehr sorgfältigen Recherche, seiner Bereitschaft, sich voll auf seine ProtagonistInnen einzulassen, seiner Fähigkeit, sich mit Kommentaren zurückzuhalten. Aber es ist vor allem seine Sprache und sein Erzählstil, die seine Bücher so außergewöhnlich machen. Er verliert kein Wort zuviel, der/die LeserIn spürt, dass der Autor noch sehr viel mehr erzählen könnte, darauf aber bewusst verzichtet. Seine Texte sind überhaupt nicht schwierig, dennoch ist es kaum möglich, sie schnell zu lesen. Man hätte immer das Gefühl, etwas zu überlesen. Und das möchte man bei diesen Büchern auf gar keinen Fall.
Erich Hackl: Als ob ein Engel. Erzählung nach dem Leben, Diogenes-Verlag, Zürich 2007, 170 Seiten, 17,90 Euro