Donnerstag Nachmittag. Unter den Arkaden der wunderschönen Altstadt von Bologna suche ich mir den Weg zur Aula Magna der Universität von Bologna. In einer kleinen Gasse öffnet sich plötzlich ein Platz, an dessen Ende sich majestätisch die Fassade der ehemaligen Kirche von Santa Lucia erhebt. Dort findet die Auftaktkonferenz „Lateinamerika: Ein neues Entwicklungsmodell?“ statt. Anlass sind die „6th Human Rights Nights“ in Bologna. Ein Schwerpunkt ist in diesem Jahr neben dem Motto „Respekt“ der lateinamerikanische Kontinent. Nach dem Eintritt durch die Kirchenpforten sieht man über Dutzenden Stuhlreihen am Ende des Schiffes die Gäste auf dem Podium: der Schriftsteller Luis Sepúlveda, der argentinische Präsident der Jury Julio Santucho, die künstlerische Leiterin Giulia Grassilli und verschiedene Dozenten der Universität. Der chilenische Autor Luis Sepúlveda ist gekommen, um sein neues Buch „Die Macht der Träume“ vorzustellen. Die Atmosphäre in dieser heiligen Halle, früher der Gottesanbetung, heute des Studiums, ist beeindruckend. Gespannt wird den Ausführungen der DiskutantInnen gelauscht, die die Kraft der sozialen Bewegungen in Lateinamerika hervorheben und diese in Beziehung zu den Geschichten Sepúlvedas setzen. Immer wieder beziehen sich die Redner, die alle anscheinend schon ein Mal persönlich mit dem Subcomandante Marcos Pfeife geraucht haben, auch auf die positiven Impulse des zapatistischen Aufstandes und dessen Bedeutung für die Kraft der Träume.

Drei Stunden später, wiederum in der Aula Magna: Es ist Zeit für die offizielle Eröffnung des Festivals. Die dreiköpfige Jury wird vorgestellt und auch einleitende Grußworte des sozialdemokratischen Bürgermeisters – ehemaliger Chef des größten italienischen Gewerkschaftsbundes und in der ehemals kommunistischen Stadt wegen seiner Law-and-Order-Politik sehr umstritten – dürfen nicht fehlen. Neben dem argentinischen Präsidenten der Jury Julio Santucho (siehe nebenstehendes Interview) gehören der Jury die Palästinenserin Deana Ahmad, Dozentin an einer amerikanischen Privatuni in Bologna, die das Festival fördert, und der Südafrikaner Sibusis Nxumal, Teil des Musikerkollektivs „Politbüro Sessions“, an. Zur Eröffnung haben die Organisatoren den amerikanischen Dokumentarfilm „Arlington West“ der Friedensaktivisten Sally Marr und Peter Dudar gewählt. In 70 Minuten portraitiert er ein Mahnmal an der Westküste der USA zu Ehren der im Irakkrieg Gefallenen. Es sind nicht enden wollende Bildsequenzen ohne Dramaturgie der weißen Holzkreuze am Strand und Interviews. Auch die Brisanz des Themas kann daran nichts wettmachen und es bleibt die Hoffnung, dass, es sich um einen Fehlgriff zu Beginn des Festivals handelt.

Freitag Nachmittag, Kino Lumière in der Fattoria delle Arti (Kunstmanufaktur): Um die 50 Leute haben sich eingefunden, um mit „The old man and Jesus“ von Marcelo Adreade Arreaza aus Venezuela ins Programm zu starten. Lumière ist das Kino der kommunalen Cinemathek von Bologna. Angeschlossen sind ein Filmarchiv und eine Bibliothek. Das Filmprogramm der zwei Säle lässt das Cineastenherz höher schlagen und kann international sicherlich seinesgleichen suchen. Auch viele lateinamerikanische Filmemacher haben hier schon ihre Filme vorgestellt. Der vom Colectivo Calle y Media produzierte Film erzählt die Geschichte zweier Obdachloser in Caracas, dem alten Mann und Jesus. Auf ihren Spuren streifen wir durch die Stadt, von den Armenvierteln und den Schlafplätzen der Obdachlosen über die Einkaufszentren hin zu den Villenvierteln auf den Hügeln am Rande der Stadt. Jesus erzählt im Off-Kommentar die jüngere Geschichte Venezuelas, um zu dem Schluss zu kommen, dass sich für die kleinen Leute trotz Chávez immer noch zu wenig geändert hat. Für Jesus ersetzt die Straße die Uni und die Schule, die er nie besuchen konnte. Der alte Mann ist der Professor, der Hesse zitierende Philosoph, den der Haschischkonsum vor langer Zeit in den Knast und damit in die Abwärtsspirale gebracht hat. Der Film endet mit einer Botschaft von Jesus an Hugo Chávez, an seinen Präsidenten, den des Volkes, in dem er ihn auffordert, den Geist der Revolution weiter zutragen. Ein schöner nachdenklicher Film, der Raum lässt für die Stimmen derjenigen, die selbst unter Chávez zu selten zu Wort kommen und auch dort noch zu den Verlierern gehören.

Zwei Stunden später, die Abendvorstellung: Der Vorraum ist endlich gut gefüllt in Erwartung der Italienpremiere von „Cautiva“, dem argentinischen Spielfilmbeitrag des in den USA lebenden argentinischen Jungregisseurs Gastón Biraben. Der Film aus dem Jahr 2003 erzählt die Geschichte von Christina, einem 15 jährigen Mädchen, das eines Tages von der Schule ins Gericht gebracht wird, wo man ihr eröffnet, dass ihre „Eltern“ gar nicht ihre leiblichen Eltern sind. Nur schwer verdaut sie diesen Schock und die anschließende Identifikationskrise und begibt sich auf die Suche nach dem wahren Schicksal ihrer Eltern, die während der Fußball-WM 1978 „verschwunden“ sind. „Cautiva“ ist ein spannender, gut gemachter Spielfilm, der auf sehr emotionale Weise über das Schicksal der Kinder aufklärt, die während der Zeit der Militärdiktatur den Verschwundenen genommen wurden.

Nach dem Film gibt es anlässlich des 30. Jahrestages des Militärputsches in Argentinien eine Diskussion mit Julio Santucho und dem Direktor des kommunalen Kinos. Während ihrer Konversation klingelt plötzlich das weiße Telefon auf dem Podium. Filmemacher Gastón Biraben wird aus den USA zugeschaltet. Er erzählt, wie er während seines Filmstudiums auf den Stoff stieß und einige Jahre brauchte, um ihn endlich angehen zu können. Für ihn hat es eine besondere Bedeutung, dass der Film in Italien genau am Jahrestag des Militärputsches Premiere hat. Nach Gastón kommt noch eine Repräsentantin der argentinischen Menschenrechtsszene per Telefon aus Buenos Aires zu Wort. Sie berichtet über die Begehung des Jahrestages in Argentinien. Der Abend endet mit einer großen Party zum Gedenken an das Massaker in den südafrikanischen Townships von Sharpville mit dem Kollektiv „PolitBüro Sessions“ im Cassero, dem schwul-lesbischen Zentrum Bolognas, das sich in einem trutzigen Turm der alten Stadtmauer befindet.

Samstag Nachmittag laufen die letzten beiden lateinamerikanischen Filme. Das wunderschöne Frühlingswetter verzögert die Schritte in den dunklen Kinosaal jedoch immer mehr. Zwei Kurzfilme stehen auf dem Programm, „Los Nadies“ aus Argentinien und „Recycled Life: A Gaujeros Story“ aus Guatemala. Ramiro García und Sheila Perez Jimenez erzählen in ihrem Film „Los Nadies“ die Geschichte einer Gruppe von Straßenkindern in Buenos Aires, die in alten Eisenbahnwaggons am Rande der Stadt leben. Eine Gemeinschaft von Jugendlichen mit ganz unterschiedlichen Schicksalen hat sich dort zusammengefunden. Gefilmt haben sich die Jugendlichen selbst und sind damit näher dran, als es jeder Außenstehende sein könnte. Wie so oft wenn es um das Schicksal von Straßenkindern geht, endet der Film mit dem Hinweis, dass das kleine Stück Sicherheit, was die Jugendlichen hatten, durch eine Räumung des Areals zerstört wurde.

„Recycled Life“ spielt auf der größten Müllkippe Zentralamerikas, in Guatemala Stadt. In knapp 40 Minuten schafft es der Film von Leslie Iwerks sowohl das Schicksal der Müllsammler, die dort zum Teil seit Generationen leben, als auch den fast aussichtslosen Kampf der Stadt und verschiedener NRO für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu portraitieren. Fast 1700 Menschen sind tagtäglich damit beschäftigt, die Tonnen von Müll der Hauptstadt, die dort völlig unsortiert ankommen, zu verarbeiten. Am Ende stehen die Arbeiter trotz der extrem gesundheitsgefährdenden Arbeit mit kaum mehr als fünf Dollar Tageslohn da. Ein großes Feuer auf der Müllkippe Anfang 2005 hätte für die Gaujeros fast das Aus ihres Einkommens bedeutet. Stattdessen machen sich Stadt, NRO und Arbeiter daran, die Arbeitsbedingungen menschenwürdiger zu gestalten. „Recycled Life“ wird am vorletzten Abend des Festivals mit dem Preis für den Besten Kurzfilm ausgezeichnet.

Über das Thema Lateinamerika hinaus war der Schwerpunkt der diesjährigen „Human Rights Nights“ „Respekt“. Konferenzen und Diskussionsrunden zu Themen wie Menschenhandel, den Europäische Menschenrechtsgerichtshof oder Agrikultur vs. Agrobusiness wechselten sich mit den thematisch gruppierten Filmreihen von Dokumentar- und Spielfilmen sowie Kurzfilmen ab. Aber es ging auch um Themen wie einen alternativen Filmmarkt und neue Möglichkeiten der Filmförderung. Im Vordergrund der Filmauswahl stehen keine qualitativen Kriterien, wie die Festivalleiterin Giulia Grassili zu Beginn erläuterte. Wichtig seien die angesprochenen Themen und das Engagement der FilmemacherInnen. So kommt es zu Stande, dass teure Spielfilmproduktionen neben Dokumentarfilmen für das Fernsehen und denen kleiner Filmkollektive laufen. Letztlich ist dies neben dem Thema einer der fundamentalen Aspekte, durch die sich ein Festival dieses Typus von den großen unterscheidet.

Aus dem Programm heraus sticht der für ARTE produzierte Film „Workingman’s Death“ von Michael Glawogger. In sehr eindrucksvollen Bildern gibt er Arbeit ein neues Gesicht. Er porträtiert Arbeiter auf der ganzen Welt, die hinter der Fassade des globalen kapitalistischen Systems allzu oft in Vergessenheit geraten, und gibt ihnen ein menschliches Gesicht. In fünf Episoden begleitet er Minenarbeiter in den Schwefelminen auf den Philippinen, Menschen auf dem größten Schlachthof Afrikas in Nairobi, auf den Schiffsfriedhöfen in Pakistan, in illegalen Minen in Georgien und in Stahlwerken in China. Im letzten Kapitel begleitet er Jugendliche in den zum Museum gewordenen Ruinen des Landschaftsparks Nord in Duisburg, einst das Symbol für Arbeit im Ruhrgebiet. Ein sehr ergreifender Film, der vor allem durch die Qualität und die herausragende Ästhetik seiner Bilder besticht.

Leider war die Aufmerksamkeit des lokalen Publikums wie der Tagespresse für das Festival nicht sehr groß, weshalb auch die Loblieder der Organisatoren auf das stetige Wachstum des Festivals etwas deplaziert wirkten. Abgesehen von der Eröffnung und der einen oder anderen Abendveranstaltung waren die Veranstaltungen eher schlecht besucht. Auch würde man sich hin und wieder wünschen, bei der Auswahl der Filme doch etwas mehr auf die Qualität zu achten. Nichtsdestotrotz sind die „Human Rights Nights“ ein sehr interessantes Forum, um sozialen Ungerechtigkeiten und dem Widerstand dagegen auf der ganzen Welt ein Gesicht zu geben.