Revolution gegen die Enteignung

Gewidmet Friedrich Katz (1927-2010)[fn]Friedrich Katz war einer der führenden mexikanischen Historiker. Er wurde 1927 in Berlin geboren und kam mit seinen Eltern – sein Vater war der jüdische Schriftsteller und Kommunist Leo Katz – auf der Flucht vor den Nazis nach Mexiko. Zur mexikanischen Revolution veröffentlichte er u. a. die Standardwerke „Deutschland, Díaz und die mexikanische Revolution“ (1964) und „The Life and Times of Pancho Villa“ (1998).[/fn]

Die Regierung Porfirio Díaz’ hatte sich durch etwas ausgezeichnet, was im Verlauf des 19. Jahrhunderts keine politische Partei oder politische Figur erreicht hatte: Die Befriedung des mexikanischen Territoriums. Porfirio Díaz brachte Mexiko unter dem positivistischen Leitsatz „Orden y Progreso“ (Ordnung und Fortschritt) auf ein bemerkenswertes Niveau wirtschaftlicher Entwicklung. Unter seiner Führung wurde die Infrastruktur ausgebaut, sowohl für den Handel als auch für die Telekommunikation. Gleichzeitig wurde ausländischen Investoren erleichtert Geschäfte aufzubauen und sie wurden darin unterstützt Land zu erwerben, um ihre Territorien und Haziendas auszudehnen. So wurde eine große soziale Ungleichheit geschaffen. Mit Hilfe der Leyes de Reforma (Reformgesetze), die unter dem liberalen Präsidenten Benito Juárez Mitte des 19. Jahrhunderts verabschiedet worden waren, wurde die Macht der Katholischen Kirche limitiert, indem deren immense Territorien enteignet wurden und so zum privaten Verkauf standen.
So förderte die Zeit unter Porfirio Díaz die industrielle und landwirtschaftliche Entwicklung der Haziendas in Mexiko und die Konzentration von Land in den Händen einiger weniger Großgrundbesitzer. Deren ArbeiterInnen waren oft Indigene und Bauern/Bäuerinnen, die für einen spärlichen Lohn arbeiteten, wenn sie überhaupt einen erhielten, ihnen wurde nur das Nötigste zum Überleben gegeben. Die meisten Haziendas arbeiteten mit tiendas de raya (Anschreibläden). Dieses System bestand darin, dass die ArbeiterInnen dazu verpflichtet wurden, ihre Lebensmittel im Laden der Hazienda zu kaufen. Da ihr Lohn jedoch dafür nicht ausreichte, machten sie Schulden, die innerhalb weniger Jahre unbezahlbar wurden. Das System der tiendas de raya basierte außerdem auf der Norm, dass Schulden vererbt wurden. So hinterließen die Arbeiter oder Bauern ihren Kindern und Witwen nichts als einen Berg Schulden und Verpflichtungen dem Herren und Großgrundbesitzer gegenüber.

Auf der anderen Seite gab es eine sehr viel kleinere Gruppe von Männern und Frauen, auf die sich der größte Teil des Reichtums des Landes konzentrierte, die neue politische Oligarchie. Das Porfiriato zeichnete sich also durch eine große soziale und ökonomische Ungleichheit aus, die durch das Prinzip der Pax porfiriana besänftigt wurde. Gleichzeitig fand zu dieser Zeit eine Machtkonzentration vor allem in der mexikanischen Hauptstadt statt. Mexiko schien zu dieser Zeit, an den Idealen der französischen Aufklärung gemessen, ein integriertes Land zu sein, in dem die Macht auf die drei Institutionen Exekutive, Judikative und Legislative verteilt war. In der Praxis jedoch zeigte sich, dass sich die Macht in den Händen der paternalistischen Figur Porfirio Díaz ballte, der es im Laufe seiner unzähligen Wiederwahlen geschafft hatte, enge Vertraute in die höchsten verantwortungsvollen Machtpositionen zu bringen. Viele von ihnen waren alte Militärs, die mit ihm in der Schlacht um Puebla 1862 gegen die französische Intervention gekämpft hatten. Dieser Schlacht verdankte Díaz sein Ansehen als General. Später bekämpfte er unter dem Plan de la Noria den Präsidenten Benito Juárez wegen seiner Absicht, sich als mexikanischer Präsident wiederwählen zu lassen, nachdem der Aufbau des zweiten Kaiserreiches unter Maximilian von Habsburg gescheitert war. Maximiliam war von liberalen Truppen 1867 auf dem Cerro de las Campanas im Staat Querétaro nördlich der Hauptstadt erschossen worden.

Paradoxerweise kämpfte Porfirio Díaz 1871 also unter dem Motto „No reelección“ (Keine Wiederwahl) gegen Juárez. Dieser starb 1872 und hinterließ das Präsidentenamt Sebastián Lerdo de Tejada. Als Díaz dann 1876 Präsident wurde, klebte er von 1876 bis 1911 an dem Amt (nur einmal, zwischen 1880 und 1884, regierte Manuel González). 1910 war Porfirio Díaz bereits zum siebten Mal wieder„gewählt“ worden.

Francisco I. Madero nutzte die politischen und landwirtschaftlichen Krisen, die die Pax porfiriana ins Wanken brachten. Als Auslöser der mexikanischen Revolution lassen sich mehrere Faktoren aufführen, beispielsweise die Streiks von Cananea in Sonora und Río Blanco in Veracruz; die ungerechten und wiederholten Vertreibungen der Yaqui Indios, die gezwungen wurden, unter sklavenähnlichen Bedingunen auf den Sisal-Agave-Haziendas in Yucatán zu arbeiten (vgl. dazu den Beitrag von Gustav Landauer auf S. 9). Weiter sind die anarchistischen Organisationen und liberalen Vereine zu nennen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts bildeten und die ersten Forderungen der Arbeiterbewegung, der Bauern/Bäuerinnen und der Revolutionäre formulierten, sowie schließlich der Verschleiß der Regierung von Porfirio Díaz und der gesamten politischen Spitze. General Díaz hatte 1908 in einem viel diskutierten Interview (Díaz-Creelman) erklärt, sich von der Macht zu verabschieden und verkündet, dass er die Wahlen von 1910 einer demokratischen Partizipation und Parteien öffnen würde. Dies war das Signal für verschiedene Organisationen, sich in politische Parteien zu verwandeln, wie zum Beispiel die 1909 gegründete Partido Nacional Antireeleccionista. Der Weg zur Demokratie schien durch denjenigen, der sich als Diktator etabliert hatte, geöffnet. Doch dann verkündete Díaz seine erneute Kandidatur und inszenierte nicht nur einen großen Wahlbetrug zu seinen Gunsten, sondern ließ seine Streitkräfte gegen alle politischen Gruppen und Vereinigungen vorgehen, die gegen seine Regierung und seine politische Linie waren.

Dabei war Díaz nicht allein: Er wurde von einer sehr mächtigen Oligarchie gestützt, die sich von dessen erneuter Präsidentschaft weitere Vorteile und Schutz erhoffte und die von den Zahlungen der ausländischen Investoren am meisten profitierte.

Am 20. November 1910 gipfelte der Widerstand gegen diese Machenschaften in einem Aufstand. Daran beteiligten sich längst nicht alle Vereine und Gruppierungen, die gegen die Wiederwahl von Díaz waren. Eigentlich waren es nur einige wenige, unter ihnen ist die Rolle der Gebrüder Serdán aus Puebla nennenswert, die zwar am Vorabend entdeckt wurden, aber ihr eigenes Haus verteidigten, das als Quartier der Aufständigen in Puebla – östlich der Hauptstadt – diente. Hier begann die Rebellion, in deren Verlauf Díaz im Mai 1911 das Land in Richtung Paris verlassen musste, um weiteres Blutvergießen zu verhindern.

Madero gewann die Wahlen Ende 1911 unter dem Motto Sufragio efectiveo, no Reelección (Effektive Stimme, keine Wiederwahl) und wurde Präsident. Einen Monat später erhob sich eine der bedeutendsten Gruppen der mexikanischen Revolution – es war nicht eine Bewegung, sondern eine Vielzahl von Bewegungen, doch wir HistorikerInnen haben uns mit der Zeit darauf verständigt, sie Revolution zu nennen – gegen Madero, das von Emiliano Zapata geführte Ejército Libertador del Sur (Befreiungsarmee des Südens). Diese Gruppe von Revolutionären, die sich vor allem im südmexikanischen Bundesstaat Morelos konzentrierte, erhob sich mit dem Plan de Ayala gegen Madero und drückte so der Revolution ihren unverwechselbaren Stempel auf, Kampf um Land, Freiheit und Gerechtigkeit.

Die erste bäuerliche Revolution des 20. Jahrhunderts war gegen die Konzentration von Gütern, Land und Macht gerichtet, die die Großgrundbesitzer und Oligarchen um Porfirio Díaz angesammelt hatten, unter ihnen nicht nur MexikanerInnen, sondern auch ausländische BesitzerInnen. Laut Werner Tobler[fn]Tobler, Hans Werner: Die mexikanische Revolution. Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch 1876-1940, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1984[/fn] kann man die mexikanische Revolution anhand ihrer sozialen Forderungen und der erreichten Änderungen als solche bezeichnen.

Zehn Jahre heftiger Kämpfe mussten ins Land gehen, bis die mexikanische Revolution ein Ende fand. Viele Anführer erhoben sich in ihren Regionen: „Pancho“ Villa „der Zentaur des Nordens“, in Chihuahua zeitweise zusammen mit Venustiano Carranza, oder Álvaro Obregón und Calles in Sonora, die in der postrevolutionären Phase in den 1920er Jahren das Präsidentenamt bekleideten. Es wird geschätzt, dass circa eine Million Frauen und Männer in den bewaffneten Auseinandersetzungen ihr Leben verloren. Zunächst im Kampf gegen die Diktatur Porfirio Díaz’, später gegen den Putschisten Victoriano Huerta, der 1913 Madero und seinen Vizepräsidenten ermorden ließ. Dieses Ereignis gab dem revolutionären Prozess eine entscheidende Wende, von nun an kämpften die unterschiedlichen revolutionären Gruppen gegeneinander mit unterschiedlichen Haltungen und Forderungen. Als positives Ergebnis können wir vielleicht die Errungenschaften unter Präsident Lázaro Cárdenas (1934-40) betonen, unter dem es die größte Landumverteilung mit Bezug auf den Artikel 27 der Verfassung von 1917 gab. (zur Landreform vgl. Beitrag von Diana Karina Mantilla Gálvez y Yerson Rojas auf S. 15)

Doch nach hundert Jahren schaut das mexikanische Volk mit Skepsis auf die Errungenschaften der Revolution. Müssen wir tatsächlich von einer abgebrochenen Revolution sprechen wie der Politologe und Historiker Adolfo Gilly? Mexiko hat durch seine einzigartige Geschichte besondere Eigenschaften im Vergleich zum Rest von Lateinamerika. Es ist eines der wenigen Länder, in dem es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und während des Kalten Krieges keine Militärdiktatur gab. Dafür gab es die Diktatur einer alleinigen Partei, der 1928 gegründeten „Revolutionären Institutionellen Partei“ (Partido Revolucionario Institucional, PRI). Diese Partei hat Mexiko von 1928 bis 2000 regiert. Sie wurde durch einen Pakt aller Gruppen, die sich aus dem Revolutionsprozess entwickelt haben, gegründet. Damit gelang es, eine politische Waffenruhe zwischen den rivalisierenden Gruppen und Regionen zu schaffen und diese Sektoren zu integrieren. Damit wurde eine im gesamten mexikanischen Territorium verankerte Struktur geschaffen. Alle Repräsentanten in Regierungsposten und Verwaltung waren bis in die niedrigsten Ränge Teil des Parteiapparates der PRI. Die Gier nach Macht und der Versuch, sich unter allen Umständen an der Macht zu halten, wurden mit den Jahren zur Hauptantriebskraft der Parteimaschinerie, die so jegliche politische Ideologie verlor. Diese Vorgehensweise hat sich bis heute gehalten und wurde in gefährlicher Weise von den anderen Parteien, die gegenwärtig in der Politik Mexikos eine Rolle spielen, imitiert. Nicht selten auch haben die Mitglieder dieser Parteien ihre politische Karriere in den diversen politischen Organisationen begonnen, die zur PRI gehören. (vgl. zur PRI auch den Beitrag von Gerold Schmidt auf S. 22)

Was ist es, was wir MexikanerInnen hundert Jahre nach dem Revolutionär Madero feiern können? Welches politische, ökonomische oder soziale Erbe hat uns die mexikanische Revolution hinterlassen? Das was die gesamte Volkskultur durchtränkt, in der Helden, Banditen, Revolutionäre, Adelitas (weibliche Soldaten und Marketenderinnen), los de abajo (die von unten) nach einem Roman von Mariano Azuela, (vgl. Beitrag von Klaus Jetz auf S. 36), die Ausgegrenzten und die Wohlhabenden ein repräsentatives Bild zeichnen von den Wurzeln des mexikanischen Seins, der mexikanischen Identität von heute, den Bestrebungen eines Landes, das es nicht schaffen konnte zu „werden“. Und natürlich das andere Erbe der Oligarchie, die es trotz der Revolution geschafft hat, fortzubestehen. 

Man muss betonen, dass die gegenwärtigen Regierungen die ländlichen Gegenden vernachlässigen. Die große Mehrheit derer, die Mexiko verlassen, dem American Dream folgen und dabei häufig ihr Leben lassen, kommen aus genau diesen Gegenden, die sie auf Grund der dort herrschenden Lebensbedingungen verlassen mussten. Die wachsende Beteiligung junger Männer an den Geschäften der Drogenhändler lassen keine Zweifel daran, dass durch die Agrarprogramme der neoliberalen Regierungen Millionen in die Arbeitslosigkeit gezwungen wurden, die verzweifelt nach Beschäftigung suchen, sodass sie sogar illegale Jobs annehmen oder sich bei den Drogenbaronen verdingen.

Auch der neozapatistische rebellische Aufruf Ya Basta (Es reicht), der Ruf der wichtigsten antisystemischen Bewegung des 20. Jahrhunderts, lässt sich nicht verstehen ohne die soziale Ungerechtigkeit, die in Mexiko immer noch herrscht trotz der revolutionären Kämpfe zwischen 1910 und 1920. Die von den NeozapatistInnen initiierte „Andere Kampagne“ ist auch als eine Reflexion der politischen Krise in Mexiko zu sehen, nach den misslungenen Versuchen über das Parteiensystem zu einer demokratischen Partizipation zu gelangen.

Die Entwicklung innerhalb von Mexiko ist ungleich. Daher sind die aktuellen Forschungen im Bereich der Regionalgeschichte sehr wichtig für die wissenschaftliche Rekonstruktion des revolutionären Prozesses, in dem die Partizipation nicht homogen war und sich daher die Vielfalt und Unausgeglichenheit ihrer Konsequenzen erklären lässt.

Hundert Jahre nach dem Ausbruch der mexikanischen Revolution muss das Erbe dieser sozialen Kämpfe kritisch gesehen werden. Nur so kann neben der Geschichte der Caudillos und des Militärs auch die Geschichte der los de Abajo, derer von unten, zu Tage kommen, derer, die die „Masse“ bildeten, die Reformen unterstützten, die auf den Prinzipien „Land, Freiheit und Gerechtigkeit“ basierten und bis heute die Widersprüche des mexikanischen Staates deutlich machen.