Julio Antonio Mella wurde nur 26 Jahre alt. Dennoch war er eine herausragende Persönlichkeit der lateinamerikanischen Linken. Er prägte die cubanische Studentenbewegung zu Beginn der zwanziger Jahre, war 1925 Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Cubas (PCC), gehörte während seines Exils in Mexiko zur Führungsspitze der dortigen KP, agierte als eigenständiger Kopf in der internationalen kommunistischen Bewegung und geriet schließlich mit dieser in Konflikt. Um seine Ermordung in der Nacht vom 10. auf den 11. Januar 1929 in Mexiko-Stadt ranken sich bis heute Spekulationen: Wurde Mella von Agenten der in Cuba herrschenden Machado-Diktatur umgebracht oder war er – elf Jahre vor der Ermordung Trotzkis in Mexiko – Stalins erstes Opfer in Lateinamerika?
Mella war nicht nur einer der interessantesten politischen Köpfe seiner Zeit, sondern sah auch gut aus, verfügte über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und hatte Charisma, ähnelte also in seiner Ausstrahlung zweifellos dem Argentinier Ernesto „Che“ Guevara. Wie Che wurde auch Mella nach seinem Tod zum Mythos. In Cuba ist er bis heute eine revolutionäre Ikone, sein Konterfei ziert neben denen von Che und Camilo Cienfuegos das Logo des Kommunistischen Jugendverbandes UJC. Was Mella Ende der zwanziger Jahre in Mexiko plante, nämlich eine Guerillagruppe aufzubauen, um eine Landung in Cuba vorzubereiten und dort Machado bewaffnet zu bekämpfen, realisierten Castro und seine Compañeros drei Jahrzehnte später, nur dass der Diktator inzwischen Batista hieß. Entsprechend existieren in Cuba von Mella nur Heldenbiographien, ohne Brüche in seinem persönlichen und politischen Leben – und natürlich ohne Widersprüche zur Kommunistischen Partei Cubas. Christine Hatzky will mit ihrer Biographie Mellas Persönlichkeit und politischen Werdegang entmythologisieren: „Die ideologischen Deformierungen und Reduzierungen dieses ,nachträglich konstruierten, kohärenten Lebenslaufs’ durch die kubanische Politik machen es geradezu erforderlich, seine Lebensgeschichte neu zu erzählen.“. Dabei profitierte sie von einer deutlichen Verbesserung der Quellenlage in den vergangenen Jahren, vor allem hatte sie in Moskau Zugang zum Archiv der „Kommunistischen Internationale“ (Komintern).
Mella wurde am 25. März 1903 in La Habana als uneheliches Kind der Irin Cecilia Magdalena McPartland geboren. Sein Vater war der angesehene und wohlhabende Herrenschneider Don Nicamor Mella y Brea. Er stammte ursprünglich aus der Dominikanischen Republik und war der Sohn des Unabhängigkeitskämpfers General Ramón Matías Mella y Castillo. Das politische Engagement Julio Antonio Mellas begann 1922, als die cubanischen StudentInnen gegen die maroden Strukturen an der Uni protestierten. Mella, der über großes rhetorisches Geschick verfügte und als erfolgreicher Sportler an der Uni bekannt war, wurde bald der Sprecher der Bewegung und Vorsitzender der neu gegründeten Federación de los Estudiantes Universitarios (FEU). Anders als vielen ihrer MitstudentInnen, denen es vor allem um die Hebung des Ausbildungsniveaus ging, stellten die politisierten AktivistInnen um Mella bald auch weitergehende Forderungen auf. Ihnen ging es um die vollständige Souveränität Cubas und das Zurückdrängen des US-amerikanischen Einflusses. Dafür strebte Mella ein Bündnis mit außeruniversitären Gruppen an und suchte den engen Kontakt zur – damals mehrheitlich anarchysyndikalistischen – Gewerkschaftsbewegung. Einen prägenden Einfluss auf ihn übte der afrocubanische Gewerkschafter Alfredo López aus, der 1926 im Gefängnis ermordet wurde. Gegen Ende des Jahres 1923 gerieten die linken StudentInnen an der Uni zunehmend in die Defensive. Die meisten ihrer KommilitonInnen gaben sich mit einigen universitären Reformen zufrieden und wollten sich wieder dem Studium und ihrer Karriere widmen. Am 30. Dezember 1923 trat Mella von seinem Amt als FEU-Vorsitzender zurück. Er konzentrierte fortan seine politischen Aktivitäten auf die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und setzte sich mit marxistischer Theorie auseinander. Sein Lieblingsprojekt war die Universidad Popular José Martí, einer Abendschule mit Bildungsangeboten für ArbeiterInnen. Bildung sollte nicht länger ein Privileg der Eliten sein.
Im November 1924 wurde Gerardo Machado cubanischer Präsident. Seine Amtszeit war durch zunehmende Repression gegen die Arbeiterbewegung und andere soziale Organisationen geprägt. Diese traf auch die politischen Projekte, an denen Mella federführend beteiligt war, wie die Universidad Popular José Marti, die Liga Antiimperialista und die PCC. Im November 1925 wurden Mella und fünfzig weitere linke AktivistInnen verhaftet. Anfang Dezember trat der damals 22-Jährige im Knast in einen unbefristeten Hungerstreik. So etwas hatte es bis dahin in Cuba nicht gegeben. Die PCC war äußerst skeptisch und versuchte Mella von seinem Vorhaben abzubringen. Doch der ließ sich nicht beirren und binnen weniger Tage trat genau das ein, was er erreichen wollte: eine breite Solidarisierung mit seiner Person und seinem Anliegen. Ein Komitee Pro Libertad de Mella wurde gegründet, dessen Aktivitäten von linken SchülerInnen und StudentInnen getragen, das aber von zahlreichen bürgerlichen Intellektuellen unterstützt wurde. Auch die Presse ergriff Partei für Mella und in verschiedenen lateinamerikanischen Hauptstädten sowie in New York wurde für die Freilassung der Gefangenen demonstriert. Mellas Gesundheitszustand verschlechterte sich unterdessen täglich. Seinen Tod kurz vor Weihnachten wollte Machado dann doch nicht riskieren und so ordnete er am Abend des 23. Dezember Mellas Freilassung auf Kaution an. Seine Mitgefangenen blieben allerdings weiter in Haft.
Nach seiner Entlassung musste sich Mella in der Kommunistischen Partei rechtfertigen. Man warf ihm wegen des Hungerstreiks u. a. Disziplinbruch, Verweigerung des Gehorsams und Beziehungen zum Bürgertum vor. Es wurde ein parteiinternes Tribunal organisiert, das mit seinem Parteiausschluss endete. Am 18. Januar 1926 erhielt Mella eine erneute Vorladung von der Polizei. Es war klar, dass Machado nach seiner Niederlage in der Hungerstreik-Kraftprobe nicht klein beigeben würde. Da zu befürchten war, dass er wieder inhaftiert würde, floh Mella kurz vor dem Termin mit einem Bananenschiff nach Mexiko.
Trotz seines Ausschlusses aus der PCC nahmen ihn die mexikanischen Kommunisten sofort nach seiner Ankunft in ihre Partei auf. Seine Aktivitäten in den mexikanischen Exiljahren konzentrierten sich auf drei Schwerpunkte: Antiimperialistische Mobilisierungen gegen die Vorherrschaft der USA in Lateinamerika, wozu z.B. die Unterstützung Sandinos in Nicaragua gehörte, der Aufbau einer linken Gewerkschaftszentrale in Mexiko und die Organisierung eines Bündnisses cubanischer Exilierter gegen Machado mit dem Ziel, eine bewaffnete Gruppe für ein Landungsunternehmen in Cuba aufzustellen. In all diesen Projekten agierten die kommunistischen Organisationen widersprüchlich. Sandino wurde anfangs von der Kommunistischen Internationalen unterstützt, dann aber nach der Stalinisierung der Komintern fallen gelassen, weil er auf seiner Eigenständigkeit beharrte und auch mit bürgerlichen Bündnispartnern zusammen arbeitete.
Die Frage des Aufbaus einer linken Gewerkschaftszentrale war innerhalb der mexikanischen KP umstritten. Die Partei setzte lange auf die Arbeit innerhalb der offiziellen Gewerkschaftszentrale CROM, um ihre guten Beziehungen zur Regierung nicht zu gefährden. Gehörte Mella mit der Forderung des Aufbaus einer linken Gewerkschaft unter Mexikos Kommunisten lange zu den „Linken“, agierte er bzgl. Cuba als „Rechter“, da er, ähnlich wie Sandino, auch bürgerliche Oppositionelle für die von ihm initiierte Asociación de los Nuevos Emigrados Revolucionarios de Cuba (ANERC) integrierte und keine kommunistische Kontrolle der Organisation anstrebte. Neben diesen Initiativen und mehreren Reisen, die ihn u. a. nach Brüssel zum „Weltkongress gegen Imperialismus und koloniale Unterdrückung“, nach Moskau und nach New York führten, entfaltete Mella auch eine intensive publizistische Tätigkeit. Bedeutsam war seine Auseinandersetzung mit den Schriften José Martís, deren kritischen und antiimperialistischen Gehalt er herausarbeitete. Mella war auch der erste cubanische Marxist, der die Überwindung der rassistischen Diskriminierung der AfrocubanerInnen und der politischen und sozialen Benachteiligung der Frauen als eigenständige Ziele formulierte.
Am Abend des 10. Januar 1929 wurde Mella auf offener Straße niedergeschossen und erlag wenige Stunden später seinen Verletzungen. Obwohl der schwerverletzte Mella selbst noch das Machado-Regime für das Attentat verantwortlich machte, versuchten die mexikanische Regierung und ihre Medien, einen politischen Hintergrund des Mordes zu negieren und sprachen stattdessen von einem Verbrechen aus Leidenschaft. Mella war die letzten Monate seines Lebens mit der italienischen Fotografin und Kommunistin Tina Modotti zusammen. Die mexikanische Presse suchte Tina Modotti wegen einiger Aktfotos und ihrer verschiedenen Liebesbeziehungen als unmoralische Person und „femme fatale“ zu diffamieren, die die Männer zu Verzweiflungstaten treibe. Erst als bekannte Intellektuelle gegen die Schmutzkampagne protestierten, begannen Ermittlungen über mögliche politische Hintergründe des Mordes, die zunächst keine Ergebnisse brachten. Die Attentäter wurden erst zwei Jahre später aufgrund eines Hinweises festgenommen. Die Freundin von einem der beiden Mörder hatte ihn bei der Polizei angezeigt, weil er ihr gegenüber die Tat zugegeben hatte. Im Prozess gestanden die beiden Attentäter, von José Magriñat, einem Mitarbeiter des cubanischen Geheimdienstes in Mexiko, beauftragt und bezahlt worden zu sein.
Christine Hatzky untersucht auch die Hinweise auf eine Verwicklung stalinistischer Kreise in das Attentat. Diese seit den dreißiger Jahren immer wieder aufgestellten Thesen machten sich meistens ebenfalls an der Person Tina Modottis und ihrer Beziehung zu dem sowjetischen Agenten Vitorio Vidali fest. Vidali war zehn Jahre später an dem ersten – gescheiterten – Attentat auf Trotzki beteiligt. Nach Ansicht Hatzkys legt keiner der Autoren, die eine sowjetische Beteiligung an der Ermordung Mellas behaupten, dafür schlüssige Beweise vor: „Meine eigenen Recherchen im RGASPI (Archiv der Kommunistischen Internationale – G.E.) – zum Archiv des russischen Geheimdienstes hatte ich keinen Zugang – brachten keine weiteren Indizien für die Vermutung, dass Mella von seinen eigenen Genossen ermordet wurde. Ich gewann dort eher den Eindruck, dass Mella innerhalb der kommunistischen Strukturen zwar zunehmend unangenehm auffiel, aber keineswegs so bedeutend war, als dass man ihn hätte beseitigen müssen.“
Insgesamt ist Hatzkys Biographie ein hochinteressantes Buch. Weit über den hier skizzierten biographischen Rahmen hinaus erfährt man vieles über die cubanische und mexikanische Geschichte in den zwanziger Jahren, über die intellektuellen Strömungen Lateinamerikas in jener Zeit und über die Politik der Kommunistischen Internationale in Lateinamerika. Dazu schildert sie die Persönlichkeit Mellas, seine Selbstinszenierung, seine widersprüchlichen Beziehungen zu Frauen und seiner Familie. Obwohl das Buch einen akademischen Hintergrund hat – es ist aus Hatzkys Dissertationsschrift hervorgegangen –, ist es erfreulich gut lesbar. Bezüglich des formulierten Anspruchs der Autorin, Mella zu entmythologisieren, ist anzumerken, dass Mella ohne Heiligenschein keineswegs schlecht aussieht. Er war – vielleicht mehr als es seine offiziellen Biographen zu zeigen vermochten – eine faszinierende Persönlichkeit, ein kluger politischer Aktivist, ein kritischer politischer Denker und ein großer lateinamerikanischer Intellektueller.
Christine Hatzky: Julio Antonio Mella (1903-1929) – Eine Biografie, Vervuert Verlag, Frankfurt/M. 2004, 436 Seiten, 56 Euro