Auf einem beschaulichen Postschiff segelt Friedrich Engels entlang der Themse nach London, so „daß man von der Größe Englands staunt, noch ehe man englischen Boden betritt. Aber die Opfer, die alles das gekostet hat, entdeckt man erst später“. 1844 will der Fabrikantensohn aus Wuppertal „die Lage der arbeitenden Klasse in England“ studieren. „Der Rote Passagier“, wie ihn der Fotograf Allan Sekula[fn]Allan Sekula, Seemannsgarn (Fish Story). Düsseldorf 2002 (1995)[/fn] in seinem Katalogbuch „Fish Story“ nennt, tritt einen erschütternden Erkundungsmarsch quer durch die Slums des Industrieproletariats an. „Das war vor beinahe 50 Jahren, zur Zeit der malerischen Segelschiffe“, heißt es in der Neuauflage von 1892, „die Themse ist bedeckt von rußigen, häßlichen Dampfern.“
Das Schiff unter Segeln gab noch kein Bild ab für den frühen, vorindustriellen Kapitalismus. Vielfach von der holländischen Malerei in Szene gesetzt, scheint der schon zu Engels’ Zeiten brüchige Anachronismus bis heute bildmächtig. In Wirklichkeit hat die Globalisierung maritime Anfänge und schon das Segelschiff war gleichermaßen Fabrik wie Gefängnis. Engels’ „Zeit der malerischen Segelschiffe“ war längst zu Ende, die Seeleute zum Proletariat geformt und die Seefahrt als Maschinerie und Industrie etabliert. Schon von 1670 bis in die 1730er Jahre wandelte sich der Atlantik im Gefolge der bürgerlichen Revolution zur „Zone der Kapitalakkumulation“ und zum „Motor des Kapitalismus“, aber auch zur „Zone der Freiheit“ und zum „Schauplatz des Widerstands“, wie es Peter Linebaugh und Markus Rediker in ihrem grandiosen Buch „Die vielköpfige Hydra – Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks“ aufzeichnen. Das Marineschiff der damaligen Zeit war „eine Maschine, aus der es abgesehen von Desertation, Dienstunfähigkeit [Invalidität] oder Tod kein Entrinnen gab“. Viele Unterdrückte suchten sich aus dem oftmals tödlichen Gefängnis des befehligten Schiffs zu befreien und erklärten der (früh)kapitalistischen Welt den Krieg. Als Pirat auf dem Kaperschiff schien es um Sold und Verpflegung sowie Mitsprache besser gestellt.
Die Royal Navy war um 1690 der größte Arbeitgeber Englands: „Das Wesen dieser Arbeit und die Zusammenarbeit und Disziplin an Bord des Schiffes machten es zu einem Vorläufer der Fabrik.“ Damit einher ging die Gründung der Bank of England sowie zahlreicher Aktiengesellschaften, das Wachstum der Versicherungsgesellschaften oder des Zeitungswesens. Dampfbetriebene Maschinenkraft untergrub und fragmentierte die materielle Grundlage der proletarischen Hydra. Peter Linebaugh und Markus Rediker formulieren in ihrem Buch eine Globalgeschichte von unten, welche Revolten gegen Enteignungen, Aufstände gegen Versklavung und die Solidarität eines „buntscheckigen Haufens“ aus englischen Seeleuten und irischen Spaßmachern, Lumpenpredigern und radikalen Sektierern, genossenschaftlichen Piraten, geraubten Westafrikanern und karibischen Indios überzeugend montiert.
Mit den „globalen Meeresströmungen“ des Nordatlantiks stellten „Wanderarbeiter aller Art neue, überraschende Verbindungen her“ oder werden von den Autoren über Zeit- und Raumsprünge hinweg erstmalig in ein Verhältnis gesetzt. „Nichts kann die langen Wellen stoppen. Sichtbar werden sie erst am Ende der Reise, wenn sie sich erheben und brechen“, heißt es gleich zu Beginn, um am Ende in die „Battle of Seattle“ zu münden, welche 1999 das WTO-Treffen das Fürchten lehrte. Die dominante Geschichtsschreibung der „weißen, männlichen, ausgebildeten, lohnbeziehenden, nationalistischen, Eigentum besitzenden Handwerksbürger oder Industriearbeiter“, welche im Mittelpunkt der modernen Arbeitergeschichte stehen, haben die Historie des atlantischen Proletariats vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhunderts wie auch ihr weltumfassendes und mobiles Bewusstsein unsichtbar gemacht. Die Enteignung umfasste nicht nur ihre Ländereien oder die Arbeitskraft, sondern greift bis hin zu ihrer bezeugten Existenz.
Die in der Tradition von Edward P. Thompson stehenden Historiker unterlaufen die Zurichtungen nationaler, ethnischer und herrschaftlicher Geschichtsschreibung. Die „Macht der Menge“ trägt diese gewissermaßen „über die Grenzen des Nationalstaats hinaus“. Der so geschilderte „revolutionäre Atlantik“ wird der üblichen Historiografie aus Opfer- oder Siegergeschichte entrissen, bevor selbst nationalistische Arbeiterbewegungen, biologischer Rassismus oder das widerständig sich formulierende panafrikanische Bewusstsein eine noch heute wirkmächtige Spaltung entlang von race und class verfestigten. Man erkennt hier schon, dass die Kategorie gender in der Publikation eine schwache Rolle einnimmt.
Alles beginnt mit einem Schiffbruch im Bermuda-Dreieck: 1609 segelte die Sea-Venture nach Virginia, Englands erste Kolonie in Amerika. Doch ein Sturm brachte sie vom Kurs ab, sodass die Mannschaft sich im Angesicht des Todes kollektiv betrank und alle Klassenunterschiede vorübergehend eingeebnet wurden. Sie strandeten auf den Teufelsinseln der Bermudas – in Wirklichkeit ein karibisches Paradies auf Erden. Ohne große Anstrengung sorgten Wildschweine und Fische sowie außerehelicher Sex für ein süßes Leben, während im gelobten Land Virginia Schlangen, Leichen und der eigene Stiefel als Mahl gegen das Verhungern dienen sollten. Kein Wunder also, dass ein Teil der Mannschaft verschwand, um „wie die Wilden“ zu leben.
Hinter sich lassen die europäischen Meuterer eine längst verwüstete Heimat. „Landbeschlagnahme, Entwaldung, Rechtsvorschriften, kulturelle Unterdrückung und ständige Nahrungskrisen waren die Ursachen für die irische Diaspora und trieben Männer und Frauen in immer neuen Auswanderungswellen nach England oder Amerika.“ Eine halbe Millionen Iren starb zwischen 1641 und 1652 durch Schwert und Verbannung, Pest oder Hungersnot. Ein wachsendes System der Besserungsanstalten, von Gefängnissen, Galgen oder dem Galeerendienst als „Kombination aus Schmerz und Arbeit“ machten Druck gegen Vagabunden und „Herrenlose“. Die Nutzung des als gemeinschaftlich betrachteten Bodens, des common bzw. der Allmende als Basis für den common wealth war zunichte gemacht durch Einhegung und Privatisierung. Weiterhin enteignete man neben der Muskelkraft von Arbeitern und Bauern oder der „Reproduktionskraft“ von Prostituierten auch das Wissen der Handwerker. Die kunstvollen irischen Schmiede formten ihre eigenen Ketten und Fesseln sowie die Gitterstäbe, mit denen das geraubte Eigentum geschützt wurde.
In Putney – einer Überquerung der Themse im Westen von London – kamen die Kämpfe gegen den Angriff auf die Allmende zusammen. Die Reichtümer der Natur – ob Weideland, Bäume, Kies oder Fische – standen hier allen zu. Eine zentrale Rolle spielte Colonel Thomas Rainborough, Seefahrer und Militär, später im Zuge der Englischen Revolution an der Spitze der Levellers als „erster demokratischer Partei“. Entlang der Flüsse und über die Meere hinweg sprach sich Rainborough gegen die Ausbeutung der nach Nordafrika gebrachten gefangenen Europäer wie der in Afrika Geraubten aus. Sklaverei war noch nicht ethnisch konnotiert.
Zahlreiche Revolten erschütterten England, weshalb die Umstürzler durch neu geschaffene „Bettlergesetze“ in die Kolonien als „Gefängnisse ohne Mauern“ entfernt werden sollten. Den durch Enteignung, Verelendung und Kriminalisierung erzwungenen Exodus der Iren nach Übersee nennen die Autoren Green Atlantic in Anspielung an Paul Gilroys The Black Atlantic über den kolonialen Dreieckshandel von afrikanischen Sklaven, karibischen Plantagenwaren und europäischen Industrieprodukten. Wohl ein Sechstel der männlichen irischen Bevölkerung wurde nach der Eroberung 1649 auf Schiffe verschleppt und im Ausland verkauft. 1660 lebten 16 000 irische Arbeiter auf den westindischen Inseln der Karibik.
Die Vertreibung Abertausender verzahnte sich mit dem globalen Handel und der kolonialen Ausbeutung, wogegen sich Piraten an vorderster Front zur Wehr setzten. Deshalb ist es nicht nur romantisch, wenn sich heutige Verfechter des creative common in der Pirate Bay versammeln. Der common wealth als gemeiner Reichtum war noch nicht postkoloniales Empire, sondern bot sich den Meuterern der Karibik als tropische Allmende an. Indem sie ihre grenzenlosen commons wiederaufleben ließen, waren die neuen Wilden anschlussfähig mit dem „Commonismus“ der Neuen Welt.
Wer errichtete die Häfen, Schiffe und Plantagen als „Knotenpunkte des atlantischen Seenetzwerks“? Seit dem Auftakt des britischen Sklavenhandels 1563 bildeten Knechte, Mägde, Prostituierte oder Unterhalter mit den Proletariern auf See, den Versklavten unter Deck und auf den Plantagen sowie mit den Indigenen der Neuen Welt eine motley crew. So nannte Marx den „buntscheckigen Haufen“ des Lumpenproletariats. Als sich die Ausgestoßenen dann auch noch mit Versklavten und Ausgebeuteten in Übersee verbündeten, wurden diese „Schwärme untätiger Menschen“ (Richard Hakluyt) zu einer renitenten Multitude.
Was passiert an der Schnittstelle zwischen Ozean und Produktionsbetrieb, wo Hinterland und Wasserwege in den Häfen, seinen Docks und Kaschemmen zusammenkommen? Der Mob als Schnittmenge von entlaufenen Sklaven und revoltierenden Seeleuten sammelte sich in den Hafenstädten. Diese Haufen traten organisiert oder zumindest synchron auf. Der politische Philosoph, Anführer der American Revolution und spätere Politiker Samuel Adams Junior hatte diesen Haufen beobachtet und erarbeitete 1747 hieraus eine „Ideologie des Widerstands“. Er erkannte, dass der Mob die „grundlegenden Menschenrechte“ verkörpere.
Nach der amerikanischen Revolution von 1776 definierte die herrschende Klasse „Rasse“, „Nation“ und „Staatsbürgerschaft“ neu, um den „buntscheckigen Haufen“ zu disziplinieren und zu spalten. Die 1790er Jahre markieren auch den Einsatz der Maschinen in der Textil- und Plantagenindustrie. Die nun Verstreuten trugen jedoch die Geschichte ihrer Kämpfe weiter. Die Revolution auf Haiti 1791 als „erster erfolgreicher Arbeiterrevolte in der Geschichte der Neuzeit“ oder fünf Jahre zuvor die Gründung des freien schwarzen Staates Sierra Leone mit dessen klingender Hauptstadt Freetown als Ausgangspunkt für den modernen Panafrikanismus schufen neue Verhältnisse: befreit, jedoch gespalten.
Der Seemann ist, soweit Sprache in Frage kommt, nie verlegen. An welche Küste er auch geworfen werden mag, er kann sich zurechtfinden und kann sich verständlich machen“, heißt es etwa in B. Travens Buch „Das Totenschiff“. Das historische Überseeschiff war laut Linebaugh/Rediker nicht nur ein „interkontinentales Kommunikationsinstrument, sondern außerdem der erste Ort, an dem die arbeitende Bevölkerung dieser verschiedenen Kontinente miteinander kommunizierte“. Ebenso bildeten Häfen multilinguale Räume, wo die Sprachen des Atlantiks sich mischten und den Horizont erweiterten. Das Pidgin der Seeleute bediente sich des Seefahrerenglischs, des „Sabir“ des Mittelmeerraums, der Codes der Unterweltsprache sowie westafrikanischer grammatischer Konstruktionen. Es verknüpfte sich mit dem „Krio“ der afrikanischen Küste, mit dem Kamerun-Pidgin, dem jamaikanischen Kreole, dem Gullah und dem surinamesischen Sranan. Die Musikalität von Betonung und Tonhöhe verliehen der Sprache Ausdruckskraft.
Die laute Sprache der Ganoven unterschied sich vom vornehmen Zungenschlag der Zivilisation: „Unter der europäischen Sprache der Freiheit und Gleichheit verbargen sich Sklaverei und Tod“, wird ein Kommentar des afrikanisch-amerikanischen Theologen James H. Cone zu Frantz Fanon zitiert. Die See habe den Seemann „eine andere Sprache gelehrt … Er ist nicht imstande, leise zu sprechen, denn die See spricht so laut“, schrieb der Satiriker Richard Brathwaite 1631 über die „Hydrarchie“, welche Linebaugh und Rediker rückblickend als „Organisation des Seestaates von oben“ und zugleich als „Selbstorganisation der Seeleute von unten“ lesen. Als Regelwerk der Piraten fungierten „Artikel der Übereinkunft“: Sie sprachen Recht, teilten die Beute und entwickelten eine „alternative Form von Disziplin“ sowie eine antikapitalistische Gesellschaftsordnung, bei der zahlreiche Menschen mit afrikanischem Hintergrund selbstverständlich Aufnahme fanden.
Sobald sie ein Schiff aufbrachten, wurde dessen Mannschaft gefragt, wie der Kommandant sie behandelt hatte, um dementsprechend über ihn Gericht zu halten. Die Freibeuter wählten ihre Offiziere selbst, billigten ihnen allerdings nur beschränkte Herrschaft zu: „Sie erlauben ihm, Kapitän zu sein unter der Bedingung, dass sie Kapitän über ihn sein dürfen.“ Piraten eigneten sich das Produktionsmittel Schiff an und erklärten es zum Gemeinschaftseigentum derer, die darauf arbeiteten. Risiko wie Ertrag wurden weitgehend egalitär getragen: „Das Piratenschiff war demokratisch in einem undemokratischen Zeitalter.“
Die Freibeuter blieben lange einer der größten Gegner der imperialen Handelsmarine. Um 1720 war die Piraterie – vormals Schrecken des globalen Schiffsverkehrs – durch drastische Repressionen, Todesstrafen und Kampagnen im Niedergang begriffen. Unzählige Leichen baumelten demonstrativ lange an den Galgen der Hafenstädte. Vorerst war die Hydra geköpft, trat jedoch in Form von Streiks und Aufständen an andere Stelle zutage: „Es ist die störrische Schlange, die aus dem Schiffswrack kriecht“, beschrieb der antikoloniale Dichter Aimé Césaire die Zähigkeit der revolutionären Geschichte.
Peter Linebaugh/Marcus Rediker: Die vielköpfige Hydra – Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks. Aus dem Englischen von Sabine Bartel, Verlag Assoziation A, Hamburg 2009, 432 Seiten, 28,- Euro