Bereits einen Tag vor der offiziellen Bekanntgabe der Zahlen sprach Kirchner von der „besten Restrukturierung in der Weltgeschichte“. Tatsächlich beeindrucken die Daten auf den ersten Blick, besonders wenn man sie mit ähnlichen Fällen der letzten Jahre wie Russland oder Ecuador vergleicht. Die angenommene Umschuldung verkleinerte den Schuldenstand beträchtlich, verlängerte die Laufzeiten und senkte die Zinssätze. Der Schuldenstand sank von 191 Mio. US$ auf ca. 125 Mio. US$ und beläuft sich jetzt auf 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gegenüber 113 Prozent vorher. Außerdem kann Kirchner für sich verbuchen, dass nunmehr 49 Prozent der neuen Schuldtitel argentinischer Rechtsprechung unterliegen und dass der Anteil der Fremdwährungsverschuldung an der Gesamtverschuldung von ehedem 97 Prozent auf 63 Prozent gesunken ist – dank eines Anleihentyps, der um die Inflationsrate bereinigt wird. Das bedeutet, dass das Verhältnis der Fremdwährungsverschuldung zum BIP jetzt noch 45,5 Prozent beträgt. Damit befindet sich Argentinien schon deutlich näher an den in einer Studie des IWF als wachstumsneutral qualifizierten 35 bis 40 Prozent Fremdwährungsverschuldung zum BIP, wodurch eine solch instabile makroökonomische Situation wie Ende der 90er Jahre in Argentinien zumindest unwahrscheinlicher wird.
Nichtsdestotrotz lasten die 72 Prozent Gesamtverschuldung im Verhältnis zum BIP schwer auf dem Land – das ist mehr als Deutschland als entwickeltes Industrieland zu schultern hat und liegt deutlich über den von Experten für Schwellen- und Entwicklungsländer als nachhaltig bezeichneten 40 Prozent.
Die argentinische Börse hat die Umschuldung zunächst jedoch mit Euphorie und einem neuen Rekordhoch begrüßt. Das auch im vergangenen Jahr wieder über acht Prozent liegende Wirtschaftswachstum und das in diesen Tagen wieder erreichte Produktionsniveau des „besten“ Jahres Argentiniens 1998 scheinen das Land in Goldgräberstimmung zu versetzen. Dennoch muss man die staubige Welt der harten ökonomischen Fakten nicht verlassen, um ins Stutzen zu geraten. So beinhaltet beispielsweise der offizielle repayment schedule (Rückzahlungsfahrplan) für die umgeschuldeten Bonds einen über 20jährigen, mindestens dreiprozentigen Haushaltsüberschuss als conditio sine qua non zur Bedienung der Schulden. Ob dies überhaupt, aber insbesondere angesichts der grassierenden Armut in Argentinien plausibel ist, muss bezweifelt werden. Außerdem liest man in besagtem repayment schedule, dass der Wechselkurs in den kommenden sechs Jahren langsam aber stetig aufgewertet wird, bis er sich auf einen Kurs von 1,4 Peso zu 1 US$ einpendelt und dort verbleibt.
Dies widerspricht eklatant den Ankündigungen Kirchners und Lavagnas, wonach die Entwicklungsstrategie Argentiniens – in bester keynesianischer Tradition – als Eckpfeiler einen unterbewerteten Peso hat und haben wird. Tatsächlich interveniert die Zentralbank zurzeit massiv auf den Devisenmärkten, indem sie US-Dollar aufkauft und damit den Peso verbilligt. Denn schon jetzt führen massive Kapitalzuflüsse aus dem Ausland – insbesondere spekulativer Art – zu einem Aufwertungsdruck. Wenn nun aber die Währung tatsächlich wie immer wieder angekündigt unterbewertet bleiben sollte, ergeben sich Inkonsistenzen mit den Schuldendienstleistungen, wie sie im „Fahrplan“ dargelegt wurden, denn das Bedienen der in Devisen aufgenommenen Schuld würde dann bedeutend teurer und die Tragfähigkeit der Schuldenlast – zumindest den offiziellen Berechnungen folgend – in Frage gestellt.
Weitere unbestellte Äcker gibt es zuhauf: Weder wurde der Ursprung der Schulden während der Militärdiktatur einer Überprüfung unterzogen, wie dies Ende letzten Jahres einige Abgeordnete des argentinischen Parlaments gefordert hatten, noch wurden laufende Gerichtsverfahren gegen Funktionäre des Wirtschaftsministeriums unter der Ägide von Domingo Cavallo berücksichtigt, die darauf hinauslaufen könnten, dass einige der jetzt umgeschuldeten Anleihen nicht rechtskräftig zustande gekommen sind. Bezüglich der Legitimität der Auslandsschuld liegt seit dem Jahr 2000 ein Entscheid des obersten Gerichtshofes in der Sache Olmos vor, der das argentinische Parlament auffordert, sich alsbald mit dem Zustandekommen der argentinischen Auslandsschulden zwischen 1976 und 1983, einer 8000seitigen Rechtssache, auseinander zu setzen und eine politische Lösung zu finden – juristisch ist wegen der Verjährung nichts mehr zu machen. Das Gericht stellte in dieser Zeitspanne über 400 kriminelle Handlungen obers-ter Staatsdiener und Funktionäre fest und legte eine Ablehnung dieser Schulden als verabscheuenswürdig nahe (odious debts).
Solche Sorgen mussten allerdings bislang bei Kirchners halbherzigem Konfrontationskurs mit den „Krisengewinnlern“ und der argentinischen Oligarchie hintan stehen. Zunächst galt es das Land aus dem für diese Gruppen unhaltbaren default (Zahlungseinstellung) herauszuführen. Dabei ist Kirchners Rhetorik bemerkenswert und für europäische Verhältnisse undenkbar. Nicht nur nannte er viele Ökonomen und „neoliberale Gurus“ beim Namen, welche während der Umschuldung nicht müde wurden, eine substanzielle Verbesserung des Angebots für die Gläubiger zu fordern und den Teufel an die Wand zu malen für den Fall, dass dies nicht geschähe. Auch gipfelte die jüngst aufziehende Debatte um Inflation und ungerechtfertigte Preissteigerungen vor allem der Ölkonzerne im präsidialen Boykottaufruf gegen Shell, gegen „die schlimmste von allen“. Die Antwort des IWF kam prompt: Man solle in Argentinien doch bitte die Privatinitiative nicht behindern, überhaupt müsse Argentinien die fiskalische und monetäre Schraube anziehen, um die Inflation in den Griff zu bekommen – nichts Neues also von Seiten des IWF.
Tatsächlich wird in diesem Jahr die Inflation wohl kaum im einstelligen Bereich verbleiben. Die nur langsam an Fahrt gewinnenden Investitionen, der gestiegene Ölpreis und die Unterbewertungsstrategie bzw. die anschwellenden Kapitalzuflüsse führen zu sukzessive steigenden Preisen. Sorgen bereitet in diesem Zusammenhang die fast paradox anmutende Forderung des IWF, endlich den privatisierten Dienstleistungskonzernen zu erlauben, ihre Tarife drastisch zu erhöhen – geschähe dies, dann würde die Preisspirale womöglich wirklich angestoßen, denn teilweise bewegen sich die Forderungen nach Preissteigerungen für Basisdienstleistungen zwischen 20 und 40 Prozent. Da aber Argentinien in diesem Jahr gegenüber dem IWF und durch die nun wieder zu bedienende Schuld mehr an Schuldendienst aufzubringen haben wird als es an Einnahmen zur Verfügung hat, haben die Forderungen des IWF alles andere als einen anekdotischen Charakter. Vielmehr sind die wieder aufgenommenen Verhandlungen mit dem IWF entscheidend. Denn sollte der IWF hart bleiben – also Tariferhöhungen und andere ähnlich unzumutbare Forderungen aufstellen – und keiner Streckung seiner Verbindlichkeiten zustimmen, dann wäre Argentinien gezwungen, sich erneut auf den internationalen Kapitalmärkten zu verschulden. Tatsächlich ist im Haushaltsentwurf 2005 bereits vorgesehen, neue Anleihen zur Refinanzierung der alten Schulden auszugeben, Lavagna bestätigte kürzlich dieses Vorhaben. Mit den bekannten Risiken und Nebenwirkungen.
Neben der Forderung des Fonds, die Besitzer der Schuldtitel im Wert von ca. 25 Mrd. US-Dollar, die der Umschuldung nicht zugestimmt haben, mit einem neuen Angebot nachträglich ins Boot zu holen, stellen auch die im Wirtschaftsministerium existierenden Pläne für Kapitalverkehrskontrollen einen weiteren potenziellen Konfliktherd mit dem IWF dar. Auch wenn bislang noch keine offizielle Stellungnahme darüber vorliegt, so scheint es doch Bestrebungen zu geben, den momentanen Kapitalzufluss zu bremsen, um mehr Handlungsspielraum bei Wechselkurs, Zinsen und Inflation zu erzielen. An dieser Stelle erwähnenswert sind Pläne aus der Opposition, eine Tobinsteuer auf Devisentransaktionen einzuführen, welche als marktförmige Kapitalverkehrskontrolle fungieren könnte. Solcherlei Maßnahmen jedoch gehören seit Menschengedenken zu den größten Dornen im Auge des IWF und wären sicherlich Ziel erbitterter Attacken des Fonds.
Dennoch hat Kirchner Grund, optimistisch in diese neue Verhandlungsrunde zu gehen. Durch die breite Zustimmung zur Umschuldung, den starken Rückhalt, den er in der argentinischen Bevölkerung genießt, die Abwesenheit des IWF während des tiefen Falls Argentiniens und die teilweise eingestandenen Fehler desselben sehen viele BeobachterInnen Argentinien in einer Position relativer Stärke gegenüber dem Fonds. Ob Kirchner jedoch in letzter Konsequenz bereit sein wird, dem Fonds die Stirn zu bieten und für den Fall inakzeptabler Bedingungen die Rückzahlungen an diesen einzustellen, muss als unbeantwortet gelten. Jedenfalls darf die gemeinsame Erklärung Lulas (Brasilien), Chavéz’ (Venezuela) und Kirchners anlässlich des Wahlgewinns des linksorientierten Tabaré in Uruguay, künftig die Positionen gegenüber dem IWF abzustimmen, als ein Warnsignal an die Adresse des Fonds verstanden werden. Der Umschuldungskrimi Argentiniens kann auch insgesamt als Wendepunkt in den internationalen Finanzbeziehungen gewertet werden: Viele andere Länder, die sich in ähnlich dramatischen Verschuldungssituationen wie Argentinien befinden, werden sich in Zukunft gut überlegen, ob sie den Empfehlungen des Fonds, der G7/G8 und anderer Vertreter von Gläubigerinteressen ohne Rücksicht auf die Zahlungsfähigkeit des Landes nachgeben werden. Auch wenn Argentiniens Zukunft sicher nicht rosig scheint, sondern die eingegangenen Verpflichtungen hart an der Grenze des ökonomisch Tragbaren liegen und weit über die Grenze des sozial Verantwortbaren hinausgehen, so gibt es doch seit langem erstmals wieder einen Funken Hoffnung im Land.
Ob Kirchner die offenen Probleme dieses Landes – wie die extrem ungleiche Einkommensverteilung, eine Armutsquote von 40,2 Prozent, Arbeitslosigkeit von über 17 Prozent, Schwarzarbeit in geschätzten 48 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse und im wahrsten Sinne des Wortes Hungerlöhne sowohl in Schwarz- wie legaler Arbeit – zu lösen imstande ist, wird nicht zuletzt von den kommenden Wahlen und den daraus resultierenden Machtverhältnissen abhängen. Das Parteiensystem ist noch immer von der Krise 2001 zerrüttet und alles andere als konsolidiert. Bislang ist es für Kirchner schwierig, auf stabile Mehrheiten zu setzen.