Die Argentinier haben ihren Geschmack geändert“, sagt Osvaldo Pierella. „Heute mögen sie lieber Rindfleisch aus Feedlots. Das ist fettiger, süßer, schmeckt ein bisschen nach Schweinefleisch.“ Wir sitzen im größten Restaurant von Chañar Ladeado mitten in der argentinischen Feuchtpampa und stochern auf unseren Tellern herum. Auf saftige Steaks von freilaufenden Kühen hatten wir uns gefreut – aber das hier?
Den Grund für diesen, wie unsere Zungen befanden, un-argentinischen Rindfleischgeschmack hatten wir am Morgen gesehen. Die Pierellas hatten uns ihren „Sprung in die Landwirtschaft der Zukunft“ vorgeführt: Viel Soja für den Export, etwas Soja, Weizen und Mais für das eigene Futter und massenhaft Kühe. Daniel aus der dritten Generation der Pierella’schen Landwirtschaft zeigt uns den Betrieb zunächst anhand einer Power-Point-Show – einer Propaganda-Diaserie des Sojaverbands, die dessen Mitglieder mit eigenen Daten vervollständigen können. Dann steigen wir ins Auto und fahren ins vier Kilometer entfernte Caferatta, vorbei an Pierella-Feldern zum Mega-Futtervorbereitungssilo, wo ein Arbeiter am Mischcomputer die Tagesration für die Rinder eintippt und überwacht. Näher erläutern will er uns die Rezeptur nicht, sein Chef ist in Hörweite. Schließlich machen wir uns auf zur Besichtigung des Feedlot. 3260 Rinder stehen auf engstem Raum im Matsch, kein Halm auf dem Boden. Aus meterlangen Trögen stammen die sechs bis sieben Kilo Futter, die sie täglich fressen. Dabei nehmen sie jeden Tag ein gutes Kilo zu. Mit 120-140 Kilo kommen sie hierher, nach drei bis fünf Monaten werden sie mit 330 bis 350 Kilo an den Schlachthof verkauft. Krankheiten? Alberto Pierella schüttelt den Kopf: „Nichts Ernsthaftes bisher.“ Und wechselt das Thema. Ohne reichlich Chemie im Futter würden die Tiere hier nicht ein Vierteljahr oder mehr in ihren eigenen Ausscheidungen stehend überstehen.
Die Pierellas sind stolz auf ihren Familienbetrieb in der dritten Generation. Das ist nur bei vier Prozent der Betriebe in Argentinien der Fall. Die meisten geben vorher auf, verkaufen oder verpachten bei den hohen Hektarpreisen derzeit oder sie werden vertrieben, wie wir später aus anderem Munde hören werden. Der inzwischen verstorbene José begann 1974 mit 400 Hektar, die Söhne studierten Landwirtschaft, Buchhaltung und Tiermedizin, die Enkel ebenfalls. 12 Mitglieder der Familie Pierella verdienen sich heute ihren Lebensunterhalt auf dem Hof, dazu kommen sechs Arbeiter. Macht ganze 18 Arbeitsplätze für 1500 Hektar eigenen und 1200 Hektar gepachteten Boden, abgesehen vom Feedlot. Was gibt es in dem 5000-Einwohnerort Chañar Ladeado sonst für Arbeitsplätze? Die Pierellas drucksen herum. Chañar Ladeado, gut 150 km von der Hafenstadt Rosario mitten in den fruchtbaren Böden der Pampa gelegen, war Zentrum der argentinischen Schweineproduktion, bevor Präsident Menem in den 90er Jahren die neoliberalen Rezepte des Internationalen Währungsfonds umsetzte. Der Kahlschlag betraf auch die Landwirtschaft. Das Institut für Preiskontrolle wurde geschlossen; offene Grenzen für billiges Schweinefleisch aus Brasilien machten den einheimischen Produzenten den Garaus; dem Agrarforschungsinstitut INTA wurden die Gelder gestrichen – Monsanto und Co. übernahmen praktisch die Forschung und krempelten die argentinische Landwirtschaft gründlich um.
Seit dem 19. Jahrhundert war die Pampa Ort extensiver Viehwirtschaft gewesen. Hinzu kam Mais-, Weizen- und Sonnenblumenanbau. Anfang der 90er Jahre begannen Landwirte, auf Soja umzusatteln, ermutigt nicht zuletzt durch ausländische Futtermittelnachfrage. Soja ist zudem viel pflegeleichter als Mais, der dahin ist, wenn es in der zweiwöchigen Blütezeit nicht regnet. Mitte der 90er Jahre machte die Sojaproduktion einen gewaltigen Sprung nach vorn. Monsanto brachte das Herbizid Glyphosat als Roundup zusammen mit Gensoja auf den Markt.
Heute sind die Weiden aus der Feuchtpampa weitgehend verschwunden, stattdessen Sojafelder soweit das Auge reicht. Eine Landwirtschaft ohne Landwirte: Die Zahl der Sojaproduzenten ist auf etwa ein Drittel geschrumpft, davon gehören 200-300 zu den ganz großen mit (manchmal weit) mehr als 100 000 Hektar Land – zumeist Kapitalgesellschaften, Banken, Fonds. Auch immer mehr ausländische Investoren steigen ein – 13 Millionen Hektar sind bereits an nichtargentinische Kapitalanleger verkauft –, bei Salta etwa ging eine Million Hektar an Chinesen und bei den Börsennachrichten vor der Tagesschau empfehlen die stets gut gelaunten SprecherInnen neuerdings häufiger lohnende Geldanlagen in der Agrarproduktion. Der rasante Preisanstieg führt zu Besitzkonzentration. Noch vor wenigen Jahren kostete ein Hektar Land hier 2000 Dollar. Inzwischen sind es 24 000 Dollar. Das heizt die Spekulation an. Man steigt vor der Ernte in einen Pool ein, der pachtet und zieht nach der Ernte die Rendite ab.
Nun sind die ArgentinierInnen keineswegs VegetarierInnen geworden. Sie essen weiterhin am liebsten viel und gutes Rindfleisch, das immer billig war. Aber der Sojaboom und zuletzt die Dürre von 2008/2009 hat die Rinderherden um zehn Millionen Rinder verkleinert. Was tun, wenn die Rinderweiden zunehmend an die Ränder der Pampa, immer weiter weg von den bevölkerungsreichen Metropolen Buenos Aires und Rosario gedrängt werden? Vierzig Prozent der ArgentinierInnen, 17 Millionen Menschen, sagt man, leben in hundert Kilometer Umkreis vom Obelisken, dem Wahrzeichen von Buenos Aires. 80 Prozent der Lebensmittelproduktion kommt aus der Pampa, der Ebene zwischen der Hauptstadt und den Anden. Die Lösung sind Feedlots, deren Fleisch die ArgentinierInnen nicht wirklich lieber mögen. Aber in Buenos Aires ist kaum anderes mehr zu haben und es ist bezahlbar, dank (inzwischen eingestellter) Anschubförderung der Kirchners.
Noch vor wenigen Jahren stammten fünf Prozent der geschlachteten Rinder aus Feedlots, heute ist es beinahe die Hälfte. Der Gesamtbestand an Rindern liegt nach zeitweiligem Rückgang wieder bei 50 Millionen wie vor acht Jahren – in Brasilien ist der Bestand im gleichen Zeitraum um das Achtfache gestiegen. Die Feedlot-Tiere sind kleiner als das sogenannte Hilton-Beef, das als quotiertes Rindfleisch der Spitzenklasse als einziges in die EU eingeführt werden darf. Es kommt aus verbliebenen Enklavenweiden im Reich der Soja. Da die nicht verschwundene Viehwirtschaft mehrheitlich in den heißeren Norden gedrängt wird, werden neue widerstandsfähige Rindersorten für subtropische Gebiete gezüchtet. Was die Umwandlung von Wald in Weiden für bestehende Biotope und das Klima bedeuten wird, lässt sich unschwer erahnen.
Ob Martin Häusling als Europaabgeordneter nicht dafür sorgen könne, dass die Hilton-Quote auf Feedlot-Fleisch ausgedehnt werden könne, fragt Osvaldo Pierella am Ende des Mittagessens. Die Antwort kann er nicht begreifen: „Wenn die EuropäerInnen auch nur wüssten, unter welchen Bedingen hier das hoch geschätzte argentinische Beef hergestellt wird, wäre es aus mit dem guten Ruf; die Verkaufszahlen gingen in den Keller.“ Auch einen anderen Einwand kann er nicht nachvollziehen: „Wir haben unsere Viehfutterproduktion ausgelagert. Sie machen mit Ihrem Sojaanbau Ihre besten Böden kaputt. Das ist in keiner Weise nachhaltig und muss sich ändern. Wir müssen unsere Futtermittel wieder selber produzieren.“ Niemand in der Familie Pierella sieht das so. Sie haben den Quantensprung in die Gensoja-Ära geschafft.
Das Zauberwort für den schnellen Gewinn heißt „Direktsaat“. Vom Sojaverband Acsoja und seinen Mitgliedsorganisationen propagiert, wird ehemaliges Weideland unmittelbar und ohne Umpflügen in Sojaäcker überführt. Jede neue Aussaat erfolgt ohne Öffnen der Erdnarbe direkt auf die letzte Ernte, über den Strohresten. So würde Erosion verhindert. Doch das geht nur mit erheblichem Pestizideinsatz, Düngemitteln und Gentechnik. Die Versteppung der Böden ist vorprogrammiert. Eine Zeitbombe, die die Mehrheit der argentinischen SojaproduzentInnen heute für der Weisheit letzten Schluss hält. Denn diese Technik habe das Land an die Weltspitze der SojaproduzentInnen katapultiert. „Obwohl Argentinien ein Entwicklungsland ist, hat es die weltweit avancierteste Präzisionslandwirtschaft“, schwärmt Lucrecia Santinoni, Staatssekretärin im Agrarministerium. Via Satellit werden Äcker auf 20×20 qm-Flächen gerastert, um die optimale maschinelle Aussaat- und Pestizidmenge vorzuprogrammieren.
Die Gesamtgetreideernte betrug 2010 100 Millionen Tonnen Getreide, davon gut die Hälfte Soja, das weitaus meiste davon wird exportiert. „Auf 32 Millionen Hektar wird heute Soja angebaut. Und es besteht ein Potenzial für weitere zehn Millionen Hektar“, sagt Miguel Calvo, Präsident von Acsoja. Mit neuen Sojasorten, die etwa auch in Patagonien gedeihen, sollen die Ernten demnächst auf 150 Millionen Tonnen steigen. „Wir sind der dynamischste Wirtschaftszweig Argentiniens.“ Das ist nicht hochgestapelt. Mitglieder bei Acsoja sind ProduzentInnen, Börsen, Banken bis hin zu Universitäten und Forschungsinstituten. Ein ökonomisch-ideologischer Zweckverband, der Gegenmeinungen unterdrückt. Wer behauptet, dass Glyphosat und Gensoja schädlich seien, kommt einem Hochverrat nahe. So wurde ein Veranstaltung des Leiters des Laboratoriums für molekulare Embryologie der Universität Buenos Aires UBA, Andrés Carrasco, in La Leonesa im Norden Argeniniens im August letzten Jahres gewalttätig gestört. Universitäten weigern sich, seine und die Forschungsarbeiten des Agrarwissenschaftlers Walter Pengues zu publizieren.
Acsoja-Präsident Miguel Calvo winkt ab. Niemand könne ernsthaft beweisen, dass Glyphosat und Gensoja schädlich seien. Sein Verband hat seinen Sitz strategisch günstig in Rosario. Die am Paraná-Fluss gelegene drittgrößte Stadt Argentiniens ist das wirtschaftliche Zentrum der Sojaproduktion. Hafenpromenaden, Restaurants, Flaniermeilen, die Stadt ist sichtlich reich geworden. Im Umkreis liegen etliche der in den 90er Jahren unter Menem privatisierten Häfen, aus denen Soja aus Argentinien, aber auch aus Brasilien und Paraguay, direkt nach Europa verschifft wird, 80 Prozent als Sojamehl, 18 Prozent als Öl.
Eine weitere Variante, halb für den Binnenmarkt, halb für en Export, ist neuerdings Sojasprit. Seitdem Argentinien bei Benzin eine Beimischung von sieben und demnächst zehn Prozent Agrosprit verlangt, hat sich ein weiterer lukrativer Verwendungszweck für Soja aufgetan. Raul Bernardi, Geschäftsführer bei Unitecbio, einer Sojaspritanlage im Besitz des Großunternehmers Eduardo Eurnekian, führt uns durch den Betrieb bei Rosario, mit Direktanschluss an einen Privathafen. 240 000 Tonnen Sojasprit werden hier pro Jahr hergestellt, ein zweiter Betrieb soll Ende 2011 eröffnet werden. Sojasprit sei Übergangstechnologie, meint Raul Bernardi. Eurnekian, der der Nachwelt etwas Nützliches hinterlassen wolle, experimentiere schon mit Algen. Da der Sojaanbau immer weiter in vormalige Waldgebiete eindringe, gäbe es sicher Schwierigkeiten, die Nachhaltigkeitsauflagen der EU zu erfüllen, wenden wir ein. „Kein Problem“, lacht Bernardi: „Für die EU nehmen wir Soja aus unbedenklichen Anbaugebieten, für Argentinien oder China das andere.“
Agroexportindustrie mit immer kürzeren Profitzyklen erdrückt in Argentinien alle anderen Produktionsformen. „Die Kirchners“, beklagt Umberto Fuerte von der oppositionellen UCR-Partei, „haben insofern die Politik Menems fortgesetzt. Menem sagte in den 90er Jahren voraus, 200 000 Bauern müssten verschwinden, um sein Fortschrittsmodell durchzusetzen. 120 000 mussten tatsächlich während seiner neoliberalen Amtszeit aufgeben. Unter den Kirchners waren es weitere 60 000. Noch 20 000, dann ist Menems Prophezeiung erfüllt.“
Die Landwirtschaftspolitik der Kirchners ist widersprüchlich. Ihr Versuch, Exportsteuern für Getreide durchzusetzen, um das Land am bis dato ungebremsten Profitabfluss der Agroindustrie zu beteiligen, scheiterte weitgehend am Widerstand der Großagrarierlobby und wurde auf die – weiterhin bekämpfte – Exportrechtevergabe (ROE) eingedampft. 2008, auf dem Höhepunkt der Rebellion der Großagrarier, gingen auch die Kleinbauern gegen die Steuern auf die Straße, ohne zu merken, dass sie lediglich willige Handlanger für die Interessen der Großen waren. Inzwischen haben verschiedene Kleinbauern die Allianz aufgekündigt, wehren sich gegen Landgrabbing, das sie vom Land vertreibt, und schwenken in Maßen auf ein Familienlandwirtschaftsmodell um, das nachhaltigen Kriterien entspricht. Das wiederum hatte für Néstor und inzwischen Cristina Kirchner keine Priorität.
Während sich im Agrarministerium FreundInnen von Acsoja tummeln und Pläne für eine biologische Landwirtschaft in Schubläden versauern, tut sich in den Technologieinstituten INTI und INTA (speziell für Landwirtschaft) einiges. MitarbeiterInnen haben erkannt, dass das Sojamodell allein keine Zukunft hat. Sie entwickeln Programme, um die Menschen an das Land zu binden. „Argentinien produziert Agrarprodukte für das Sechsfache der eigenen Bevölkerung, aber keine Arbeitsplätze. Der schnelle Reichtum mit Exportsoja für europäische Kühe verführt, aber macht das Land kaputt. Mit angepasster Technologie und Biosorten können Bauern ohne großes Kapital in Würde leben“, sagt Julio Catullo vom INTA. Das gentechnikfreie Programm pro huerta (für den Gemüsegarten) bezieht drei Millionen Menschen ein, 70 Prozent davon in Stadtnähe. Das INTI baut Kühlhäuser im wenig industrialisierten Norden für den internen Markt, um die Produktionsketten zu verkürzen. Oder baut kleine Landmaschinen, weil John Deere und andere nur Megamaschinen für die Agroindustrie bauen. Oder setzt sich für Schlachthöfe ein, die auch Ziegen schlachten, um deren Konsum wiederzubeleben. „Patente gibt es bei uns nicht“, sagt Graciela Muset vom INTI. „Wir kümmern uns um Wissensvermittlung für die öffentliche Aneignung.“
Walter Pengue, Wissenschaftler an der Universidad General Sarmiento in der Provinz Buenos Aires, hält viel von diesem Ansatz. „Erst einmal müssen die Leute hier gut leben.“ Gute Nahrungsmittel? 95 Prozent der Biolebensmittel gehen in den Export, 60 Prozent davon nach Europa. „Die Bio-Fraktion stellt das Agroexportmodell nicht in Frage. Ihnen reicht es, wenn die Regierung ihre Produkte für den Export zertifiziert. Egal ob hier die Leute hungern“, empört sich Walter Pengue. In argentinischen Supermärkten gibt es so gut wie keine Bioware. ProduzentInnen denken in Containern, nicht in Kisten. „Aber warum sollen Tomaten 12 000 km weit reisen“, fragt Walter Pengue. Die Universidad Nacional General Sarmiento liegt in einem ärmeren Viertel. Auf dem Campus gibt es Wochenmärkte, die die Leute einbinden. Daher zieht Pengue auch den die soziale Komponente einbeziehenden Begriff „agroökologisch“ dem Wort „biologisch“ vor. „Es gibt hier Landkämpfe die tödlich ausgehen, aber davon redet keiner, denn, wie man so schön sagt: ‚Argentinien ist groß und Gott bedient nur Buenos Aires’“, sagt Walter Pengue. „Erst müssen die Grundbedürfnisse befriedigt werden, dann kann man an Handel über den Ozean hinweg denken.“
Nach der seit kurzem geführten Debatte über Agrosprit, der die Nahrungsmittelproduktion verdrängt, ist es dringend an der Zeit, eine Debatte über Futtermittel für europäische Rinder, Schweine und Hühner zu führen, die den gleichen „Nebeneffekt“ haben.