Ringen um Identität

Schätzungsweise 500 Kinder wurden während der letzten Militärdiktatur in Argentinien (1976-83) geraubt. Die Väter und Mütter dieser Kinder sind „verschwunden“, das heißt, sie wurden von den Militärs entführt, gefoltert und ermordet. Teilweise wurden Babys und Kleinstkinder mit ihren Müttern verschleppt, teilweise gebaren die schwangeren Frauen sie in den geheimen Gefängnissen der Diktatur. Während die Mütter danach fast immer umgebracht wurden, übergaben die Täter die Säuglinge an meist kinderlose Paare – häufig aus dem Umfeld des Militärs und der Polizei.

Die argentinische Journalistin Analía Argento hat sich zwischen 2006 und 2008 mit mehreren dieser zwischen 1975 und 1980 geborenen Frauen und Männer getroffen und ihre Geschichten aufgezeichnet. Daraus entstand das Buch „Paula, du bist Laura!“, das 2008 in Argentinien und 2010 auf Deutsch erschienen ist. Im Mittelpunkt der acht Portraits steht die Frage, was die Nachricht, Kind von Verschwundenen zu sein, für das Leben dieser Menschen bedeutet hat.

Durch das Engagement der Angehörigen, vor allem der 1977 gegründeten „Großmütter der Plaza de Mayo“, und später auch der argentinischer Justiz gelang es inzwischen, etwa 100 der geraubten Kinder zu finden und durch DNA-Tests ihre wirkliche Identität festzustellen. Das klingt gut, bedeutete aber für die Betroffenen in vielen Fällen eine dramatische Lebenskrise. Da die Übergabe der geraubten Kinder an die neuen „Eltern“ (die Autorin benutzt im Buch immer Anführungszeichen, wenn von den Personen gesprochen wird, die sich die Kinder aneigneten) natürlich nicht in regulären Adoptionsverfahren vonstatten ging, sondern in der Regel über gefälschte Geburtsurkunden lief, untersuchten die Großmütter und die Justiz die Geburtsregister der Orte, wo es geheime Gefängnisse gab. 

Wenn Einträge aus der Zeit der Diktatur „verdächtig“ waren, etwa die Unterschrift bestimmter Ärzte, Hebammen oder Standesbeamten trugen, die im Dienst der Militärs standen, wurde die Justiz aktiv. Denn die „Eltern“ hatten sich strafbar gemacht, weil sie sich Kinder ohne die Zustimmung von deren wirklicher Eltern angeeignet hatten. Die Polizei tauchte dann bei den „Eltern“ auf, es gab Hausdurchsuchungen und wenn schwerwiegende Beweise vorlagen, wurden sie festgenommen. Ihre vermeintlichen Kinder wurden zu Gentests aufgefordert, um ihr Erbgut mit dem von Verschwundenen in einer speziell dafür eingerichteten Datenbank abzugleichen.

Für die meisten der im Buch portraitierten Frauen und Männer war das ein Schock, waren sie doch bis dahin davon ausgegangen, dass ihre „Mütter“ und „Väter“ ihre wirkliche Eltern waren. Fast alle reagierten mit Wut, doch die richtete sich nicht unbedingt gegen die „Eltern“, sondern oft auch gegen die Justiz oder die Angehörigenverbände, weil diese plötzlich in ihr Leben eingedrungen wären und alles infrage stellten.

Ein besonderes Problem bedeutete der geforderte Gentest, denn er würde möglicherweise nicht nur Klarheit über ihre wahre Identität bringen, sondern auch ihre „Eltern“ der Kindesenteignung überführen, womit denen langjährige Haftstrafen drohten. Das bedeutete für fast alle einen schweren Konflikt, denn keineR wollte mit den bisherigen „Müttern“ und „Vätern“ brechen. Das ging selbst Analía – heute trägt sie längst wieder ihren richtigen Namen Victoria – so, die, ohne etwas von ihrem eigenen Hintergrund zu ahnen, in der Linken und der Menschenrechtsarbeit aktiv war. Doch Analía und einige andere machten den Gentest, während sich andere dagegen wehrten. Evelin etwa ging mit allen juristischen Mitteln dagegen vor und erreichte letztinstanzlich, dass sie keinen Bluttest machen musste. Daraufhin ordnete der ermittelnde Richter an, persönliche Dinge wie Zahnbürste und Wäschestücke für einen DNA-Test zu beschlagnahmen. So wurde schließlich nachgewiesen, dass sie Kind von Verschwundenen war.

Nur wenigen der im Buch portraitierten Menschen blieb der Konflikt um die Belastung ihrer „Eltern“ erspart: Vermutlich weil sie keine Babys mehr waren, wurden ein Geschwisterpaar und ein Mädchen von den Militärs vor Krankenhäusern ausgesetzt und danach regulär adoptiert bzw. vermeintlichen Verwandten übergeben.

Letztlich blieb Evelin die Einzige, die weder ihren richtigen Namen annehmen wollte, noch Kontakt zu ihrer Familie wünschte. Die Anderen suchen die Annäherung, auch wenn es für alle ein langwieriger und schwieriger Prozess war, Beziehungen zu den lange unbekannten Verwandten aufzubauen. Bis auf Evelin sind die portraitierten Frauen und Männer rückblickend der Meinung, dass es richtig und wichtig war, die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren zu haben, trotz des sehr schmerzhafter Prozesses, den das bedeutete.

Es gibt bereits eine ganze Reihe – teilweise sehr guter – Bücher und Filme, die das Phänomen der geraubten Kinder aus Sicht der sie suchenden Angehörigen oder auch der „Adoptiveltern“ darstellen. Analía Argento hat in ihrem Buch die bisherige Blickrichtung umgedreht und die subjektive Sichtweise der damaligen Kinder und ihre Probleme und Nöte in den Mittelpunkt gestellt. Dies war notwendig und überfällig. „Paula, du bist Laura!“ ist ein ebenso bedrückendes wie eindrucksvolles Buch darüber, was der Staatsterror mit Menschen anstellt und welche Dramen und Krisen sich für die Opfer auch nach Jahrzehnten noch abspielen. Dies blamiert alle, die so gerne argumentieren, irgendwann müsse doch einmal Schluss mit den alten Geschichten sein.

Analía Argento: Paula, du bist Laura!, Übersetzung: Studierende der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz unter Leitung von Verónica Abrego und Eva Katrin Müller, Christoph Links Verlag, Berlin 2010, 244 S., 19,90 Euro