Ronaldo Wrobel – Luis Krausz – Moacyr Scliar

Zunächst soll geschmunzelt werden. In seinem Roman „Hannahs Briefe“ erzählt Ronaldo Wrobel mit großer Leichtigkeit und viel Humor die Geschichte des aus Polen nach Brasilien eingewanderten Schuhmachers Max Kutner und seiner leidenschaftlichen, aber unerfüllten Liebe zu Hannah. Der politisch völlig unauffällige Max, der seit einem Jahrzehnt als Schuster in Rio lebt, wird eines Tages – Mitte der dreißiger Jahre – von der Geheimpolizei vorgeladen. Dort erklärt man ihm, er habe fortan für diese Behörde zu arbeiten, Brasilien müsse die kommunistische Bedrohung bekämpfen. Dazu gehöre auch die Kontrolle des Postverkehrs. Da es auch in der jüdischen Gemeinschaft subversive Elemente gebe, habe Max Kutner künftig zweimal wöchentlich bei der Polizei zu erscheinen und jiddischsprachige Korrespondenz zu übersetzen. 

Der Übersetzerjob verändert schnell sein bis dahin beschauliches Leben. Nicht nur, dass er nach kurzer Zeit quasi Doppelagent ist, denn eine linksjüdische Gruppe macht ihm unmissverständlich klar, dass er bestimmte Briefe so zu übersetzen habe, wie sie es ihm vorgibt. Dazu verliebt sich der eingefleischte Junggeselle auch noch – in eine Briefschreiberin. Die – wie es aussieht – fromme und ehrbare Jüdin Hannah aus Rio de Janeiro schreibt sich regelmäßig mit ihrer Schwester Guita in Buenos Aires. Die Briefe, ihr poetischer Stil und ihr leicht melancholischer Grundton faszinieren Max Kutner. Eines Tages erkennt er ihre Schrift auf einem Reparaturauftrag seines Schusterladens wieder. Als Hannah wenige Tage später die Schuhe abholen kommt, steigert sich seine Faszination zur Verehrung. 

Max verliebt sich hoffnungslos in die ungemein attraktive und selbstsichere Frau. Er folgt ihr heimlich und beobachtet sie. Doch ihr wirkliches Leben unterscheidet sich stark von dem, was sie in den Briefen an ihre Schwester berichtet. Als er sie schließlich unter einem Vorwand in ihrer Wohnung aufsucht, stellt er fest, dass sie als Prostituierte arbeitet. Und der Kunde, der gerade bei ihr ist, stellt sich als Max’ Führungsoffizier bei der Geheimpolizei heraus. Doch seine Desillusionierung und seine Entscheidung, sich Hannah aus dem Kopf zu schlagen, halten nicht lange – zu stark ist die Anziehung, die sie auf ihn ausübt. Nach und nach erfährt er durch eigene Beobachtungen oder über Hannahs Freundin Fany, die sich ihrerseits unglücklich in Max verliebt, immer mehr Details aus Hannahs Leben. 

Sie ist eine Topagentin der Geheimpolizei, die nur zu Spezialaufträgen herangezogen wird. Gleichzeitig spielt sie eine Führungsrolle in den Selbsthilfe- und Wohlfahrtseinrichtungen der osteuropäischen jüdischen Prostituierten.[fn]Zu den jüdischen Prostituierten in Argentinien und Brasilien und zur Zwi Migdal vgl. die Beiträge „Ein eigener Platz zum Sterben“ in der ila 239 und „Doppelt ausgegrenzt“ in der ila 334.[/fn] Schließlich erfährt er auch noch, dass Hannahs Briefe gar nicht aus ihrer Feder stammten. Alles was klar schien, stellt sie am nächsten Tag ganz anders dar. Obwohl Max längst weiß, dass Hannah ihn nie wird lieben können, träumt er weiter und sucht ihre Nähe. Eines Tages wird er von der Geheimpolizei zusammen mit Hannah auf ein deutsches Ehepaar angesetzt, das der Spionage für die Nazis und des Waffenhandels verdächtigt wird. Und dann ergeht es auf einmal auch dem Leser oder der Leserin ähnlich wie Max, als plötzlich der Autor im Buch auftritt und berichtet, wie er Max kennen lernte und wie er zu der Geschichte kam. Was soll man glauben, was nicht? Die Verwirrung hält bei der Lektüre nicht lange an, doch mehr wird hier nicht verraten. 

Der Autor Rolando Wrobel (Jg. 1968) lebt in Rio de Janeiro. Er arbeitet dort als Rechtsanwalt, Autor und Journalist vorwiegend für jüdische Medien. Er versteht sein Handwerk, kennt alle Register der Unterhaltungsliteratur und spielt mit ihnen. So setzt er genussvoll Elemente des Liebes-, Kriminal- und Spionageromans ein, bricht diese aber immer wieder satirisch. Die dadurch von überraschenden Wendungen vorangetriebene Handlung erzählt vordergründig eine unerfüllte Liebesgeschichte, lässt aber gleichzeitig das von der ersten Generation osteuropäischer Einwanderer geprägte jüdische Milieu im Rio de Janeiro der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wiedererstehen, zeichnet ein lebendiges Bild des politischen Klimas während der Vargas-Diktatur (1930-45) und thematisiert den internationalen Handel mit jüdischen Frauen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu Zehntausenden aus Polen, Russland, der Ukraine und Galizien nach Argentinien und Brasilien kamen und dort zur Prostitution gezwungen wurden. 

In einem ganz anderen sozialen Milieu als Ronaldo Wrobel bewegt sich Luis Krausz (Jg. 1961), und auch sein Ton ist ein völlig anderer. In seinem Roman porträtiert der Professor für jüdische und hebräische Literatur an der Universität São Paulo einen speziellen Mikrokosmos jüdischer ImmigrantInnen, nämlich die bürgerlichen deutschen und österreichischen Juden und Jüdinnen, die in den dreißiger Jahren auf der Flucht vor dem Terror der Nationalsozialisten nach São Paulo kamen. Sie gehörten bis zu ihrer Flucht zur wohlsituierten Mittel- oder sogar Oberschicht. Völlig assimiliert, fühlten sie sich als anerkannte BürgerInnen ihrer Länder, in deren Armeen viele von ihnen im ersten Weltkrieg gekämpft hatten. Der Nationalsozialismus bedeutete für sie zunächst Diskriminierung, dann Entrechtung und zwang sie schließlich zur Flucht. Auch wenn sie dadurch ihr Leben retten und der Deportation in die Vernichtungslager entgehen konnten, brachte die Emigration die Zerstörung ihrer persönlichen wie kollektiven Lebensentwürfe und Identitäten. 

Viele aus Österreich stammende Juden und Jüdinnen waren bis 1918 glühende AnhängerInnen der Habsburger Monarchie gewesen, die ihnen einst die Bürgerrechte garantiert hatte. Auch wenn ihre Vorfahren aus Ost- und Südosteuropa gekommen waren, hatten sie ihre ostjüdischen Wurzeln und die jiddische Sprache längst abgelegt und sahen sich als Teil der deutschen Kulturnation. Daran änderte auch ihre Vertreibung nichts, das kulturelle Erbe und die Lebensart des deutsch-österreichischen Bildungsbürgertums waren weiterhin – vielleicht mehr denn je – ihr Bezugspunkt. Die brasilianische Gesellschaft blieb ihnen fremd, sie erlebten ihren Aufenthalt in Südamerika als Verbannung.

Luis Krausz, der selbst einer aus Wien nach São Paulo geflohenen jüdischen Familie entstammt, hat in seinem Roman eine Form und einen Stil gefunden, die die Zerrissenheit dieser Menschen adäquat darstellen und dabei ihren unbedingten Willen herausheben, ihre europäische Identität zu bewahren, trotz allem was man ihnen und ihren Angehörigen in den einstigen Heimatländern angetan hatte. Krausz erzählt nicht chronologisch, vielmehr trägt er einzelne Kindheitserinnerungen über das Leben seiner Eltern und Großeltern zusammen. Zudem schildert er, sehr viel näher an der Gegenwart, Besuche bei anderen jüdischen ImmigrantInnen in São Paulo mit ähnlichen Erfahrungen, und zwar überwiegend in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. 

Diese Sammlung von Begegnungen und Begebenheiten zeitigt ein verstörendes Bild beschädigter Biographien und zertrümmerter Lebensentwürfe. Sie zeigt Menschen, die man aus Österreich und Deutschland hinausgeworfen hat und die in Brasilien gestrandet, dort aber nicht wirklich angekommen sind. Ihre Sehnsüchte blieben bis zu ihrem Tod nach „drüben“ ausgerichtet. Diese Ambivalenz prägt auch noch ihre Kinder und Enkel. Vor allem unter letzteren gab und gibt es viele, die sich aufmach(t)en, das verlorene Paradies ihrer Eltern und Großeltern kennenzulernen. In dieser Absicht kamen/kommen sie zu Arbeits- und Studienaufenthalten nach Europa. So auch Luis Krausz. Doch das Duisburg der 80er-Jahre, von dem er – ebenfalls in einzelnen Episoden – berichtet, hat wenig mit dem von seinen Großeltern verklärten Wien der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu tun. Diese Heimat ist für immer verloren. Die psychologisch geschulte Sensibilität des Autors, seine präzise Beobachtungsgabe und seine Fähigkeit, das Wahrgenommene in einer ganz eigenen, dem Beschriebenen absolut adäquaten Sprache zu vermitteln, machen „Verbannung“ zu einer ganz besonderen besonderen Lektüre.

So unterschiedlich der Stil Wrobels und Krausz’ auch sein mag und so sehr sich das geschilderte soziale Milieu in beiden Büchern auch unterscheidet, bei dem einen das proletarische und subproletarische Milieu der kleinen Handwerker und Huren, bei dem anderen die Welt des gut situierten und konservativen (Bildungs-)Bürgertums, so gibt es doch eine Gemeinsamkeit, nämlich die Trauer um verlorene Orte. Dabei geht es natürlich auch, wie in vielen Büchern jüdischer AutorInnen aus Lateinamerika, um Orte in Europa. Die Vorfahren der ProtagonistInnen beider Bücher haben schließlich die jüdischen Schtetl Osteuropas oder die Wiener Bürgerhäuser nicht freiwillig verlassen, man hat sie von dort vertrieben. Aber Wrobel und Krausz erinnern mit Melancholie auch an Orte in Brasilien. 

Bei Wrobel ist es das jüdische Viertel Rios um die Praca Onze, das komplett zubetoniert wurde. Wo einst kleine Läden, Handwerksbetriebe und Bars, Plätze und kleine Straßen waren, finden sich heute gesichtslose Betonblöcke und Durchgangsstraßen. Bei Krausz sind es die alten Bürgerhäuser São Paulos, die die jüdischen ImmigrantInnen errichtet oder erworben haben, als sie sich in Brasilien beruflich etabliert hatten. In jüngerer Zeit bedeutete der Tod alter Juden und Jüdinnen meistens auch, dass ihr Haus danach abgerissen wurde, denn Baugrund ist in der Megametropole São Paulos viel zu kostbar, als dass dort alte ein- bis zweistöckige Häuser stehen könnten. So verschwinden mit dem städtebaulichen Fortschritt (?) auch jene Refugien aufgeklärt europäischer Lebensart, die die jüdischen Flüchtlinge dort mit aller Kraft bewahrt hatten. Und ganz in der jüdischen Tradition suchen sowohl Wrobel als auch Krausz, die verlorenen Orte in einem Buch zu bewahren.

Auch bei Moacyr Scliar (1937-2011) ist ein verlorener Ort in Brasilien, nämlich Bom Fim, das einstige jüdische Viertel Porto Alegres, Bezugspunkt in fast allen seiner Romane. Scliar verfasste zunächst vor allem Kurzgeschichten. Mit dem 1968 erschienenen Band O carnaval dos animais (Karneval der Tiere) wurde er in Brasilien bekannt. Lange Zeit konnte er – wie die meisten brasilianischen AutorInnen – von seinem Schreiben nicht leben. Trotz eines auch im Umfang beeindruckenden Werkes arbeitete er bis zu seiner Pensionierung als Arzt im öffentlichen Gesundheitswesen, zuletzt allerdings, weil ihm diese Arbeit einfach wichtig war.

1973 veröffentlichte er seinen ersten Roman O exército de um homen só, (dt. „Die Ein-Mann-Armee“, 1987), eine wunderbar humorvolle Satire über linke Wirrungen und Illusionen. Als Stalin 1928 den sowjetischen Juden Birobidjan im äußersten Osten Sibiriens als autonome Region zuweist, möchte der mit seinen Eltern aus Osteuropa eingewanderte Maier Guinzburg in der Nähe von Porto Alegre ein Novo Birobidjan errichten. Mit fünf jüdischen Jugendlichen zieht er zum Sommerhaus einer ihrer Familien, wo sie eine sozialistische Kommune gründen wollen. Doch der Versuch endet bereits am zweiten Tag, weil es Widerspruch hervorruft, dass Maier und die Genossin Léia die Nacht zusammen verbracht haben. Trotz dieses ersten Rückschlags träumt Maier weiter vom Kommunismus und weigert sich, im kapitalistischen Ausbeutersystem zu arbeiten. Deswegen versucht sein besorgter Vater sogar, Sigmund Freud zu konsultieren, als dieser auf einer Reise nach Buenos Aires in Porto Alegre zwischenlandet. Der Vater hatte gehört, jener Freud könne Verwirrte und Verrückte nur mittels einer Coach heilen.

Maier gibt schließlich dem Druck seiner Umwelt nach, übernimmt einen kleinen Laden und heiratet Léia. Doch irgendwann ist er verschwunden. Heimlich ist er zu dem inzwischen verfallenen Sommerhaus zurückgekehrt, um seinen Traum von Novo Birobidjan doch noch zu verwirklichen. In Ermangelung menschlicher MitstreiterInnen tut er sich dafür mit dem Genossen Schwein, der Genossin Ziege sowie der Genossin Henne zusammen. Letztere erweist sich jedoch als ideologisch unzuverlässig und sabotiert Maiers Ansicht nach sogar aktiv den Aufbau des Sozialismus, weil sie sich weigert, Eier zu legen. Zunächst scheitern alle Versuche von Freunden und Familie, Maier zurückzuholen. Doch Widrigkeiten und Produktionsengpässe, sprich Hunger, bewegen Maier, schließlich auch den zweiten Anlauf zum Aufbau von Novo Birobidjan abzubrechen und zu Familie und Laden zurückzukehren. 

Später wird er sogar ein erfolgreicher Bauunternehmer. Doch dann geht seine Firma Konkurs und seine Ehe mit Léia zerbricht, weil er eine Beziehung zu seiner attraktiven Sekretärin eingeht. Allein und zusehends vereinsamt, phantasiert er weiter von seinem Lebenstraum. Als er sich schließlich nicht mehr allein versorgen kann, bewegt ihn sein Sohn, in eine Seniorenpension zu ziehen. Mit seinen dortigen – allesamt senilen – MitbewohnerInnen versucht er ein letztes Mal, sein Novo Birobdjan zu errichten. Natürlich scheitert er wieder, und so bleibt Maier seinen Nachkommen nur als moderner Don Quijote in Erinnerung, als melancholischer Kämpfer von der traurigen Gestalt, der sich nicht damit abfinden konnte, seinen Traum nicht realisieren zu können.

Während Maier Guinzburg ein sympathischer Träumer und Spinner ist, den man trotz immer wieder auftretender autoritärer Anwandlungen als Leser und Leserin ganz gut leiden kann, gilt das für die Protagonistin des Romans Os deuses de Raquel (1975), der soeben unter dem Titel „Die Götter der Raquel“ auf deutsch erschienen ist, nur sehr bedingt. Auch ist das Buch längst nicht so humorvoll wie die „Ein-Mann-Armee“ und die meisten anderen Romane Scliars. Raquel ist die einzige Tochter eines aus Ungarn eingewanderten jüdischen Paares. Ihr Vater betreibt ein Eisenwarengeschäft, doch seine große Liebe gilt der lateinischen Sprache, mit der er sich in jeder freien Minute auseinandersetzt. Deshalb möchte er auch, dass seine Tochter Latein lernt, und schickt sie daher nicht auf eine jüdische oder staatliche Schule in Bom Fim, sondern in eine katholische Klosterschule. Dort ist sie die einzige Jüdin. 

Zu dieser Außenseiterrolle kommt die Konfrontation mit der katholischen Auslegung des Christentums, die den Gläubigen das Paradies, den Ungläubigen aber Hölle und Verdammnis verkündet. Da Raquel als Jüdin nur letzteres zu erwarten hat, zugleich aber mit Rücksicht auf die Eltern keinesfalls konvertieren möchte, schafft sie sich ihr eigenes Christentum, das sie heimlich und allein praktiziert. Gleichzeitig beginnt sie, ihre Eltern, ihre MitschülerInnen und LehrerInnen, selbst ihre FreundInnen zu verachten, und lässt sie dies auch spüren. Zwar ist sie als Schülerin und später Geschäftsfrau äußerst erfolgreich, aber glücklich ist sie nie. Zudem fühlt sie sich beständig verfolgt und beobachtet. Wie schon als Kind flüchtet sie sich auch später in Traumwelten und Fantasien. Als sie einer ehemaligen Mitschülerin den Mann ausspannt, scheint es kurzzeitig, als könne sie mit ihm emotionale Geborgenheit und sexuelle Erfüllung finden, doch die Beziehung endet nach kurzer Zeit tragisch. Raquel wird immer verbitterter und verletzt die Menschen, die ihr nahe stehen. Erst ganz am Ende des Romans findet Raquel zu sich selbst – und zu Gott.

„Die Götter der Raquel“ ist ein Buch über Außenseitertum, über die Probleme der zweiten Generation von MigrantInnen, über Religion und subtil auch über die brasilianische Militärdiktatur. Auch wenn er – anders als in der Ein-Mann-Armee – nicht erwähnt wird, ist Sigmund Freud allgegenwärtig, denn es geht auch um die Beschädigungen der Seele und deren ambivalente Schutzmechanismen in Form von Fantasien. Ambivalent deshalb, weil sie für die kindliche Seele eine Überlebensstrategie darstellen, aber Macht über das Individuum gewinnen und es ihm dauerhaft verunmöglichen, emotional und sozial zu funktionieren. „Die Götter der Raquel“ entstand in der härtesten Phase der brasilianischen Militärdiktatur, den Jahren 1970-75. Auch wenn es keine offen politische Anspielung im Text gibt, ist die Atmosphäre der bleiernen Zeit fast körperlich spürbar.

Scliar selbst meinte, es sei ihm sehr schwer gefallen, diesen Roman zu schreiben, viel schwerer als die meisten anderen seiner Bücher. Es ist auch weniger zugänglich als die anderen Titel des Autors. So ist es sehr hilfreich, dass die Herausgeberin Lilian Ruth Feierstein ein informatives Vorwort verfasst und die Übersetzerin Marlen Eckl eine interessante Textcollage von Äußerungen Scliars über das Verhältnis von Judentum und Literatur zusammengestellt haben. Beides würde besser nicht vor – sondern hinter dem Romantext stehen, was aber nicht weiter problematisch ist, weil man die Texte auch in umgekehrter Reihenfolge lesen kann.

Auch in O Centauro no Jardim (1980), unter dem Titel „Der Zentaur im Garten“ 1985 bzw. 1988 in beiden deutschen Staaten erschienen, geht es um das Anderssein. Die Geschichte ist so einleuchtend einfach wie vollkommen phantastisch. Guedali, Sohn russisch-jüdischer Einwanderer im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul, kommt als Zentaur mit Menschentorso, Pferderumpf und vier Pferdefüßen zur Welt. Die Eltern, gerade mal den Pogromen im fernen Russland entkommen, werden erneut schwer geprüft. Zu Tode erschrocken entscheiden sie sich, das Kind großzuziehen, was nicht ohne Komplikationen abgeht. Guedali erzählt vom entsetzten Mohel, als er das Baby mit dem Pferdeglied beschneiden soll, vom einsamen Aufwachsen ohne Freunde, von Fernstudium und schließlich der Flucht von zu Hause. Er schlägt sich durch, arbeitet im Zirkus, wo sich eine Dompteuse in ihn verliebt, lernt schließlich Tita kennen, eine junge Zentaurin, die auf eine gleichfalls abenteuerliche Kindheit im Harem eines Großgrundbesitzers zurückschicken kann. Irgendwann beschließen die beiden, sich in Marokko operieren zu lassen. Die Operation gelingt, beide sind fortan richtige, zweibeinige Menschen – mit einem Makel: die beiden Beine sind weiterhin fellbewachsen und behuft.

Zurück in Brasilien schafft das Paar den sozialen und ökonomischen Aufstieg. Guedali und Tita bekommen Zwillinge, ziehen in eine gated community um, erleben um sich herum die typischen Sorgen der besseren brasilianischen Gesellschaft. Und, oh Wunder, Guedalis Hufe wandeln sich von allein in normale Füße um. Doch statt vollkommenes Glück zu empfinden, fühlt sich Guedali zunehmend als amputiert. Er sehnt sich zurück in die Zeit, als er als Zentaur über die Felder galoppierte. Guedali beschließt, Tita, die Familie und sein gesamtes soziales Umfeld zu verlassen und hofft, am Ort seiner Kindheit zu sich zurückzufinden. Vergeblich. Schließlich reist er noch einmal nach Marokko, um den inzwischen alten und klapprigen Chirurgen von einer Rück-Operation zu überzeugen. Der stimmt halbherzig zu. Eine Liebesaffaire mit einer Sphinx in einem Käfig des Arztes, halb Frau, halb Löwe, vereitelt jedoch das gewagte Ansinnen überraschend im letzten Moment. Und noch ein Wunder: Tita spürt den unoperierten Guedali auf, die Beiden kehren innig neu verliebt auf je zwei Beinen nach Brasilien zurück.

Eine ganz und gar unwahrscheinliche Erzählung? Eben nicht. Moayr Scliar beschreibt so meisterhaft, dass Kategorien wie Phantastik, Wahrscheinlichkeit und Realismus während der Lektüre vollkommen außen vor bleiben. Dabei schiebt er die Ebenen äußerst geschickt übereinander. So sichert eine realistische Rahmenhandlung – der Freundeskreis sitzt im Café, Tita erzählt einer Journalistin die Geschichte des Romans in der „realistischen“ Version, ohne Pferdefüße – gegen Zweifel ab. Guedali ist ein geschätzter Geschäftspartner, entsprechend bürgt seine Ich-Erzählung vermeintlich für Wahrheit. Dann die Erinnerungen: Er wächst heran wie viele Jugendliche, durchlebt die üblichen Momente, sammelt Liebes- und berufliche Erfahrungen, steigt auf, macht eine leidliche Karriere. 

Die brasilianische Diktatur im Hintergrund ist präsent, die Aufsteigerszene wird genüsslich beleuchtet und karikiert. Alles normal, nur eben der Pferdekörper nicht. Aber an dem Punkt ist man bereits bereit, alles zu glauben. Zudem hebt den Roman ein wesentliches Element ab von auf die Dauer langweiligen, bisweilen ärgerlichen Geschichten über Bauchnabelschauen aus dem Milieu der Reichen und Erfolgreichen: Guedali und die Seinen verhandeln keine Reichenprobleme. Sie knabbern im Gegenteil an Existentiellem. Guedali wie Tita haben einen Makel: den Pferdekörper. Den versucht Guedali loszuwerden. Durchaus wahrscheinlich. Erst als die Anpassung an den durchschnittlichen menschlichen Körper gelingt, merkt Guedali, dass er damit auch sein Ich verloren hat. Das Märchen gibt seinen tieferen Sinn frei. Guedali sieht ein: ganz wieder der alte zu werden, kann nicht funktionieren. Aber sich seiner Wurzeln bewusst sein, macht glücks-, liebes- und lebensfähig. Daher steht der Zentaur hinten im Garten, nicht als Zierrat für andere im Vorgarten. Sichtbar, zum Greifen nah. Scliar wäre nicht der begnadete jüdische Erzähler, der er ist, wäre der Text nicht zu lesen als Parabel auf das Jüdischsein, das kein „Makel“, sondern ein Wesens- und kulturelles Merkmal ist.

Knapp 20 Jahre nach dem „Zentaur im Garten“ legte Scliar ein weiteres kleines Meisterwerk vor, das sich als noch knappere, geradlinige Erzählung verpuppt und nun unter dem Titel „Kafkas Leoparden“ auf deutsch erscheint. Eine wahrhaft kafkaeske Geschichte, an die sich der Ich-Erzähler da erinnert. Ein eingangs zitiertes, freigegebenes Dokument aus den Archiven der brasilianischen Diktatur (1964-1985) ist der Auslöser für Erinnerungen. Das Dokument besteht aus einem Brief eines diensthabenden Militärs, in dem er die schnelle Übersetzung eines von einem gewissen Franz Kafka geschriebenen verdächtigen Textes verlangt. Der Text sei in den Taschen eines verhafteten Elements namens Jaime Kantorovitch gefunden worden. Es könnte sich, denkt der stumpfe Militär, um eine subversive Anweisung handeln.

Der verhaftete Jaime ist ein Cousin des Erzählers, der wiederum eine tolle Geschichte vorlegt. Und die geht so: sein Uronkel Benjamin, genannt Ratinho, hatte einst irrtümlich einen Zettel mit just jenem dunklen Spruch aus den Händen Kafkas in Prag erhalten, im Glauben, es handle sich um einen revolutionären Auftrag Trotzkis. Dieser Zettel birgt einen Aphorismus, der von regelmäßig den Tempel ausraubenden Leoparden handelndt –als Lesende versteht man ihn auch nicht besser als jener Militär – und befindet sich im Gepäck Benjamins, als er mit seiner Familie aus dem pogrombedrohten Örtchen Chernovitsky, nicht weit von Odessa, flieht, der Heimat von Scliars eigener Familie. Nach einer Jahrzehnte währenden Odyssee des Zettels enthüllt sich Ratinho auf dem Sterbebett dessen bis dato kryptischer Sinn. Tatsächlich: die literarische Botschaft ist subversiv, versteht er im Delirium. Man muss sich den Leoparden entgegenstellen, dann weichen sie zurück, träumt er. Ein Schelm, wer an Diktatur denkt.

Wieder ereignet sich die Geschichte vor dem Hintergrund der Flucht aus Russland, genauer noch dem so oft in Scliars Literatur wiederkehrenden Chernovitsky. Wieder ist das ostjüdische Untergründige beseutsam, wobei Scliar auch hier besonders das komplizierte Verhältnis von Vater und Sohn ausleuchtet – dass die Rolle der jüdischen Mutter zentral ist, wird vorausgesetzt. Gekonnt bedient sich Scliar des Arsenals spannender Romane: es gibt einen Auftrag, Abenteuer sind zu bestehen, Instruktionen gehen verloren, dunkle Textstellen und Metaphern müssen ausgelegt werden. Lektüre, Bildung, Dialektik und Vielsprachigkeit sind wichtig.

Der Roman liest sich dennoch einfach wie ein Kinderbuch, ginge es nicht um Jahre der brasilianischen Diktatur einerseits, um Revolution, Kommunismus und das Talent der Trotzkisten, sich aufzuspalten, andererseits. Dass Kafka den Kommunisten suspekt war, die brasilianischen Militärs aber zu beschränkt sind, um Kafka zu kennen, das muss Scliar mit einem vergnüglichem Augenzwinkern niedergeschrieben haben.

Tragik und Komik liegen in Moacyr Scliars Literatur immer nah beieinander. Im Leben sowieso, würde Scliar hinzufügen. Obwohl er außer einer kurzen Mitgliedschaft in einer jüdisch-kommunistischen Jugendorganisation unseres Wissens später in keinen politischen Zusammenhängen mehr aktiv war, war Scliar zeitlebends ein kritischer Geist und Linker, der in seinen Büchern immer auch – mitunter sehr subtil – Unterdrückung thematisiert und sich gegen das Vergessen engagiert hat. Zum 40. Jahrestag des Militärputsches vom 21. April 1964 veröffentlichte er zusammen mit seinen Schriftstellerkollegen Luis Fernando Verissimo, Carlos Heitor Cony und Zuenir Ventura die Textsammlung „Stimmen des Putsches“ – zwei Kurzgeschichten und zwei Augenzeugenberichte über den Beginn der Militärdiktatur. Anders als in Argentinien und Uruguay war die Erinnerung an die Diktatur und deren Opfer in Brasilien kein gesellschaftliches Thema. Erst in jüngster Zeit kommt eine breitere Diskussion darüber in Gang.

Als Moacyr Scliar 1994 anlässlich des damaligen Buchmessenschwerpunkts Brasilien in Deutschland war, waren seine drei übersetzten Bücher nur schwer zu bekommen. In diesem Jahr erscheinen fünf seiner Romane (zwei Neuauflagen und drei Erstveröffentlichungen) in deutscher Sprache, mehr als von jedem/r anderen brasilianische Autor/in. Vielleicht wird er dann endlich auch in Deutschland als einer der ganz großen lateinamerikanischen Erzähler wahrgenommen.

 

Unter dem Titel „Humor als Waffe gegen die Verzweiflung“ ist in der ila 178 (September 1994) ein längeres Interview von Gaby Küppers mit Moacyr Scliar erschienen. In der gleichen Ausgabe ist seine Kurzgeschichte „Das Ohr Van Goghs“ in der Übersetzung von Margrit Klingler-Clavijo veröffentlicht. In der ila 334 (April 2010) findet sich ein kurzes Portrait Moacyr Scliars von Gert Eisenbürger, in der ila 344 ein Nachruf von Gerhard Dilger mit der Überschrift „Großer Erzähler und warmherziger Humanist. Abschied von Moacyr Scliar (1937-2011)“.