Schamane und Führungsgestalt: Der Tasorentsi José Carlos Amaringo Chico

Das Buch „Esclavitud y utopía“ ist der erste ethnohistorische Versuch, das Leben einer Führungsperson aus dem Amazonasgebiet am Anfang des 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt steht Tasorentsi[fn]Ehrentitel für einen Anführer[/fn] José Carlos Amaringo Chico, dessen langes Leben ein halbes Jahrhundert Geschichte der Arawak in der peruanischen Selva Central[fn]Die Selva Central erstreckt sich über verschiedene Departements Perus, das Klima dort ist etwas kühler und die Region ist stärker mit den Wegen des Kapitals verbunden[/fn] geprägt hat. Eine Reihe von Ereignissen und Personen werden hier vorgestellt, die für die Geschichte dieses Territoriums entscheidend waren: die 1890 begonnene Pichis-Straße durch den Urwald, die Peru mit Europa verbinden sollte – das erste transozeanische Projekt des republikanischen Staates –, Kautschukbarone, indigene Aufstände, adventistische Missionierung, nationalistische Kolonisierung und ländliche Immigration.

Fernando Santos hält Tasorentsi für den vermutlich bedeutendsten Asháninka-Führer des 20. Jahrhunderts. Ein Anführer, der sich im Laufe seines Lebens mit den unterschiedlichsten Eindringlingen in das Gebiet seiner Leute auseinandersetzen musste. Damals begann der Kautschuk-Boom, der die Beziehungen der Asháninka zu anderen ethnischen Gruppen und den lokalen Caudillos völlig veränderte. Der Autor benutzt sowohl dokumentarische Quellen als auch mündliche Überlieferungen, verbindet historische und anthropologische Methoden. Dadurch hinterfragt er gewisse Schieflagen und „Wahrheiten”, die sich im Laufe der Zeit in den jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen herausgebildet haben: Das betrifft die Relevanz der Feldforschung, den Wahrheitsgehalt mündlicher Zeugnisse und die Notwendigkeit, Geschichte aus einer Linearität von Ereignissen heraus zu denken, oder eben nicht. Der Autor schlägt die Verwendung der so genannten „Fluchtgeschichte“ vor, in der bedeutende Ereignisse, die im lokalen oder persönlichen Gedächtnis gespeichert sind, besonders berücksichtigt werden, unabhängig davon, ob diese Ereignisse „wirklich geschehen sind“ oder bewiesen werden können.
Das erste Kapitel des Buches beginnt mit dem Treffen zwischen Tasorentsi und Mieczysław Lepecky, einem polnischen Militär, der Ende der 1920er-Jahre in die späten Kolonisierungsprojekte (durch forcierte Einwanderung in den Ucayali-Dschungel) verwickelt war. Diese Begegnung bestimmt die weitere Handlung und markiert einen Bruch in der Existenz Tasorentsis. Er wandelt sich vom kriegerischen Anführer (und wahrscheinlich auch Sklavenhändler) zum „Menschensammler“: Er wird ein Prediger, der den adventistischen Missionen nahesteht, die vom Oberen Perené aus ihre Missionierung des gesamten Gebiets der Asháninka begonnen hatten.

Es gibt nur sehr wenige dokumentarische Quellen über das Leben der indigenen Anführer im Amazonas aus dieser Zeit. Zumindest solange, bis der „zivilisatorische” Erfolg der Missionierungen, die Alphabetisierungsprogramme des Instituto Lingüístico de Verano (Linguistisches Sommerinstitut) und die reformistische Politik der Militärregierung diese Akteure für uns sichtbar machten. Es ist wenig überraschend, dass sich die erste ethnohistorische Untersuchung über einen indigenen Führer aus dem Amazonas einem Asháninka widmet. Schließlich lebt diese Bevölkerungsgruppe genau dort, wo die Nationalregierung schon sehr früh, in den 1840er- Jahren, zur „Wiedereroberung des Amazonas“ aufruft, was eine umfangreiche literarische und visuelle Produktion über diese Bergregion und ihre Bevölkerung auslöst. Hinzu kommt, dass die peruanische Gesellschaft, in einer Mischung aus Anziehung und Angst, bestimmte Vorstellungen von dieser ethnischen Gruppe im Kopf hatte: kriegerische Chunchos, Bewohner*innen der Selva, ernst und rebellisch.

Tasorentsi lebte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er-Jahre. In diesem Zeitraum tauchten die Adventisten erstmals in der tropischen Zone der Selva Central auf. Sie sollten zu einem entscheidenden Faktor bei der Transformation Tasorentsis werden und bestimmten die Orientierung der folgenden Generationen der Asháninka-Sprecher. Adventistische Quellen beschreiben die „Transformation” eines getauften Menschen mit einer Reihe von Attributen, besonders wenn es sich um „starke Männer” handelt, die von einem Zustand der Perversion, Krankheit und Tod in einen Zustand der Erlösung und Heilung übergehen. Diese Vision, wie Santos zu Recht betont, verbindet die adventistische Theologie mit dem kulturellen Asháninka-Universum, in dem das Spirituelle und das Materielle eine unauflösliche Einheit bilden. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass die Berichte der Missionar*innen die Bekehrung von Curacas[fn]Politik- und Verwaltungschef eines Ayllu, einer traditionellen andinen Gemeinschaft aus mehreren Familien[/fn], Sklavenhändlern und Hexen“ hervorheben. Aufgrund dieser Sympathie und der erfolgreichen Verhandlungen, die die Missionar*innen mit den politischen und spirituellen indigenen Führern führten, konnte sich die adventistische Bewegung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts explosionsartig ausbreiten.

Wie in dem Buch ausgeführt wird, entsprach Tasorentsi jedoch nicht dem typischen Bild des „guten bekehrten Führers“. Vielmehr wird er einer anderen Einordnung gerecht, der des widerspenstigen und rebellischen Führers, dessen Loyalität gegenüber der Missionsarbeit immer zweideutig und umstritten ist, der sich weigert, „der Sünde“ und den „alten Praktiken zu entsagen“. Eine Führungspersönlichkeit, die sich dafür entschied, ihre Autonomie gegenüber der Mission zu bewahren, ohne auf die Güter und Dienstleistungen, die die Mission anbot, zu verzichten. Er gehörte zu denjenigen, die schon früh die spirituelle und politische „Konkurrenz“ erkannten, die das Missionsprojekt für sie bedeutete, sowie die Akkulturations- und Ernährungsvorschriften hinterfragten, die die Kirche von ihnen verlangte.

Tasorentsi stand damit nicht allein. Er repräsentiert die erste vieler weiterer Generationen von Führungspersönlichkeiten, die gelernt hatten, zu verhandeln sowie sich der Werkzeuge und Diskurse zu bedienen, die die verschiedenen Agenten der Moderne mitbrachten, um die „Zivilisation“ voranzutreiben. Viele dieser Anführer durchlebten persönliche Krisen, was sie dazu brachte, ihre Identität zu überdenken, auf neu erworbene Loyalitäten und Gewohnheiten verzichten und zu ihrer traditionellen Spiritualität zurückzukehren: dem Schamanismus und der Pflanzenheilkunde. So wird auch das Vergessen verständlich, in das die Figur des Tasorentsi fiel. „Begraben“ in der Erinnerung der Alten, als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Geschichte, ihre Rebellion und ihre Art zu führen nicht mehr dem Archetypus des „guten Chefs“ entsprachen, der in der Region danach praktiziert wurde – junge „moderne Anführer“, die für ihre Leute die Möglichkeiten nutzen wollten, die die Mehrheitsgesellschaft bot: Einführung der Geldwirtschaft und Zugang zu Waren, Schulen, Gesundheitsversorgung und Kommerzialisierung ihrer Produkte. Forderungen, die bereits früh in den politischen Diskursen Tasorentsis präsent sind, seitdem er sich dem adventistischen Glauben angenähert hatte und auch davon bekehren ließ.

Ein Schlüsselelement des Buches ist der „Kautschukpakt”, ein Konzept, das sich auf die Verhandlungen und den Warentausch zwischen ethnischen Führern und extraktivistischen Caudillos während des Kautschukbooms bezieht. Die Geschichte von Tasorentsi ist ein Beispiel für die unklaren Zugehörigkeitsgefühle und diffusen Loyalitäten, mit denen Asháninka-Anführer Anfang des 20. Jahrhunderts ihre politische Legitimität aufbauten, innerhalb und außerhalb ihres ethnischen Kollektivs. Es war eine komplizierte Gemengelage. Vieles von dem, was sie taten oder unterließen, führte zu innerfamiliären und interethnischen Konflikten.

Diese Untersuchung zeigt, dass akademische Amazonas-Netzwerke existieren und wie wichtig transatlantische Netzwerke sind, die dem Autor den Zugang zu unterschiedlichen ethnografischen, dokumentarischen und gedruckten Materialien ermöglichten. Vor allem aber basiert das Buch auf den Zeugnissen und Aussagen der Asháninka-Weisen und -Führer, die größtenteils, genau wie der Tasorentsi, in den adventistischen Missionen ausgebildet worden waren, und die in den 1960er-Jahren für den Kampf um ihr Land und die Erhaltung ihrer Gemeinden geschult wurden. Die außergewöhnliche Existenz des Tasorentsi ermöglicht uns die Rekonstruktion eines Teils der Geschichte der Selva Central, macht uns aber auch mit der Erinnerungskultur der Asháninka bekannt, geprägt von der indigenen Kosmologie vor der Ankunft der „Weißen“, von ihren Vorstellungen einer Transformation, die sich dann mit den neuen evangelikalen, nationalen und kapitalistischen Glaubensbekenntnissen mischt. Wobei das Bevorstehen der Parusie (Wiederkunft Jesu Christi am jüngsten Tag) und der „Beginn des Königreichs“ die Asháninka-Gläubigen nicht daran gehindert hat, sich energisch für den Zugang zu formaler Bildung, für die Kontrolle über ihr Territorium, für die Freiheit von verschiedenen Formen wirtschaftlicher Abhängigkeit und die Erhaltung ihrer Kultur und ethnischen Identität einzusetzen. Schlussendlich eröffnet das Buch innovative Forschungsmöglichkeiten. Und es wirft Fragen auf, die es uns ermöglichen, mehr über die Geschichte und die Erinnerungskulturen zu erfahren, die die Asháninka-Gesellschaft mit der peruanischen Nation verbindet.