Vielen VertreterInnen der postkolonialen Theorie wird – m.E. durchaus zu Recht – vorgeworfen, ihre Gedanken in sehr komplizierter und abstrakter Sprache zu Papier zu bringen. Durch die Diskussionen um die Gestaltung dieses Schwerpunktheftes in der ila-Redaktion wurde ich vor dem Verfassen dieser Rezension an dieses Problem erinnert. Wenn man nun den Titel des hier besprochenen Buchs hört, sieht man diese Kritik wieder einmal bestätigt: „Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Das klingt nicht gerade einladend für Menschen, die sich weniger innerhalb theorie-begeisterter akademischer Bereiche bewegen. Immerhin erscheint das Werk in der Buchreihe „Es kommt darauf an“ – ein Titel, der auf Marx’ Losung anspielt, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern – und richtet sich somit auch an aktivistische Zirkel. Eine zu abstrakte und mit Lehnwörtern durchzogene Sprache wirkt allerdings für viele ausschließend und kann die Überführung von Theorie in widerständige Praxis erschweren. Es sollte darüber hinaus erwähnt werden, dass der Titel der deutschen Übersetzung entspringt und im Original „Dekolonialität des Seins und des Wissens“ (Descolonialidad del Ser y Saber) heißt, was etwas verständlicher ist. Auch beim fünften Teil des Buches, der als „Prolegomena zu einer Grammatik der Dekolonialität“ übersetzt ist, hätte man doch auch von „Vorüberlegungen“ sprechen können – ich jedenfalls musste die Bedeutung von „Prolegomena“ erst nachschlagen.

Von diesem Manko abgesehen verdanken wir den Übersetzern Jens Kastner und Tom Waibel aber einen kompetent geschriebenen Einleitungstext, in dem sich sperrige Begriffe wie „Epistemologie“ eben besser erläutern lassen (S. 24) als in einem Titel, und der Mignolos Gedanken in ihrem (lateinamerikanischen) Theoriekontext erläutert und gegebenenfalls kritisch kommentiert. So etwa wenn es um Formulierungen Mignolos geht, die „antisemitische Klischees“ (S. 26) bedienen1, oder wenn er fragwürdige Gestalten wie Ayatollah Khomeini „nebenbei (d.h. in Klammern) zu jenen Denkern rechnet, die in den 60er- und 70er-Jahren die ,Dekolonialität klar formuliert’ hätten“ (S. 30). Auch sein zuweilen etwas grobschlächtiger Ausschluss kritischer „europäischer“ Theorieansätze und Bewegungen aus dem dekolonialen Projekt wird ausführlich, abgewogen und versiert kritisiert (S. 32-39). Bei aller Kritik betonen Kastner und Waibel, dass die Übersetzung von Mignolos Text „wichtig und theoretisch fruchtbar“ sei, da dekoloniales Denken im deutschsprachigen Raum „weder im akademischen Bereich noch anderswo sicheren Tritt fassen“ (S. 40) konnte. Dem möchte ich mich anschließen, insbesondere weil Mignolo zahlreiche lateinamerikanische Theoretiker ins Feld führt, die innerhalb der hiesigen Sozialwissenschaften aufgrund ihrer übergroßen eurozentrischen Scheuklappen bisher kaum wahrgenommen werden.

Mignolos Ausführungen, die u.a. aus Treffen der Gruppe Moderne/Kolonialität (siehe Artikel von S. Garbe und P. Quintero in dieser ila) hervorgegangen sind, gliedern sich in vier Teile, deren Überschriften leider nicht immer einfach mit den Inhalten in Zusammenhang zu bringen sind. Abschnitt I etwa suggeriert der Überschrift nach die Begriffe der Entkopplung, der Emanzipation, der Befreiung und der Dekolonialisierung zu behandeln, jedoch tauchen diese, wenn überhaupt, nur vereinzelt und verstreut wieder auf. Teil II, „Die Rhetorik der Moderne und die Logik der Kolonialität“, stellt laut Mignolo das Konzept der Entkopplung von der kolonialen Matrix/dem kolonialen Modell der Macht „als Ausgangspunkt dekolonialen Denkens“ vor (S. 97). Abschnitt III, „Die Kolonialität: Die finstere Seite der Moderne“, beschäftigt sich „mit den unwegsamen Pfaden der Kolonialität (d.h. der kolonialen Matrix der Macht)“ (S. 97). Der vierte und letzte Teil des Buches liefert schließlich einige Vorüberlegungen zu einer „Grammatik der Dekolonialität“ (S. 162). Dieser verwirrenden Strukturierung entsprechend war es mir auch während des ganzen Buches leider nicht möglich, einen roten Faden zu erkennen. 

Nun darf diese Kritik an der Form des Buches nicht auch auf dessen interessanten und lesenswerten Inhalt übertragen werden. Im ganzen Buch finden sich immer wieder provokative und inspirierende Auseinandersetzungen mit wohlbekannten oder bisher wenig reflektierten Theoretikern und Ereignissen. Immer wieder werden auch interessante Thesen formuliert. Im Folgenden also einige Beispiele.

Im ersten Teil versucht Mignolo herauszuarbeiten, dass „auch die Erkenntnis ein Instrument der Kolonialisierung war“ (S. 46) und deshalb „die Dekolonialisierung der Erkenntnis eine der dringlichsten Aufgaben“ (S. 48) sei. Zwar benennt er hier einen wichtigen Punkt zeitgemäßer radikaler Kritik und bringt ihn mit zahlreichen, hierzulande meist unbekannten Namen (u.a. Darcy Ribeiro) in Verbindung. Aber er unterlässt es, die Behauptung anhand eines konkreten Beispiels – das er sicherlich leicht finden könnte – zu belegen. Diese Unzulänglichkeit in der konkreten Verdeutlichung zieht sich leider durch weite Teile des Buches und wird erst im letzten Teil besser. So grenzt er weiterhin (mit Bezug auf den peruanischen Soziologen Aníbal Quijano und den in Mexiko lehrenden Befreiungsphilosophen Enrique Dussel) die „Dekolonialität“ von der Kritischen Theorie und der postkolonialen Theorie ab. Erstere sei eine „epistemische Entkopplung (von der Moderne, D.G.) im Bereich des Sozialen“. Letztere seien dagegen lediglich auf die Moderne bezogene „Transformationsprojekte (…) von der Akademie für die Akademie“. Begründet wird dies vor allem durch die unterschiedlichen Quellen, aus denen sich die Projekte speisten (Dekolonialität = antikoloniale und aktivistische Prägung, Postkoloniale und Kritische Theorie = europäische und akademische Prägung, S. 53f). Anschaulich belegt wird weder das Eine noch das Andere in ausreichendem Maße. 

In Teil II kann Mignolo eine interessante Unterscheidung plausibel machen, nämlich die zwischen „Kolonialismus“ und „Kolonialität“. Der argentinische Kritiker José Hernández Arregui zeige deutlich, dass das formelle Ende des spanischen Kolonialismus 1810 in Argentinien mit einer ökonomischen Abhängigkeit vom britischen Empire einherging. Obwohl Argentinien also nicht wie Indien formell unter dem englischen Kolonialismus litt, war es de facto von der Kolonialität zugunsten des britischen Empire betroffen (S. 61f). Im Zentrum dieses zweiten Teils steht allerdings eine andere Unterscheidung, deren Begründung leider wieder wenig erläutert wird. Es kommt zu einer scharfen begrifflichen und historisch-kulturellen Unterscheidung zwischen Emanzipation (als europäisches Projekt der Bourgeoisie) und Befreiung als Dekolonialisierung (sowohl politisch-ökonomisch als auch auf die Erkenntnis bezogen). So sinnvoll diese Distanzierung von dem eurozentrischen und beschönigenden Mythos der Aufklärung auch ist, es wird nicht erklärt, warum das Wort „Emanzipation“ von der Aufklärung durchzogen ist und der Begriff der „Befreiung“ davon unberührt sein soll.

Das letzte Beispiel, das ich hier aufführe, soll zeigen, dass Mignolo meiner Meinung nach vernachlässigt, dass auch innerhalb Europas die vielfältigen Kritiken und Widerstände von der „Meistererzählung“ der Moderne mundtot und unsichtbar gemacht wurden. So schreibt er: „Die emanzipatorisch universellen Forderungen von Prozessen, die in den liberalen und sozialistischen Traditionen der europäischen Aufklärung verankert waren, stießen außerhalb von Europa an ihre Grenzen“ (S. 62). Als radikaler Gegner hiesiger (National-)Staatsprojekte etwa fragt man sich sogleich: Wieso denn nur „außerhalb von Europa“ und nicht auch innerhalb? 

Auch an zahlreichen anderen Stellen in Mignolos Buch kommt es zu derartigen Reibungspunkten, aber auch zu Denkanstößen. Allein deshalb handelt es sich um eine lohnenswerte Lektüre für alle LeserInnen, die an Prozessen der (De)Kolonialisierung (insbesondere in Lateinamerika) Interesse finden.

Walter D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, aus dem Spanischen übersetzt und eingeleitet von Jens Kastner und Tom Waibel, Wien, Turia und Kant, 207 Seiten, 14,- Euro