„Schreckliches mittelamerikanisches Land“

Der verstorbene chilenische Autor Roberto Bolaños sagte über seinen salvadorianischen Freund und Kollegen Horacio Castellanos Moya, er sei ein Melancholiker und schreibe, als lebe er tief unten in einem der vielen Vulkane seines Landes. Aus dieser Hölle heraus beschreibe er die Verräter, die straflosen Gewaltverbrecher, Betrüger und Diebe seines Landes, von denen sich viele in Luxusautos und unbehelligt durch San Salvador bewegten. Sicherlich trifft diese Aussage auf Moyas Romane „Der Waffengänger“ und „Die Spiegelbeichte“ zu. Und es gilt auch für Moyas neuen Roman „Aragóns Abgang“, auch wenn der größtenteils Mitte der 90er Jahre in Mexiko-Stadt angesiedelt ist. Die Geschichte und die politischen Verhältnisse in El Salvador vor und nach dem langen Bürgerkrieg spielen in Alberto Aragóns (Protagonist in Teil 1) Lebensgeschichte eine zentrale Rolle. El Salvador ist nicht nur in unzähligen Rückblicken präsent, sondern vor allem auch in den Szenen, die der Abreise des Detektivs José Pindonga (Protagonist in Teil 2) nach Mexiko vorausgehen, wo dieser den rätselhaften Tod von Alberto Aragón aufklären soll.

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Im ersten Teil begleiten wir den gealterten Aragón, ehemals ein dandyhafter Frauenheld und Charmeur und noch immer ein unverbesserlicher Säufer, auf einer kurzen Kneipen- und Sauftour durch die mexikanische Hauptstadt und bei seinen wirren Gedankengängen, die Ausgeburt seines permanenten Deliriums sind. Wir erfahren, dass er sich erst seit einigen Tagen in Mexiko aufhält, mit dem Auto Hals über Kopf aus El Salvador (jenem „schrecklichen mittelamerikanischen Land, wo sich alle gegenseitig umbringen“ und noch immer „Straflosigkeit, Machtmissbrauch, Armut, Undankbarkeit grassieren“) abreiste, um die 1300 Kilometer durch drei Länder in einem Rutsch zurückzulegen, wobei ihm der wichtigste Begleiter eine Kühltasche voller Wodkaflaschen war. Die meiste Zeit verbringt Aragón betrunken auf der Pritsche in einem elenden Dachzimmer, das seiner ehemaligen Haushälterin gehört und das seine 40 Jahre jüngere Freundin, Infanta genannt, für ihn hat herrichten lassen. 

Aragón hat bessere Zeiten erlebt, kann auf ein abenteuerliches Leben zurückblicken, hat einiges zu erinnern, und so liefert der Autor auch einige Exkurse in die salvadorianische Geschichte des 20. Jahrhunderts: Der Sturz des Diktators Hernández Martínez im Jahre 1944, an dem Aragón ebenso beteiligt war wie an dem Putsch gegen die Regierung von Oberst Lemus 1959, dann der gescheiterte Staatsstreich von 1972, nach dem der Protagonist mit seiner Familie nach Costa Rica fliehen musste, der Staatsstreich von 1979, der ihn und viele andere Exilierte zur Rückkehr nach El Salvador bewog.
Der Leser erfährt zudem, dass Aragón 1980 die salvadorianische Militärregierung als Botschafter in Nicaragua vertrat, einen Posten, den er angenommen hatte, obwohl sein Sohn Albertico und seine Schwiegertochter nur vier Monate zuvor von Todesschwadronen des Regimes ermordet worden waren, dass er zwischen rechten und linken Gruppierungen vermitteln sollte, diplomatische Offensiven in Mittelamerika und Venezuela zur Befreiung von salvadorianischen Regimegegnern startete und dass er zu Beginn des Bürgerkrieges, als die salvadorianische Guerilla Anfang 1981 ihre Offensive gegen die Regierungstruppen begann, öffentlich die Militärjunta in seinem Land kritisierte und den Botschafterposten niederlegte, um sich ins mexikanische Exil zu begeben. Aragóns Hoffnungen auf einen neuen Posten als Diplomat oder Minister nach Ende des Bürgerkrieges scheiterten an den Wahlen von 1991, aus denen schließlich die Rechte als Sieger hervorging. So konnte die Oligarchie an die alten Zeiten vor dem Bürgerkrieg wieder anknüpfen.

Im zweiten Teil wechselt die Erzählperspektive. Der Protagonist, Privatdetektiv José Pindonga, berichtet in der ersten Person von seinen Alkohol- und Frauengeschichten, seinem privaten und beruflichen Scheitern sowie den Ergebnissen seiner Recherchen über das bewegte Leben und den undurchsichtigen Tod von Alberto Aragón. Wieder vermischen sich private und politische Intrigen, alte, dem Leser bereits vertraute Personen aus den Romanen „Der Waffengänger“ und „Die Spiegelbeichte“ werden erwähnt oder tauchen gar wieder auf, etwa der korrupte Unterkommissar Handal oder der berüchtigte Gewaltverbrecher Robocop und seine Opfer. Von Aragóns Ableben erfährt der Leser erst in diesem zweiten Teil. Henry Highmont, ein reicher Großgrundbesitzer und „alter Freund“ Aragóns, beauftragt den Detektiv mit Ermittlungen, angeblich um den Todesfall seines Freundes restlos aufzuklären. Doch erst am Schluss erfährt der Leser, dass ganz andere Gründe hinter dem Auftrag stehen. Aragóns Freund will sicher gehen, dass der Tote das Geheimnis seines Lebens mit ins Grab genommen hat: die Liebesaffäre mit Highmonts Frau und die tatsächliche Vaterschaft von Highmonts Tochter. Doch seiner eigentlichen Aufgabe, der Untersuchung der Todesumstände von Aragón, wird der Detektiv nicht gerecht. Der Leser erfährt nur, dass Aragóns Leiche im Auftrag der Infanta eingeäschert und im Meer verstreut wurde.

So bleibt es der Phantasie des Lesers überlassen, eine Antwort zu finden auf die Fragen nach den Umständen, den Gründen für den rätselhaften Tod (Leberzirrhose, Selbstmord, Raubmord, Auftragsmord?) in der armseligen Dachkammer im Zentrum der mexikanischen Hauptstadt. Moya lässt sehr viel Raum für Spekulationen, zumal im Epilog ein noch immer von Rachegelüsten gepeinigter Henry Highmont sich ernsthaft die Frage stellt, ob er sich vielleicht nicht doch mitschuldig gemacht hat am grausamen Tod von Albertos Sohn, indem er seinerzeit gegenüber einem Major der Todesschwadron eine indiskrete Bemerkung über den „von Kommunisten infiltrierten jungen Mann“ fallen ließ? War der grausame Mord an Albertos Sohn und Schwiegertochter etwa die gerechte Strafe für den Verrat Albertos an ihm, seinem besten Freund? Highmonts Zweifel nähren am Ende des Romans eine weitere Erklärungsmöglichkeit für „Aragóns Abgang“, den Auftragsmord aus später Rache, das klassische Motiv des gehörnten Ehemannes.

Alberto Aragón und José Pindonga haben, außer dass sie ihre Sorgen im Alkohol ertränken, ein Weiteres gemeinsam: Sie sind scheinbar typisch salvadorianische Vertreter des Machismo, der für Eifersucht und übertriebenes Ehrgefühl, für übersteigerte männliche Dominanz und Aggressivität gegen Frauen steht. Beide sind ständig auf Eroberungen aus, Frauenhelden und doch zutiefst frauenfeindlich. Dieses negative Männlichkeitsbild sowie die bereits erwähnten politischen und sozialen Zustände in jenem „schrecklichen mittelamerikanischen Land“ ergeben das Negativbild einer zutiefst zerrütteten, von jahrzehntelanger Militarisierung geprägten Gesellschaft, der Horacio Castellanos Moya bereits vor vielen Jahren den Rücken kehrte. Es taucht seither als Leitmotiv in seinen Romanen immer wieder auf.

Horacio Castellanos Moya, Aragóns Abgang, Rotpunktverlag Zürich 2005, 279 Seiten, 22,- Euro