Schüsse nicht nur mit dem Ball

Fußball in Montevideo als Schauplatz für politische Auseinandersetzungen

Die Strukturen der Fanorganisationen, sowie die von ihnen ausgehende Gewalt, sind mittlerweile ein fester Bestandteil der Schlagzeilen in Uruguay. Im Zentrum der Kritik stehen die sogenannten barras bravas. Die Geschichte dieser Fanstrukturen – die sowohl Merkmale der europäischen Ultras wie der Hooligans besitzen – ist in Uruguay noch relativ jung. Zwar gab es schon lange organisierte Fanstrukturen, als besonderes Phänomen sind die barras bravas aber erst ab Ende der 80er-Jahre sichtbar geworden. Das hat auch damit zu tun, dass es davor in den Stadien keine eigentlichen Fanblöcke gab, die AnhängerInnen der Vereine also mehr oder minder nebeneinander saßen. Mit der Zuweisung bestimmter Sektoren des Stadions an die Fans der einzelnen Vereine begann der Aufstieg der barras bravas. Innerhalb weniger Jahre bestimmten sie nicht nur die Choreographie und den Zugang zu den Blocks, sondern entwickelten sich mehr und mehr zur eigentlichen Ordnungsmacht in den Stadien.

Zwar haben mehrere Vereine in Uruguay barras bravas in ihren Fangemeinden, die umstrittenste kommt aber eindeutig aus den Reihen der Peñarol-Fans: die barra brava Amsterdam (benannt nach der gleichnamigen Peñarol-Fankurve im Centenario-Stadion). Wie viele Mitglieder sie zählt, ist nicht ganz klar, der „harte Kern“ wird jedenfalls auf einige Hundert geschätzt. Charakteristisch – nicht nur für Amsterdam – ist die streng hierarchische, militärisch anmutende Organisation. So besitzt Amsterdam etliche Untergruppen, die Entscheidungskompetenzen liegen aber bei wenigen Leuten an der Spitze der Struktur.

Dass eine solche Position durchaus lukrativ sein kann, zeigt sich immer wieder. Die barras bravas werden zum einen von den Vereinen finanziell unterstützt, sei es durch Freikarten und Geld-zuwendungen an die Führungsleute, zum anderen gibt es noch andere Einnahmequellen. So ist regelmäßig von mehr oder minder freiwilligen Spenden von Vereinsfunktionären und Spielern an die barras bravas die Rede und den Zugang zu den Fanblöcken lassen sie sich mitunter gut bezahlen. Bekannt geworden ist die „Drehgenehmigung“, die Amsterdam einem Dokumentarfilmteam für ihren Block erteilt hat, und sich mit einer Million Peso, umgerechnet über 30 000 Euro, vergüten ließ.

Daneben gibt es immer wieder Vorwürfe, dass sich Amsterdam auch über Drogenhandel, vor allem in den Stadien, finanziert. Was an den Vorwürfen dran ist, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Unstrittig ist allerdings, dass mehrere Mitglieder der barra brava zu Haftstrafen wegen Drogenhandels verurteilt wurden. Angesichts der straffen Hierarchie ist daher durchaus davon auszugehen, dass das Dealen nicht ohne Wissen der Führungsleute geschehen ist.

Die Schattenseite der realen Macht, die die Spitze der barras bravas besitzt, drückt sich in blutigen Machtkämpfen aus. Es ist schon generell traurige Realität, dass in Uruguay immer wieder Fußballfans sterben, weil sie von AnhängerInnen eines rivalisierenden Vereins im Streit umgebracht werden. Für die Spitzenleute der barras bravas besteht aber ein doppeltes Risiko. Einerseits sind sie explizit Zielscheibe gegnerischer Fans, andererseits werden sie auch Opfer interner Machtkämpfe. Allein aus den Reihen der barra brava von Peñarol fielen in den vergangenen Jahren sieben Menschen gezielten Mordanschlägen zum Opfer.

Dass angesichts dieser Zahlen manche Stimmen in Uruguay von den barras bravas als Teil der „Organisierten Kriminalität“ sprechen, ist durchaus nachvollziehbar. Umso erstaunlicher ist daher, mit welcher Zurückhaltung mitunter die Vereine gegenüber diesen Strukturen agieren. Auch hier steht vor allem Peñarol im Zentrum der Kritik. Der Verein habe – so der Vorwurf – in der Vergangenheit gezielt diese Strukturen gefördert, anstatt gegen sie vorzugehen. Dabei wird vor allem auf die internen Strukturen des Klubs verwiesen. 2008 vereinbarte der uruguayische Fußballverband mit dem Innenministerium ein Konzept, das die Gewalt in den Stadien eindämmen sollte. Darin wurde unter anderem der Aufbau einer verbindlichen OrdnerInnenstruktur angewiesen, die die Sicherheit in den Stadien verbessern sollte. Aber Peñarol interpretierte die Vereinbarung so, dass es die barras bravas sind, die am besten für Sicherheit sorgen können. Das hatte die Konsequenz, dass nicht nur 10 der 23 Mitglieder der vereinsinternen Sicherheitskommission vorbestraft waren, sondern dass die barras bravas auch offiziell zur Ordnungsmacht aufstiegen.

Dabei wurde Peñarol als Verein durchaus für das Verhalten der Fans sanktioniert. Geldstrafen, Punkteabzug und Spiele vor leeren Tribünen gehören seit Jahren zur Vereinsrealität. An dem Umgang mit den barras bravas hat sich aber trotz aller Strafen für den Verein praktisch nichts geändert. Teilweise wird das damit erklärt, dass die barras bravas mittlerweile so mächtig sind, dass die Vereinsfunktionäre sich davor fürchten, Maßnahmen gegen sie durchzusetzen. Andere Erklärungsansätze gehen wesentlich weiter und zielen auf die Funktionalisierung gewalttätiger Fanstrukturen ab.

Fußball hat in Uruguay immer etwas mit Politik zu tun. Das hängt mit der unglaublichen Popularität der Sportart zusammen. Allein Peñarol hat über 85 000 Mitglieder, Nacional nur unwesentlich weniger – das heißt, allein in den beiden großen Vereinen sind rund fünf Prozent der Bevölkerung eingeschrieben. Entsprechend sind zumindest die großen Vereine eng mit der offiziellen Politik verwoben und ein Schauplatz für politische Auseinandersetzungen. Beispielsweise ist Julio María Sanguinetti Ehrenpräsident von Peñarol und war zeitweise auch Vorsitzender der vereinsinternen Sicherheitskommission – und hat damit offiziell mit den barras bravas zusammengearbeitet. In den 80er- und 90er-Jahren war Sanguinetti zweimal Präsident Uruguays und ist immer noch eine der „grauen Eminenzen“ der Colorados, der rechtsliberalen Oppositionspartei. Solche Verbindungen haben unter anderem zur Folge, dass zumindest die beiden großen Vereine im Prinzip unantastbar sind. Peñarol etwa mit dem Ausschluss aus der Liga zu drohen, wäre schlicht und einfach undenkbar. Stattdessen werden die Vereinsprobleme zu gesellschaftlichen Problemen umdefiniert und damit politisch funktionalisiert.

Vergangenen Herbst war deutlich zu beobachten, wie dieser Prozess vonstatten geht. Bereits im Vorfeld des Clásico gab es schwere Ausschreitungen vor allem bei Peñarol-Spielen. Hinzu kam, dass kurz zuvor ein Peñarol-Fan von einem Anhänger der Nacionals getötet wurde. Unter diesen Bedingungen war klar, dass der Clásico nicht ohne großes Risiko stattfinden konnte. Zumal in Uruguay – anders als in Deutschland – die Polizei nicht in den Stadien präsent ist. Eine Woche vor dem Spieltermin verkündeten beide Vereine, dass sie die Sicherheit im Stadion nicht garantieren können und forderten Polizeikräfte an. Anfangs weigerte sich Innenminister Eduardo Bonomi noch beharrlich, der Bitte nachzukommen. Sein Argument war einleuchtend: es sei nicht die Aufgabe der Polizei, solche Veranstaltungen zu überwachen und sollten die Vereine nicht einen geregelten Ablauf garantieren können, dann findet der Clásico entweder vor leeren Rängen oder gar nicht statt.

Die Empörung war allerdings groß, verbunden mit dem Vorwurf, die Regierung kapituliere so vor den gewaltbereiten Fans. Als der Druck immer größer wurde, entschied Bonomi, doch Polizeieinheiten ins Stadion zu schicken und tappte damit endgültig in die politische Falle. Denn die Präsenz der Polizei war der Auslöser von auch im Amsterdam-Block selten gesehenen Ausschreitungen. Mobile Verkaufsstände wurden geplündert, und als ein Peñarol-Fan von der Tribüne eine große Gasflasche auf die Polizeieinheiten schleuderte, beschloss diese, das Stadion zu räumen. Danach wurde der Druck auf den Innenminister noch stärker. Die Opposition forderte seinen Rücktritt, da er nicht in der Lage sei, für Sicherheit zu sorgen und PolizistInnen in Lebensgefahr bringe. Außerdem wurde auf Initiative der Opposition ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum Thema Gewalt in Fußballstadien eingesetzt.

Das wäre an sich schon schlimm genug, allerdings ist die Auseinandersetzung mit Fangewalt nur ein kleines Mosaiksteinchen in dem – immer repressiver werdenden – allgemeinen Sicherheits-diskurs im Land. Das Thema „Sicherheit“ ist in Uruguay das einzige, in dem die rechte Opposition eine Hegemonie hat. Dabei ist die Situation durchaus paradox. Nach Chile ist Uruguay in Bezug auf Kriminalität das sicherste Land Südamerikas. Allerdings ist die öffentliche Wahrnehmung vollkommen gegensätzlich. Nach dem subjektiven Sicherheitsgefühl befragt, fühlt sich die uruguayische Gesellschaft im Vergleich zu den anderen Ländern des Subkontinents mit am bedrohtesten – nur in Venezuela liegt der Wert noch höher.

Entsprechend treibt die Opposition die Regierung und besonders Innenminister Bonomi in der „Sicherheitsfrage“ vor sich her – mit höchst bedenklichen Konsequenzen. Nicht nur, dass die uruguayische Polizei stetig aufgerüstet und die Videoüberwachung im öffentlichen Raum im großen Stil ausgeweitet wird, mittlerweile ist Uruguay auch das Land in Südamerika mit den meisten Gefangenen bezogen auf die Zahl der EinwohnerInnen. Und auch in den Stadien wird künftig mit modernster Überwachungstechnologie für „Sicherheit“ gesorgt.

Ob sich damit allerdings das Problem der barras bravas eindämmen lässt, ist ebenso fraglich wie, ob dies überhaupt das Ziel zumindest der Opposition war. Sie muss sich vielmehr den Vorwurf gefallen lassen, ihren Einfluss in den Vereinen nicht genutzt zu haben, um den barras bravas zumindest die finanzielle Unterstützung zu entziehen, vereinsintern nach Lösungen zu suchen und diese auch durchzusetzen. Vielmehr verfestigt sich der Eindruck, dass die Ausschreitungen zumindest billigend in Kauf genommen wurden. Denn schließlich hat sich der Fußball als taugliches Mittel erwiesen, den politischen Diskurs und auch die gesellschaftliche Realität wieder ein Stückchen nach rechts zu rücken.

Ach ja, wen es jetzt noch interessieren sollte: der Clásico am 5. April 2017 endete 1 : 1.