Helfen sollen sie im Haushalt, weil die eigene Familie nicht mehr für ihren Lebensunterhalt aufkommen kann, und im Gegenzug sollen sie ernährt werden und eine Erziehung erhalten. So jedenfalls sieht die Theorie für etwa 300 000 haitianische Mädchen und Jungen aus, die nicht bei ihren Eltern, sondern in fremden Haushalten leben. Als ein System gegenseitiger Hilfe könnte man es mit gutem Willen beschreiben, und vielleicht ist es auch ursprünglich eine Form des Helfens untereinander gewesen. Heute ist das System „Restavèk“ ein offenes Versklavungssystem für Kinder, die im Armenhaus des amerikanischen Kontinents groß werden.
Mehr als 200 Jahre, nachdem afrikanische ZwangsarbeiterInnen die französische Kolonialherrschaft abgeschüttelt und am 1. Januar 1804 die erste Republik Lateinamerikas ausgerufen haben, werden in Haiti Kinder wie Leibeigene behandelt. Nach einer Statistik des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen UNICEF gibt es in Ayití, so der Name Haitis in Kreyòl, etwa 173 000 Restavèk-Kinder. Die Dunkelziffer ist hoch, weiß Coleen Hedglin, die für die Stiftung „Fondasyon Jean-Robert Cadet“ gearbeitet hat, die sich um die kleinen KindersklavInnen kümmert. Cadet, der Stiftungsgründer, wuchs selbst als billige Arbeitskraft in einem fremden Haushalt auf und wanderte später in die USA aus. Hedglin schätzt die wirkliche Zahl der Kinder, die bei einer „Tante leben“, auf rund 300 000, seit dem Erdbeben von vor fast fünf Jahren, als beinahe 300 000 Menschen den Tod fanden, könnte die Zahl noch einmal gestiegen sein. Dazu kommen nach Schätzungen der Vereinten Nationen rund 3000 Kinder, die auf den Straßen vor allem von Port-au-Prince leben, weil sie kein Zuhause mehr haben.
Der Tagesablauf für Kinder wie Valentine, Michel-Ange, oder Jonathan gleicht sich bis auf wenige Details. Bereits im Morgengrauen beginnt das beschwerliche Tagwerk: Aufstehen, Feuer machen, den Hof kehren, die Zimmer putzen und dann Wasser holen. Valentine geht in ihrer Gastfamilie jeden Tag als Letzte ins Bett und muss jeden Tag als Erste aufstehen – um vier Uhr. Sie lebt in Wharf Jérémie direkt am Meer, einem Armenviertel mit windschiefen Holzhäusern und schmalen verwinkelten Gässchen, viele Wege sind aus Lehm. In Wharf Jérémie, wo die Fährschiffe aus dem Südwesten des Landes anlegen, wohnen die Ärmsten der Armen.
Die Siebenjährige facht dann das Holzkohlefeuer an und bereitet aus dem übrig gebliebenen Reis des Vortags das kärgliche Frühstück für die Familie, Vater, Mutter und die drei leiblichen Kinder. Wenn etwas übrig bleibt, was selten der Fall ist, bekommt sie die Reste. Danach muss sie Betten in der Einraumbehausung aus Betonsteinen und Wellblechdach machen und den Fußboden kehren und feucht durchwischen. Anschließend geht sie, meist mehrmals am Tag, mit einem 20-Liter-Eimer zur Wasserstelle des Viertels, die sich in knapp einem halben Kilometer Entfernung befindet. „Ihre Tante“, so nennt Valentine die Frau, bei der sie wohnt, verkauft Fettgebackenes im Viertel, und auch für die Herstellung des Teigs ist das spindeldürre Mädchen verantwortlich. Die Kinder des Ehepaares müssen nicht helfen, schließlich gibt es Valentine, die für die ungeliebten Hausarbeiten zuständig ist.
Aber auch in Reichenhaushalten finden sich Restavèk. Sie kehren den Hof, öffnen das Garagentor, wenn der Hausherr aus dem Geschäft oder Madame aus der Shopping Mall heimkehrt. Im Alltag sind sie weitgehend unsichtbar, hinter den hochgezogenen Mauern der privilegierten Häuser oder den Holzbrettern der Barackensiedlungen in den Armensiedlungen. Aber nicht nur auf die haitianische Metropole Port-au-Prince beschränkt sich diese Form der Kinderausbeutung, auch in anderen Landesteilen und bäuerlichen Regionen finden sich Restavèks, ebenso wie in der Dominikanischen Republik, wo bis zu einer Million „Haitianos“ als ArbeitsmigrantInnen leben.
Die Lebensgeschichten fast aller Restavèks gleichen sich. Sie kommen aus abgelegenen Regionen, ihren Eltern fehlt das Geld, um ihnen eine bessere Zukunft zu bieten. „Das Problem der Restavèk-Kinder ist eine Frage der Armut in Haiti“, sagt Alinx Jean-Baptiste, der Leiter der deutschen Kindernothilfe in Haiti. „Auf dem Land gibt es kaum Arbeit und nur wenige Schulen. Viele glauben, in der Stadt ginge es den Leuten besser, man könnte lernen, eine Arbeit finden und später die eigene Familie unterstützen“, fasst Jean-Baptiste die Motive zusammen, die Familien in den gebirgigen Regionen des Landes dazu bringen, ihre Kinder wegzugeben. Aber das ursprüngliche familiäre Solidarsystem ist längst pervertiert.
Über zwei Drittel der Bevölkerung Haitis haben keine feste Arbeit, ihr Einkommen erzielen sie mit Gelegenheitsarbeiten oder aus Überweisungen von im Ausland lebenden Verwandten (Remesas). Mit rund vier Milliarden US-Dollar stellen die Remesas den größten Anteil bei den Deviseneinnahmen des Landes. 78 Prozent der Haitianer und Haitianerinnen müssen den täglichen Lebensunterhalt mit weniger als 1,50 Euro bestreiten. Statistisch betrachtet haben 54 Prozent der etwa zehn Millionen Menschen noch nicht einmal diese Summe zur Verfügung. Sie müssen mit weniger als 70 Eurocent am Tag überleben.
Hungrige Kindermünder gibt es im „Land der Berge“ viele: Durchschnittlich 3,72 Kinder gebärt eine Frau in dem Land, das sich mit der Dominikanischen Republik die zweitgrößte Karibikinsel Hispaniola teilt. Haiti ist nicht nur das Armenhaus des Kontinents, sondern auch eines der Länder mit der durchschnittlich jüngsten Bevölkerung: 34 Prozent der EinwohnerInnen sind unter 14 Jahre alt (1,701 Mio. Jungen, nur geringfügig weniger Mädchen mit 1,693 Mio.), fast 60 Prozent sind unter 24 Jahren. Mit 2,6 Millionen liegt der Anteil von Kindern, die arbeiten gehen, ebenfalls extrem hoch.
Valentine und Jonathan sind zwei Beispiele für Restavèk-Kinder, die in einer fremden Familie aufwachsen. Der kreolische Ausdruck leitet sich aus dem Französischen „rester avec“ ab und bedeutet, bei jemandem bleiben. Manchmal finden Restavèk-Kinder Unterkunft und ein neues Zuhause bei nahen und fernen Verwandten, viel öfter aber werden sie von fremden Menschen aufgenommen, weil sie eine billige Arbeitskraft benötigen.
Der Lebensweg der kleinen Valentine ist deshalb typisch. Sie kam mit drei Jahren zu ihrer „Pflegefamilie“ in den Stadtteil der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Ursprünglich lebte sie, so viel weiß sie zu erzählen, eine Tagesreise von Port-au-Prince im Süden des Landes. Über ihre leibliche Familie weiß sie dagegen nur zu berichten, dass „Vater und Mutter gestorben“ sind. Eine Frau brachte sie dann nach Port-au-Prince und gegen ein „Entgelt“ bei ihrer jetzigen Tante unter.
In den Slums der Großstädte gibt es viele Mütter, die allein für den Familienunterhalt sorgen müssen und sich keine bezahlte Haushaltshilfe leisten können. Sie suchen dann nach einer unbezahlten Hilfe. Sogenannte Courtiers (Makler) besorgen in den ländlichen Regionen gegen Provision die kleinen Arbeitssklaven. Den Eltern versprechen die Courtiers das Blaue vom Himmel: gutes Essen für das Kind, ein eigenes Zimmer und den Besuch einer Schule.
Aber nicht nur Mädchen verbringen ihre Kindheit und Jugend bei Fremden. Rund 30 Prozent der Restavèks sind Jungen, wie Jonathan. Seit seinem neunten Lebensjahr lebt er bei seiner „Tante“ und seinem „Onkel“. Er ist „Mädchen für alles“ und bringt die Kinder der „Gastfamilie“ zur Schule und holt sie nach Schulschluss wieder ab. Jonathan ist morgens der Erste, der aufsteht, und abends, wenn alle sich hingelegt haben, der Letzte, der sich im Wohnzimmer auf der Erde aus alten Decken ein Bett bauen darf.
Dazu kommt, dass die Kinder immer wieder sexueller Belästigung und Missbrauch durch „Stiefvater“ oder die Kinder der Familie ausgesetzt sind. Viele werden misshandelt und geschlagen, kein Hahn kräht danach, wenn Valentine sich wieder mal „dumm angestellt hat“ und sie dafür Dresche bezieht. Zwar ist das Thema der Restavèks inzwischen kein Tabuthema mehr, geändert hat sich allerdings nur wenig. Organisationen wie die Cadet-Stiftung oder die Kindernothilfe aus Deutschland kümmern sich zwar um die bei der „Tante lebenden“ Kleinen, aber das System an sich stellen nur wenige in Frage, denn es ist so praktisch, und die Profitrate in Form von unbezahlter Hilfsarbeit enorm hoch. Noch auf der untersten gesellschaftlichen Skala hat man jemanden, der einem die Arbeit macht und den man mit Füßen treten kann. Staatliche Einrichtungen, in denen die große Zahl der „Gastkinder“ untergebracht oder betreut werden könnten, gibt es nicht, private nur wenige.
Nicht verwunderlich, dass nur wenige der um die 300 000 Jungen und Mädchen lesen und schreiben können. Mit allerdings kleinen Anreizen auch für die „Gastfamilien“ müssen Hilfsorganisationen arbeiten, um die Kinder wenigstens zeitweise am Tag in eigene Schulen und Tagesstätten zu holen. Mit psychologischem Geschick werden „Tante und Onkel“ überzeugt, dass Valentine und Jonathan gemeinsam mit Michel-Ange in die Schule der Hilfsorganisationen gehen dürfen und dort nicht nur von PsychologInnen betreut, sondern auch verköstigt werden. Dies ist oft der Einstieg, um dann zuerst mit den Kindern und dann auch mit den Familien ins Gespräch zu kommen, um die Situation der Restavèks zu verbessern oder sie aus unerträglichen Lebensumständen herauszuholen.