Schutz statt Verbot

Die Forderungen der arbeitenden Kinder gehen auf viele Jahre ihrer Organisierung zurück. Es gab Mobilisierungen, lange bevor die MAS an die Regierung kam, die 2007 die Verfassunggebende Versammlung auf den Weg gebracht hat. Silvia Lazarte, die Präsidentin der Versammlung, fragte terre des hommes an, ob wir die Erarbeitung der neuen Verfassung in den Themenbereichen Frauen und Kinder aus einer Perspektive des „Vivir Bien“ unterstützen könnten. Diese Aufgabe haben dann drei Projektpartnerinnen mit einem kleinen Honorar von uns übernommen. Wir waren guter Dinge, es gab kontinuierliche Rückmeldungen auch von der „Union arbeitender Kinder und Jugendlicher Boliviens“ (UNATSBO).

Aber Organisationen wie UNICEF oder die Internationale Arbeitsorganisation ILO hatten voll funktionierende Büros bei der Verfassunggebenden Versammlung. Und dann bekamen wir einen Anruf von Brandon Villalba. Der damals 17-Jährige war Sprecher der UNATSBO und gehörte zu einer Delegation, die den Verfassungsprozess für die UNATSBO begleiten sollte. Brandon informierte uns, dass der Entwurf des Verfassungstextes das Verbot der Kinderarbeit enthielt. Sie brauchten Verbündete.

Wir nahmen deshalb Kontakt mit dem heutigen Vizepräsidenten David Choquehuanca auf, der damals Außenminister war und als Aymara vom Land die andinen Kulturen versteht. Seine Bedingung für ein Gespräch: Er wollte alleine mit den Kindern reden. Es gab bei der MAS eine große Skepsis gegenüber den NRO und internationalen Organisationen.

Brandon und die anderen Leitungsmitglieder der UNATSBO trafen sich also hinter verschlossenen Türen mit David Choquehuanca. Eine Stunde war angesetzt, am Ende wurden es drei. Er habe ihnen auch erzählt, wie er selbst als Kind gearbeitet habe, und dass er ihr Anliegen ohne diese Erfahrung schwer verstanden hätte. Man einigte sich darauf, dass er mit Silvia Lazarte und anderen Mitgliedern der Verfassunggebenden Versammlung reden werde. Man brauchte allerdings auch jemanden, der die juristische Seite bearbeiten konnte.

Das war Rebeca Delgado von der MAS, die sich schon früher auf kommunaler Ebene für arbeitende Kinder eingesetzt hatte und sehr offen war. Damals spielte sie als Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung im MAS eine wichtige Rolle.

Während der Artikel 61 in der Versammlung letztendlich diskutiert wurde, stand sie über das Mobiltelefon mit uns in Cochabamba und wir mit den Kindern der UNATSBO in La Paz in Kontakt. „Seid ihr damit einverstanden, wenn der Text dahingehend geändert wird, dass Zwangsarbeit und Ausbeutung von Kindern verboten wird?“ Ja, damit waren sie einverstanden. Und dazu kam dann noch die Anerkennung der bildenden Funktion von Arbeit, wenn sie in geschütztem Rahmen geschieht. Delgado las die endgültige Formulierung noch einmal vor, und die Kinder waren sehr zufrieden. An solchen Prozessen lag es auch, dass die Verfassung weitgehend in einer sehr verständlichen Sprache abgefasst ist.

Um all das abzusichern, haben sich die Kinder und Jugendlichen der UNATSBO dann am Tag darauf noch einmal in La Paz mit Silvia Lazarte und dem damaligen Vizepräsidenten Álvaro García Linera getroffen. Lazarte war ohnehin auf ihrer Seite und García Linera reagierte diplomatisch: Er werde die Position der UNATSBO respektieren. Am 9. Dezember wurde der Text dann verabschiedet. Aber wenn die UNATSBO nicht aufgepasst und Alarm geschlagen hätte, wäre alles anders gekommen.

Kaum war die Verfassung verabschiedet, mobilisierte sich die UNATSBO erneut für das Kinder- und Jugendgesetz, das die Einzelheiten regeln sollte. Es war ihre Initiative. terre des hommes hat das damals mit einer kleinen Summe für einen Konsultationsprozess mit den arbeitenden Kindern in unterschiedlichen Landesteilen unterstützt. Die zentrale Frage war: Wie die Kinder denn nun geschützt werden sollen, wenn sie arbeiten? Da sahen sie den Staat in der Verantwortung. Die Vereinten Nationen bestanden zusammen mit konservativen Organisationen dagegen darauf, den Tenor der Verfassung selbst zu ändern und Kinderarbeit zu verbieten. Sie meinten, die Erwachsenen wüssten besser, was den Kindern nützt.

Nachtrag:
Die ila hat über die nachfolgenden Konflikte immer wieder berichtet, weshalb dies an dieser Stelle nicht alles wiederholt werden muss (https://www.ila-web.de/ausgaben/379/bolivien-geht-neue-wege • siehe auch das Interview „Kein Gesetz, das nur auf dem Papier steht“ mit dem damaligen Senator Adolfo Mendoza in der ila 376 vom Juni 2014).

Das Kinder- und Jugendgesetz, das den Schutz arbeitender Kinder statt des Verbots der Kinderarbeit in den Mittelpunkt gestellt hatte, wurde im In- und Ausland heftig kritisiert
(https://www.ila-web.de/ausgaben/389/dogma-statt-argumente). Im Europaparlament wurden zeitweise Wirtschaftssanktionen diskutiert, aber am Ende weder dort verabschiedet noch von der Europäischen Kommission umgesetzt. Das bolivianische Verfassungsgericht erklärte das Gesetz und damit die Verfassung mit Verweis auf höherrangige internationale Abkommen für verfassungswidrig, was vor allem auf einer sprachlichen Fehlinterpretation beruhte: Der Begriff „Child Labour“ ist nicht identisch mit dem Arbeitsbegriff, der in der bolivianischen Gesetzgebung Verwendung fand. Das zuständige Ministerium tat dann nichts mehr, um die Schutzmechanismen umzusetzen (https://www.ila-web.de/ausgaben/410/globalisierung-der-w%C3%BCrde).

Als auch noch die USA mit Handelssanktionen drohten, knickte die bolivianische Regierung schließlich ein und setzte ein Verbot der Arbeit von Kindern ab zehn Jahren anstelle ihres Schutzes. „Kinderarbeit verschwindet nicht durch ein Gesetz“, betonte damals die Sprecherin der arbeitenden Kinder von La Paz, Nadia Mendoza (https://www.ila-web.de/ausgaben/424/kinderarbeit-verschwindet-nicht-durch-ein-gesetz). Und weil das auch den staatlichen Stellen immer deutlicher wurde, machten das Justizministerium und das nationale Ombudsbüro 2020 wieder eine Kehrtwende. Sie suchten den Kontakt mit der UNATSBO, um sich gemeinsam an Vorschläge für den Schutz von arbeitenden Kindern zu machen. Laut Regierungsstudie von 2019 sind 724000 Kinder und Jugendliche in Bolivien erwerbstätig, 56% von ihnen sind unter 14 Jahre alt. 41% arbeiten unter Bedingungen, die ihrer Entwicklung schaden können oder gefährlich sind. Der Staat, kritisierte Ombudsfrau Nadia Cruz am Tag des Kindes 2022, komme seiner Aufgabe nicht nach, diese Kinder und Jugendlichen zu schützen. Der Verfassungsartikel 61 hat bis heute so Bestand, wie er damals mit den Kindern vereinbart wurde.