Showdown für Brasiliens Demokratie

Brasiliens junge Demokratie steht bei der sich abzeichnenden Wahlniederlage Bolsonaros vor einem Belastungstest. Ob sie den ebenso übersteht wie ihre US-amerikanische Schwester vor und nach dem Sturm auf das Kapitol, ist keineswegs sicher. Es besteht mindestens ein zentraler Unterschied: In Brasilien haben unter Bolsonaro führende Militärs nicht nur strategisch wichtige Ministerien übernommen, sondern es haben sich zudem Hunderte ihrer Gefolgsleute im Staatsapparat sowie in Wirtschaftsbetrieben mit Beteiligung der öffentlichen Hand breit gemacht – die meisten ohne einschlägige Kenntnisse der ihnen anvertrauten Aufgaben, aber finanziell gut versorgt und im festen Glauben, das Vaterland, und speziell das Amazonasgebiet, gegen Kommunisten, Kriminelle und andere subversive Elemente zu verteidigen.

Dabei ist Bolsonaros oftmals paranoid anmutendes Gebaren, insbesondere sein unnachgiebiges und vorsätzliches Säen von Falschinformationen und Hass gegen „Kulturmarxisten“, Minderheiten und Intellektuelle, im Grunde völlig untragbar. Aber nicht einmal die zahlreichen Korruptionsskandale, in die zuletzt auch evangelikale Pastoren verwickelt waren, sowie die offenkundige Vetternwirtschaft haben die führenden Militärs von ihrem Statthalter abrücken lassen.

Angesichts der widrigen Umstände, die Bolsonaros Wiederwahl nachhaltig gefährden, läuft in den sozialen Medien und Netzwerken die ihn unterstützende Propaganda bereits vor der offiziellen Eröffnung des Wahlkampfes auf Hochtouren. Zweifelsohne kommt diesen in Brasilien eine herausragende Rolle bei der öffentlichen Meinungsbildung zu – vergleichbar der Situation auf den Philippinen, wo es dem Sohn des Ex-Diktators Ferdinand Marcos gelungen ist, die kollektive Erinnerung an diese Schreckensherrschaft zu seinen Zwecken derart umzudeuten, dass er schließlich mit dem Versprechen von geordneten Verhältnissen und der Rückkehr in die „gute alte Zeit“ demokratisch zum Präsidenten gewählt wurde. Im Fokus der Agitation Bolsonaros: die elektronischen Wahlurnen, deren Sicherheit ohne Vorlage stichhaltiger Informationen angezweifelt wird.

Gleichzeitig werden unseriöse Meinungsumfragen über eine rasante Aufholjagd und einen bevorstehenden Wahlsieg Bolsonaros lanciert und durch die sogenannten digitalen Milizen wirkmächtig verbreitet. Dabei funktionieren die Wahlurnen seit über 25 Jahren tadellos – so zuletzt auch bei der Wahl Bolsonaros im Jahr 2018, dem damals jedoch nicht in den Sinn kam, irgendwelche Bedenken an diesem Ergebnis anzumelden. Heute aber benutzt er die gezielt gestreuten Zweifel unter anderem als Druckmittel, um Zugriff auf das an sich gut geschützte Herz dieses automatisierten Wahlsystems zu erlangen. Seit Monaten versucht insbesondere das von Militärs geführte Verteidigungsministerium, von ihm handverlesene „unabhängige Beobachter“ in die Wahlgerichtsbarkeit einzuschleusen. Sie haben hierzu Dutzende entsprechender Anträge gestellt, die bislang jedoch allesamt erfolglos blieben. Es ist freilich mehr als alarmierend, dass sich die Streitkräfte überhaupt dazu ermächtigt fühlen, sich aktiv in diese zivile Angelegenheit einzumischen. Bolsonaro dient derweil die vermeintliche Weigerung der Justiz, für Transparenz und Kohärenz bei den anstehenden Wahlen zu sorgen, dazu, relativ unverhohlen mit einem Staatsstreich zu drohen, sollte das Wahlergebnis nicht zu seinen Gunsten ausfallen.
Bereits vor der letzten Wahl haben führende Militärs wie zum Beispiel Vizepräsident Hamilton Mourão einen solchen Selbstputsch (autogolpe) im Falle „anarchischer Zustände“ öffentlich in Erwägung gezogen. Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Einschreitens der Streitkräfte wird der hochkontroverse Artikel 142 der Bundesverfassung aus dem Jahr 1988 ins Feld geführt. Eine Mindermeinung liest in dieser Vorschrift eine moderierende Rolle (poder moderador) des Militärs bei Konflikten zwischen den Staatsgewalten sowie ein Interventionsrecht zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung im Inneren. Vor diesem Hintergrund sucht der Präsident aktiv nach Konflikten mit anderen Verfassungsorganen, wobei sich die Angriffe neben dem Obersten Wahlgerichtshof vor allem gegen den Obersten Bundesgerichtshof richten – den in Deutschland auch schlicht als Verfassungsgericht bezeichneten Supremo Tribunal Federal (STF). Dieser hat nicht nur den 580 Tage lang menschenrechtswidrig inhaftierten und von der Wahl ausgeschlossenen Widersacher Lula von allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen freigesprochen, sondern bearbeitet derzeit zahlreiche Verfahren, die Bolsonaro und seinen Gefolgsleuten nach seiner Abwahl gefährlich werden könnten.

Jüngstes Beispiel für eine gezielte Provokation Bolsonaros war die Begnadigung des rechtsradikalen Kongressabgeordneten Daniel Silveira nur einen Tag, nachdem er vom STF zu knapp neun Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Dieser hatte u.a. die Militärdiktatur verherrlicht, zum Sturm auf den Gerichtshof aufgerufen und in Videos dessen Richterinnen und Richter bedroht. Zwar ist der Missbrauch des präsidialen Begnadigungsrechts offenkundig und kaum erträglich, dennoch hat sich das Gericht nicht zu Durchsetzungsmaßnahmen – wie zum Beispiel den Erlass eines Haftbefehls – hinreißen lassen, welche die Verfassungs- und Institutionenkrise weiter zugespitzt hätten. Vielmehr konzentrieren sich die justiziellen Anstrengungen im Falle Silveiras neben Kontosperrungen darauf, seine erneute Kandidatur rechtskräftig unterbinden zu lassen, um ihn sodann nach dem Verlust seiner (bereits kassierten) Immunität strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Dennoch fragt man sich, ob der Präsident, der in autokratischer Manier das Letztinterpretationsrecht über die Verfassung für sich in Anspruch nimmt, das Begnadigungsrecht alsbald zu weiteren Provokationen einsetzen wird.

Noch hat es Bolsonaro nicht geschafft, sich die Justiz und insbesondere den Obersten Wahl- sowie Bundesgerichtshof zu unterwerfen. Trotzdem konnte er sie aber signifikant schwächen und diskreditieren.

Parallel zu dieser systematischen Demütigung des Rechtsstaates redet er seinen Anhänger*innen unermüdlich ein, dass nur eine Wahlfälschung seine Wiederwahl vereiteln könne: Letztere sei von Volk und Gott gewollt. Vielen dieser Anhänger*innen gilt es als Zeichen, dass er den Zweitnamen „Messias“ trägt, andere verklären ihn frenetisch zum „Mythos“. Es ist vor allem diese Klientel, die sich in den vergangenen drei Jahren mit Hunderttausenden von Schusswaffen eingedeckt hat, deren Erwerb von Bolsonaro entscheidend erleichtert wurde.

Den meisten informierten Beobachter*innen ist daher völlig klar, dass Bolsonaro die Lunte ans Fass legen wird, sobald er sich begründete Hoffnung machen kann, mit einem Putsch durchzukommen. Ein Szenario ist, dass er hierzu Chaos und Gewalt gegen die Justiz oder protestierende Oppositionelle anzettelt, um sodann den Interventionsfall gemäß Artikel 142 der Bundesverfassung oder gar den Ausnahmezustand verkünden zu können. Setzt er nämlich nach feststehender Wahlniederlage seine aufgebrachten Anhänger*innen in Bewegung, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach gewalttätige Proteste und Gegenproteste geben, deren Deeskalation die brasilianischen Sicherheitskräfte – unter ihnen viele Bolsonaro-Unterstützer – entweder nicht leisten können oder wollen.
Im Grunde sind sich alle der Tatsache bewusst, dass in den kommenden Monaten nichts Geringeres als die Zukunft der brasilianischen Demokratie und der zu ihrer Verteidigung rechtsstaatlich legitimierten Institutionen auf dem Spiel stehen. Der Versuch Lulas, ein möglichst breites, bis tief in das konservative Lager reichendes Wahlbündnis zu formieren, beruht offenkundig gerade auch auf dem Gedanken, dass nur im Falle einer krachenden, absolut eindeutigen Niederlage Bolsonaros sich jene Militärs aus Staat und Politik zurückziehen werden, die derzeit noch hoffen, dass ihre Mission noch nicht zu Ende ist. Bei einem solchen Wahlergebnis wäre es für diese Gruppe, die keineswegs repräsentativ für Brasiliens Streitkräfte ist, äußerst risikoreich, das Wagnis eines Putsches mitzutragen, da dieser eines legitimierenden Narrativs bedarf. Zudem wird der Haltung der USA und Europas besonderes Gewicht zukommen.

Doch nicht nur in Venezuela, sondern auch in vielen anderen lateinamerikanischen Staaten haben die Militärs immer wieder bewiesen, dass ihnen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wenig bedeuten, wenn es um handfeste eigene Interessen geht. Bleibt zu erinnern, dass es zur Errichtung einer Diktatur nur einer gewaltbereiten Minderheit bedarf – und dass in der logistisch überschaubaren Hauptstadt Brasília sämtliche Verfassungsorgane auf engstem Raum konzentriert sind.