Ivonne Ramírez gehört zum Netzwerk der mapeadoras de feminicidios (Kartiererinnen von Feminiziden). Nachdem Helena Suárez Val sie und andere mapeadoras vor etwa anderthalb Jahren über Facebook kontaktiert hatte, stehen sie über Social Media in Kontakt, haben eine WhatsAppgruppe, in der sie Aufrufe und Ausschreibungen teilen, sich um Rat fragen und gegenseitig unterstützen. Auf einem lateinamerikaweiten Treffen kritischer Geograf*innen in Quito lernten sich die Frauen aus Mexiko, Uruguay, Argentinien und Ecuador im April endlich auch persönlich kennen. Sie alle eint die jahrelange nervenzehrende (unbezahlte) Arbeit, Daten zu Feminiziden zu sammeln und diese auf interaktiven Onlinekarten zugänglich zu machen.
Ivonne Ramírez widmet sich dieser Aufgabe seit 2015, nachdem sie zuvor in literarischen Projekten mit Angehörigen der Opfer zusammengearbeitet hatte. Auf ellastienennombre.org („Sie haben einen Namen“) sammelt sie Daten zu Frauenmorden in Ciudad Juárez, der mexikanischen Grenzstadt, die um das Jahr 2010 als gefährlichste Stadt der Welt galt und noch immer eine der höchsten Frauenmordraten weltweit aufweist. Die Karte zeigt Feminizide seit 1993, dem Jahr, das als Startpunkt der Serie von Frauenmorden in Juárez gilt. Die Ursachen für die Mordserie mit dem absurd hohen Gewaltlevel sehen Menschenrechtsaktivist*innen in der perfiden Verflechtung verschiedener Elemente. Da ist zum einen das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, das 1994 in Kraft trat. In dessen Folge siedelten sich viele Maquiladoras in Ciudad Juárez an, jene Fabriken, in denen unter zum Teil katastrophalen Arbeitsbedingungen günstig produziert wird, vor allem für den US-Markt, und in denen hauptsächlich arme, aus anderen Regionen Mexikos immigrierte Frauen arbeiten. Hinzu kommen der Drogenkrieg, Menschenhandel und die Verstrickungen von Drogenkartellen und Polizei, die brutale Männlichkeitsideale stärken und ein Klima der Straflosigkeit fördern. Täter haben in den seltensten Fällen mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Dies alles perpetuiert herrschende Geschlechterbilder und lässt den Wert eines Menschenlebens sinken. Auch wenn es seit 2012 ruhiger geworden ist in der Grenzstadt (es gibt weniger Morde und Frauenmorde, die Strafverfolgung wird effizienter), ist Juárez weiterhin die mexikanische Stadt mit der höchsten Frauenmordrate. Feminizide passieren schließlich nicht nur im Zusammenhang mit Organisiertem Verbrechen, sondern vor allem in Verwandtschafts- und Paarbeziehungen. 93 Feminizide hat Red Mesa de Mujeres („Netzwerk Tisch der Frauen“) noch im Jahr 2017 registriert.
All diese Feminizide stellt Ivonne Ramírez auf der interaktiven Google-Maps-Karte dar. Zu sehen ist Ciudad Juárez, übersät von roten Punkten. Jeder Punkt steht für einen Feminizid, verortet dort, wo die Frau verschwunden ist, ermordet oder aufgefunden wurde. Durch Klicken auf einen Punkt öffnet sich eine Liste mit Informationen zu der Ermordeten: Name, Alter zum Todeszeitpunkt, Datum des Verschwindens, der Tat oder des Auffindens, Adresse, Beschreibung der Tat. In einigen Fällen ist auch ein Foto der Frau oder des Tatorts (jedoch niemals der Leiche) zu sehen. Ivonne Ramírez gibt den ermordeten Frauen von Juárez damit ein Stück Würde zurück. Sie werden von erschütternden statistischen Zahlen zu Menschen mit einer Geschichte. Diese Arbeit hat Ivonne Ramírez in den letzten Jahren oft den Schlaf geraubt, nicht nur, weil sie sich permanent mit krudester Gewalt beschäftigt, sondern auch, weil sie sich plötzlich in einer Machtposition wiederfindet. Wie geht sie damit um, wenn es zu einem Mord widersprüchliche Angaben gibt? Wenn die Staatsanwaltschaft den vermeintlichen Namen der Toten veröffentlicht, die Familie aber bestreitet, dass es sich um diese Person handelt? Entscheiden zu müssen, ob sie auf ihrer Homepage eine Frau für tot erklärt wird oder nicht, stellt Ivonne Ramírez vor große ethische Dilemmata. Dazu kommt, dass sie sich immer wieder dem Vorwurf stellen muss, sie mache sich die Gewalt gegen Frauen zunutze, um Fördergelder abzugreifen. Sie betont daher auf ihrer Homepage, dass sie keinerlei finanzielle Förderung für das Projekt erhält, obwohl sie sich täglich etwa drei Stunden dem Monitoring von Zeitungsartikeln und anderen Veröffentlichungen widmet, um die Karte ständig zu aktualisieren. Die Eigendynamik von Social Media wie Facebook betrachtet sie allerdings mit Skepsis. Was macht es mit uns, wenn die Leute in unserer Filterblase hundertfach zum Teil explizite Gewaltbilder teilen? Zu einer Normalisierung von Gewalt will sie nicht beitragen.
Angst, Feministin in Juárez zu sein und öffentlich Gewalt gegen Frauen anzuklagen, hatte sie aber nie. Vielmehr war es notwendige Konsequenz, in Juárez Feministin zu sein, denn die Angst, Frau zu sein, begleitete Ivonne Ramírez damals stetig. Seit allerdings auf einer feministischen Kundgebung Militärs eine Waffe auf ihre beiden Kinder richteten, geht sie nicht mehr auf Demonstrationen. Und als 2010 die Gewalt in Ciudad Juárez explodierte, zog sie mit ihrer Familie weg, erst nach Mexiko-Stadt, dann in die USA. Sie will keine Märtyrerin sein und kritisiert den totalitären Anspruch mancher linken Bewegung, den Körper und das Leben für die Bewegung geben zu müssen. Dennoch ist Ivonne Ramírez davon überzeugt, dass der feministische Kampf nicht nur online zu denken ist, sondern auch und gerade auf den Straßen stattfindet.