Sie kannten die Wege und Gefahren

Hätte Humboldt den Weg durch Lateinamerika alleine gefunden? Natürlich nicht, und so musste ich auch sofort an die „Fragen eines lesenden Arbeiters“ von Bertolt Brecht denken, die dem Buch „Im Schatten der Entdecker“ vorangestellt sind:

Der junge Alexander eroberte Indien. – Er allein?
Cäsar schlug die Gallier. – Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

Auch gab es, wie Volker Matthies im Vorwort ausführt, schon vor dem europäisch geprägten „Zeitalter der Entdeckungen“ in der chinesischen und in der arabisch-islamischen Gesellschaft Entdeckergestalten und Forschungsreisende, die oft die Grundlagen für die europäischen Nach-Entdecker legten. Erst später gelang es den Europäern, dank ihrer fortgeschrittenen nautischen, kartografischen, technischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten, wichtige Entdeckungs- und Forschungsreisen in allen Teilen der Welt zu dominieren.

Wenn sie dabei nicht auf den Spuren der chinesischen und arabischen Routen reisten, folgten europäische Pelzhändler und Entdecker in Nordamerika den etablierten Handelsrouten und „Wasserstraßen“ der Indigenen im Gebiet der Großen Seen und der angrenzenden Flusssysteme. Bei der Erkundung des Colorado-Plateaus im Südwesten Nordamerikas orientierten sich die spanischen Konquistadoren an den bestehenden Fernhandelsrouten der dortigen Indigenen.

Dabei benötigten die Forscher und Entdecker Helfer, Träger*innen, Köche und Köchinnen und Heiler*innen sowie vor allem Ortskundige, die nichts mehr entdecken mussten, weil sie in der für Europa zu entdeckenden Welt lebten. In den oft glorreichen und heldenhaften Reiseberichten waren sie meist kaum der Rede wert und wurden dem Vergessen überlassen. Trotz der deswegen vergleichsweise eher spärlichen Informationen hat sie der Politikwissenschaftler Volker Matthies gesucht und vielfach wiedergefunden. Sein Anliegen besteht in einer Entkolonisierung und Entheroisierung der europäischen Entdeckungsgeschichte. Er arbeitet wissenschaftlich heraus, dass die europäischen Entdecker und Forscher weder heroische Einzelkämpfer noch allwissende oder allmächtige Helden-gestalten waren. Er belegt, dass sie bei ihren Expeditionen in erheblichem Maße auf die Begleitung, Hilfe und Unterstützung durch Angehörige indigener Gesellschaften angewiesen waren. Der Erfolg vieler europäischer Unternehmungen war letztlich vor allem den Landes- und Sprachkenntnissen sowie den Reise- und Überlebenstechniken der Indigenen und deren diplomatischen Fähigkeiten im Umgang mit lokalen politischen Akteuren und Ethnien zu verdanken.

Matthies stellt in seinem Buch „Im Schatten der Entdecker“ das Leben, das Wirken und die Bedeutung indigener Begleiter*innen in den Mittelpunkt der Betrachtung. In einem ersten systematischen Teil wird die vielfältige Bedeutung der indigenen Begleiter*innen in der Geschichte der Entdeckungen hervorgehoben, illustriert mit Beispielen aus Asien, Afrika, Australien und Amerika. Am Beispiel der Südamerikareise Alexander von Humboldts macht er deutlich, wie facettenreich der Anteil indigener Begleiter*innen an dem Erfolg war.

Dann werden ausgewählte Indigene in ihren individuellen Lebensläufen durch zahlreiche Abbildungen, Zeichnungen und Fotos vorgestellt und gewürdigt. Dabei geht Matthies auch der Frage nach, warum die Europäer bei ihren Missionen ausreichend Unterstützung fanden. Bis auf die vielen Zwangsrekrutierten gab es dabei genug subjektiv verständliche Eigeninteressen. Die Sklavin Malinche (Übersetzerin und Begleiterin von Cortés) als „Kriegsbeute“ wechselte mit den Spaniern nur den Besitzer. Ihre Loyalität, so Matthies, galt daher aus pragmatischen Gründen einzig und allein dem Konquistador Cortés, dem sie ihr Leben und ihre privilegierte soziale Stellung verdankte. Dabei nutzte Malinche ihre bemerkenswerten sprachlichen und interkulturellen Fähigkeiten, um in schwierigen Zeiten ihr Überleben zu gewährleisten. Für sie persönlich wird es wenig gezählt haben, dass sie im spanischen Interesse zur kolonialen Okkupation Mexikos und Zentralamerikas beigetragen hat.

So waren sich wohl die meisten indigenen Begleiter*innen der historischen Tragweite ihres Tuns kaum bewusst. Eher, so Matthies, waren sie noch in den ihnen vertrauten Lebenswelten befangen und verfolgten diesbezügliche Strategien des (Über-)Lebens in schwierigen Zeiten. Durch ihre Kooperation mit den Europäern versuchten die meisten von ihnen, für sich und ihre Angehörigen ein Maximum an Sicherheit, materiellem Wohlstand, Prestige und Sozialstatus zu erzielen, um gemäß den Maßstäben ihrer kulturellen und politischen Umwelt ein erträgliches Leben führen zu können.

So schließt dieses überwiegend wissenschaftlich gehaltene Buch, durch dessen Einleitung man auch erst mal „durch muss“. Der „Tod der 8. Sonne“ liest sich spannender, aber da weiß man auch nicht, was Fakt und was Fiktion ist. Diesem Buch merkt man die Mühe und Akribie von 40 Jahren Quellenarbeit an, das macht es wert, neben die üblichen Entdeckungs- und Geschichtsbücher gestellt zu werden. Zudem findet sich am Schluss des Buches ein umfangreiches Literaturverzeichnis, das interessierten Leser*innen eine weitere Türen öffnen kann.