Es bleibt komplex: Hierzulande wagt die kritische Medienschaffende kaum noch von „alternativen“ Medien zu sprechen. Zu tief hat sich der hetzerische Diskurs von sogenannten Querdenker*innen und selbsternannten „Alternativen“ in den Diskurs gefressen und das „Alternative“ für sich besetzt. Und angesichts der gewalttätigen Angriffe auf öffentlich-rechtliche Pressevertreter*innen, sowohl sprachlich in den (a)sozialen Medien als auch tätlich-brutal auf der Straße, ist es mittlerweile quasi dringend geboten, die hiesigen öffentlich-rechtlichen Medien glühend zu verteidigen. Aber auch das löst ambivalente Gefühle aus: ARD und Co. bieten zwar eine Menge vielfältiger, auch kritischer Inhalte (in Radionischen oder nach Mitternacht), aber gerade in Zeiten wie diesen, wo die Aufrüstung befürwortende und zackig polarisierende Meinungsübermacht in Talkshows und Nachrichten vorherrscht, stellt sich doch nur ein Reflex ein: nämlich auszuschalten.
Insofern ist es inspirierend, sich mit einer gänzlich anders strukturierten Medienlandschaft wie der in Argentinien auseinanderzusetzen. Dr. Viviana Uriona hat in ihrem Buch „Sie senden den Wandel“ die argentinischen Community-Radios als „gegenhegemoniales Projekt“ untersucht und herausgearbeitet, wie in diesen Radios Konzepte wie Partizipation, populare Macht, Hegemonie und Gegenhegemonie, objektive Berichterstattung, Öffentlichkeit sowie Recht auf Kommunikation verhandelt werden. Die Autorin ist Politikwissenschaftlerin, Dozentin und Regisseurin. Sie kennt sich bestens in der Medienszene Argentiniens aus und schafft es, diese Wirklichkeit einem deutschen Publikum (das in einer ganz anderen Medienwirklichkeit lebt) zu übersetzen. Ila-Leser*innen dürfte Uriona als Regisseurin von Dokumentationen über die kleinbäuerliche Bewegung MOCASE in der nordargentinischen Provinz Santiago del Estero bekannt sein (siehe ila 362 und ila 389).
Urionas Buch ist eine Doktorarbeit, und das merkt man auch. Sie ist profund und gründlich, außerdem spiegeln dies die obligaten methodologischen Fingerübungen und Begriffserklärungen zu Beginn wider, oder auch die für sozialforschungsferne Menschen kryptisch erscheinenden Anhänge mit „Codes-Tabellen“ und „Network Views“. Dazwischen finden sich aber durchaus interessante Informationen über die Geschichte der Community-Radios in Lateinamerika, über die Medienlandschaft Argentiniens, insbesondere die historische Darstellung der Mechanismen, die dazu führten, dass während der zivil-militärischen Diktatur der Rundfunk gleichgeschaltet war, und schließlich den Kontext, in dem die jüngste bahnbrechende medienpolitische Entwicklung stattfand, nämlich die Verabschiedung eines neuen Mediengesetzes (LSDC, Ley de Servicios de Comunicación Audiovisual), das laut der Autorin für kurze Zeit das „demokratischste Medienrecht der Welt“ (S. 169) darstellte.
Das neue Mediengesetz ist Produkt einer spezifischen historischen Konstellation, nämlich des Zusammentreffens einer „medialen Notlage“ des Staates mit dem langjährigen Kampf sozialer Bewegungen für die Demokratisierung der Medien: Als die Regierung von Cristina Fernández de Kirchner im März 2008 die Erhöhung der Ausfuhrsteuer auf Soja und Getreide ankündigte, kam es zum Konflikt mit der mächtigen argentinischen Agrarelite. Die großen Agrarproduzenten wehrten sich gegen die geplante Umverteilung ihrer Gewinne mit massiven Protesten, bei denen diese – doch sehr privilegierten und gut genährten Akteure – Aktionsformen und Symbolik der radikalen sozialen Bewegungen Argentiniens für sich kaperten (Töpfeschlagen, Straßenblockaden). Der Medienkonzern Clarín, der in Argentinien quasi hegemonial ist, unterstützte diesen „Protest der Privilegierten“ mit einer Kampagne zur „Rettung der Bauern“. Doch damit diskreditierten sich die Clarín-Medien bei breiten Teilen der Bevölkerung. Und vor allem verrannten sie sich damit gegenüber der Regierung, die nun ein mediales Gegengewicht brauchte. So zeigte sich die Regierung Kirchner offen gegenüber der „Koalition für ein demokratisches Rundfunkrecht“, die bereits seit 2004 existierte und einen Änderungsvorschlag für das Rundfunkgesetz mit 21 Punkten gemacht hatte, das eine Legalisierung und Stärkung der Community-Radios vorsah. Dieses Papier wurde Grundlage für einen Gesetzesentwurf, der schließlich am 18. März 2009 der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Statt das gängige Gesetzgebungsverfahren zu durchlaufen, nämlich im Parlament diskutiert zu werden, übernahm die Bevölkerung diesen Part: Soziale Bewegungen, Institute, Community-Radios und staatliche Stellen organisierten 90 Tage lang Diskussionsforen zum Gesetzesentwurf und riefen dazu auf, Änderungsvorschläge einzureichen. „Die Debatte zur Neuformung der Medienlandschaft hatte die Verfassungswirklichkeit ohne Änderung des Verfassungstextes revolutioniert“ (S. 165), bringt es die Autorin auf den Punkt.
Das Buch stellt im Hinblick auf die Mediengesetzgebung Argentiniens eine Momentaufnahme dar, schließlich gibt es den Stand von 2016 wieder. Ein großes Plus ist, dass die Autorin während einer für die Mediengeschichte Argentiniens hochinteressanten Phase ihre Forschungen betrieb, schließlich bekam sie die Diskussionen, die zur Verabschiedung des Mediengesetzes führen sollten, aus nächster Nähe mit.
Allerdings sollte das Gesetz letztlich nur drei Jahre lang vollständig gültig sein, denn die rechte Regierung unter Mauricio Macri setzte am 13. Dezember 2015, nur drei Tage nach Amtsantritt, Teile des Gesetzes per Dekret außer Kraft. Somit konnte die übermächtige Clarín-Gruppe unter der Regierung Macri verlorenes Terrain wieder gutmachen. Den Prozess umkehren konnte Macri jedoch nicht, wichtige Parts des Gesetzes blieben unangetastet. Wie ist es weitergegangen? Schließlich ist mit Alberto Fernández 2019 wieder ein Peronist Präsident geworden. Doch gerade in Sachen Medienpolitik galt er im Konflikt von 2008 als Gegenspieler von Cristina Kirchner. In einer Biografie über Cristina wird er gar als „Mann der Clarín-Gruppe“ dargestellt, der zur geplanten Reform des Mediengesetzes lapidar gesagt haben soll „Schau, Clarín interessiert das nicht“. Die Rezensentin würde es schon interessieren, wie der aktuelle Präsident zu der Medienkonzentration und den Community-Radios in seinem Land steht. Aber das kann vielleicht Gegenstand zukünftiger Forschungen sein.