Als Teil der Zivilbevölkerung spielen Jugendliche für die bewaffneten Akteure eine wichtige Rolle. Zwar gibt es unterschiedliche Verhaltensweisen von Guerillagruppen, Paramilitärs und regulären Streitkräften, doch alle bewaffneten Akteure versuchen, Jugendliche für den Krieg zu instrumentalisieren. Ein großes Problem für diese Gruppe, vor allem in den ländlichen Konfliktzonen, sind Zwangsrekrutierungen. Um ihnen – und damit einer gewaltsamen Einbindung in den Krieg – zu entgehen, flüchten die Jugendlichen, oft mit der gesamten Familie. Diese Familien versuchen sich in urbanen Zentren eine neue und gesicherte Existenz aufzubauen.
Binnenvertreibung geht mit einer starken Zerrissenheit und plötzlichen, vor allem emotionalen, Umbrüchen einher. Die Geschichte des 19jährigen Nestor, der mit seiner Schwester Hilda von einer paramilitärischen Gruppe im Departement Tolima rekrutiert werden sollte, ist dafür ein Beispiel. Über Nacht floh die gesamte Familie zum Großvater nach Altos de Cazucá, einem Elendsgürtel südlich von Bogotá.[fn]Zur sozialen Situation in Altos de Cazucá siehe Beitrag von Hugo Gómez und Hilda Molano in ila 297.[/fn] Sie nahmen nur die wichtigsten persönlichen Dinge wie Fotos und Geburtsurkunden und warme Kleidung mit. An die erste Zeit im unwirtlichen Cazucá erinnert sich Nestor als fremd und bedrohlich. Er wehrte sich dagegen, indem er „Stärke“ zeigte: „Als ich nach Cazucá kam, wollte ich es allen beweisen. Ich wollte nicht, dass man mich komisch anguckt, mit den Fingern auf mich zeigt, dass man sich lustig über mich macht. Bei jedem Rempler habe ich zugeschlagen. Ich wollte allen zeigen, dass ich stark bin, dass man auf mir nicht rumtrampeln kann. Die erste Zeit war ich sehr allein, aber je mehr Kämpfe ich gewann, desto mehr wurde ich respektiert. Dann waren wir 13 Jungs und ich der Boss.“
Bevor eine lebensbedrohliche Situation sie zur Flucht zwang, lebten die Jugendlichen und ihre Familien meist mitten auf dem Land oder in einer Kleinstadt. Die Ankunft in der Großstadt ist für sie meist ein Schock. Von ihnen wird erwartet, einen Teil der Verantwortung für die Familien zu übernehmen. Sie müssen versuchen, in einer ihnen fremden Umgebung Geld zu verdienen, um etwas für die Haushaltskasse beizusteuern. Sie sind mit einem anderen Wertekodex konfrontiert, auf den sie entweder defensiv-gelähmt oder aggressiv-rebellierend reagieren. Den Jugendlichen fiel es schwer, ihre vertraute Umgebung zu verlassen. Aber da, wo sie nun Zuflucht finden wollten, fühlen sie sich nicht willkommen, sondern unerwünscht. Dies macht sie sehr verletzlich.
Viele Flüchtlingsfamilien verheimlichen gegenüber NachbarInnen den eigentlichen Grund ihres Zuzugs. Die Furcht vor erneuter Verfolgung und Stigmatisierung ist groß. Die 17jährige Ana, die ursprünglich aus dem Amazonasgebiet kommt, erlebte ihre Ankunft in Cazucá folgendermaßen: „Wir kamen hier am 17. März an und wurden von einer Tante meiner Mutter erwartet. Die kannte ich nicht einmal. Mit einem Taxi fuhren wir zu ihrer Wohnung. Dort angekommen, sagte diese Frau: ‚Jetzt seid ihr hier, aber glaubt bloß nicht, dass wir euch durchfüttern werden. Dafür haben wir kein Geld. Wir dachten, ihr kämt mit Geld in den Taschen.’ Wir bekamen noch nicht einmal ein Mittagessen.“
Die Binnenflüchtlinge – darunter auch die Jugendlichen – erfahren in Cazucá Misstrauen und offene Ablehnung. Sie werden mit Krieg assoziiert, man unterstellt ihnen, Unruhe und Gewalt ins Viertel zu bringen. Für die vertriebenen Jugendlichen wird der Zufluchtsort – da, wo sie eigentlich Wurzeln schlagen sollten – zu einem neuen Mikrokosmos der Gewalt. Altos de Cazucá gehört administrativ zu Soacha und grenzt direkt an Bogotá an. In dem riesigen Gebiet von Armensiedlungen sind paramilitärische Gruppen aktiv, sie dominieren die Gegend. Ein kompliziertes Geflecht von mafiösen Strukturen und Militarisierung bestimmt den Alltag. Graffiti – mutmaßlich von Paramilitärs angebracht – reden von „Tod den Verrätern“. Die Jugendlichen werden in Altos de Cazucá kriminalisiert, infolgedessen gibt es Übergriffe gegen sie und ihre Menschenrechte werden verletzt. Dies wird von den Behörden ignoriert. Für Militär und Polizei handelt es sich bei Verbrechen an Jugendlichen lediglich um Bandenkriege und Folgen von Drogenkonsum. Von 1999 bis 2003 wurden in Altos de Cazucá 319 Personen zwischen 10 und 24 Jahren ermordet. Gerichtsmedizinische Gutachten weisen nach, dass nur sehr wenige unter ihnen vor ihrem gewaltsamen Tod Drogen zu sich genommen hatten. Überdurchschnittlich oft wurden Jugendliche, die ganz normal zur Schule gehen oder sich für ihr Stadtviertel engagieren, Opfer von Massakern und Morden.
Viele Jugendliche versuchen sich trotz Repression und Willkür neue Perspektiven zu schaffen. Sie wollen die gängigen Vorurteile, dass Jugendliche Kiffer, Diebe und Bandenmitglieder sind, entkräften und der gesellschaftlichen Stigmatisierung entgegenwirken: „Ich mag das nicht, dass wir einfach übersehen werden. Den Erwachsenen ist es oft schnuppe, was wir wollen, es ist ihnen sogar schnuppe, wenn wir kriminell werden. Ich will einfach als anständiger Typ anerkannt werden und den anderen Jugendlichen beweisen, dass man nicht unbedingt auf die schiefe Bahn kommen muss. Man muss sich dafür zwar schwer anstrengen, aber es ist zu schaffen“, meint der 20jährige Reynaldo, der aus dem Departement Cesar stammt und nach Bogotá geflüchtet ist. Die Jugendlichen leiden unter der Marginalisierung und Ausgrenzung durch die Leute aus dem Viertel, die sie nur dann wahrnehmen, wenn sie sich sozial abweichend verhalten und kriminell werden. Zumindest empfinden sie das so.
„Ich bin bei einer Gruppe, die nennt sich ‚Wir wehren uns gegen den Krieg’. Letztens haben wir darüber geredet, dass die Polizei kein Recht hat, mit ihren Autos vorzufahren und uns Jungs einfach aufzuklauben. Das ist derzeit ein großes Problem hier in Cazucá. Wenn wir nicht mitwollen, warum zwingen sie uns dazu? Die Polizei kommt mit Pick-Ups vorgefahren und sammelt die Jugendlichen ganz einfach ein, so laufen die Rekrutierungen ab“, beklagt der 15jährige Ricardo die Bestrebungen, Jugendliche gegen ihren Willen zum Militärdienst einzuziehen. Dieses Problem ist Thema von Workshops, die Menschenrechtsorganisationen in Altos de Cazucá anbieten. Politische Bildung und Aufklärung über die eigenen Rechte und Pflichten sensibilisieren die Jugendlichen für ihre persönliche Situation und die Wahrnehmung als Gruppe. Sie lernen, sich Behörden gegenüber kritisch zu behaupten und nicht alles ungefragt mit sich geschehen zu lassen. Die politische Bildung stärkt ihr Selbstbewusstsein und hilft ihnen, ihr Selbstbild aufzuwerten und weiterzuentwickeln.
Vertreibung bringt den Verlust von kulturellen Werten und Traditionen mit sich, die in einer neuen, städtisch geprägten Umgebung nicht anerkannt werden. Dies verstärkt ein Gefühl von Entwurzelung. Für die Jugendlichen ist es schwer, eine Brücke zwischen ihrem „Gestern“ und dem „Heute“ zu bauen. Mit Kunst und Kultur können sie diese Schwierigkeiten angehen. Theater, Rap und Capoeira helfen ihnen, sich selbst zu erproben und Talente auszuleben. Sie lernen sich kreativ auszudrücken. Sie spiegeln sich als Jugendliche, erforschen ihre Zukunftsperspektiven, wovon sie träumen, was ihnen wichtig ist. Sie setzen sich mit den eigenen kulturellen Bezugspunkten auseinander, was ihnen dabei hilft, sich selbst zu akzeptieren. Die Kulturarbeit motiviert die Jugendlichen, über die Umsetzung eigener Ziele und Ideale nachzudenken. Ihre künstlerischen Vorlieben und Ambitionen werden dafür in gemeinsamer kreativer Arbeit gefördert.
Die NGOs aus Bogotá, die mit vertriebenen Jugendlichen arbeiten, versuchen ihnen dabei zu helfen, ihre kulturellen Wurzeln nicht zu vergessen und dadurch ihre Identitätsbildung zu stärken. Der 19jährige Leonardo, der aus Tumaco an der Pazifikküste stammt und von dort mit vierzehn ins Landesinnere geflohen ist, hat wieder zu trommeln angefangen. „Bei uns ist es Tradition, dass mindestens einer in der Familie ein Instrument spielt. Das hat mir an der Arbeit von Taller de Vida (einer NGO, die mit Vertriebenen arbeitet) so gut gefallen. Ich dachte, super, hier gibt es Trommeln! Taller de Vida will damit erreichen, dass Menschen wie wir, die an ihrer Vertreibung verzweifeln, ihre Traditionen nicht vergessen. Für mich wäre das sehr schlimm, zu vergessen, wo ich herkomme, was meine Wurzeln sind. Das wäre, als ob ich mich selbst nicht kennen würde.“
Die Menschen, die im Schmelztiegel Bogotá ankommen, finden leichter Zugang und entwickeln ein Gefühl von Vertrautheit, wenn sie dort Aspekten ihrer Kultur begegnen. Die NGO Taller de Vida arbeitet deshalb mit folkloristischen Elementen aus verschiedenen Landesteilen Kolumbiens. Mindestens ein Mal im Monat wird in den Schulen ein „Karneval“ veranstaltet, mit StelzenläuferInnen, bunten Kostümen, Trommeln. Vertriebene Kinder und Jugendliche erkennen dabei kulturelle Elemente ihrer Heimatregion wieder, auf die sie Bezug nehmen und Gleichaltrigen dann stolz als Teil ihrer Biographie präsentieren können. Kultur- und Menschenrechtsarbeit hilft den Jugendlichen über ihre alltäglichen Ängste und Frustrationen hinweg. Damit überwinden sie ihre soziale Ausgrenzung und erkämpfen sich die Anerkennung ihrer comunidad, der Menschen aus dem Stadtviertel. Für die Jugendlichen wird zivilgesellschaftliches Engagement damit zu einem Weg, eigene Zukunftsperspektiven zu schaffen.