Nach knapp zwei Monaten der Krise verharrt das mittelamerikanische Land, welches bis vor kurzem noch als das sicherste in Mesoamerika galt, in einem absoluten Ausnahmezustand und versinkt in einer in alarmierendem Maße eskalierenden Gewaltspirale. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Cenidh (Nicaraguanisches Zentrum für Menschenrechte) beläuft sich die Zahl der Todesopfer mittlerweile auf ca. zweihundert, nebst über tausend Verletzten, etlichen politischen Gefangenen und Verschwundenen.

Regierungsgegner*innen haben rund 70 Prozent der Haupttransportwege des Landes mit Barrikaden versperrt, Ausdruck des gewaltfreien Protestes und Druckmittel gegen das Regime Ortega-Murillo. Die seit der Revolution von 1979 als für den Widerstand ikonisch geltende Stadt Masaya, Verkehrsknotenpunkt zwischen Managua und Granada, ähnelt heute bereits einem Kriegsgebiet. Dessen Bewohner*innen haben sich hermetisch verschanzt, eigenen Angaben zufolge, um sich vor Angriffen der Polizei und der Todesschwadronen Ortegas zu schützen. Die Departements León, Carazo, Matagalpa und Rivas sind ebenfalls zu Kampfzonen geworden. Auch Managua ist mittlerweile fast zur Gänze von Straßensperren eingeschlossen und wird nahezu täglich Schauplatz von verheerenden Übergriffen. Es herrscht eine inoffizielle Ausgangssperre. Nach 18 Uhr ähnelt die Zwei-Millionen-Metropole, auf welcher untertags und überall eine drückende Spannung und die tropische Hitze gleichermaßen lasten, bis in die frühen Morgenstunden hinein einer Geisterstadt. Zahlreiche Brandstiftungen, Plünderungen sowie Angriffe auf Fernseh- und Radiostationen blieben dabei nicht aus.

Nach den ersten vier Wochen unentwegter Auseinandersetzungen ließ ein nationaler Friedensdialog erste Hoffnungen, zumindest auf ein möglichst baldiges Ende des Blutvergießens, aufkeimen. Unter der Leitung der katholischen Bischöfe kamen die Regierung, Studierendenvertreter*innen, zivile Organisationen und die Unternehmerschaft an einem Tisch zusammen. Am ersten Tag der Gespräche nahmen Ortega und Murillo höchstpersönlich teil. Als das Präsidentenehepaar abgeschirmt von einem bis an die Zähne bewaffneten polizeilichen Großaufgebot den Verhandlungsort erreichte, schallten ihnen lautstarke „Mörder, Mörder!“-Rufe der Demonstrant*innen entgegen. Die Eröffnungsrunde wurde live im Fernsehen übertragen. Es war das erste Mal seit Jahren, dass sich der Ex-Guerillakämpfer auf ein solch offenes Gesprächsformat einließ. Ganz Nicaragua saß unter Hochspannung vor den Bildschirmen und klebte förmlich an den Radios. Das Protokoll sah vor, dass der Präsident als erster sprechen solle. Jedoch kam ihm ein 20-jähriger Student der Kommunikationswissenschaft zuvor, dessen Namen spätestens jetzt im ganzen Land die Runde machte, Lesther Alemán. Er stand vom hinteren Ende des Tisches auf und hielt eine flammende Rede. Darin forderte er Ortega nicht nur direkt dazu auf, als Oberbefehlshaber der Polizei seinen Truppen umgehend zu befehligen, die Repression zu beenden, sondern stellte ebenso klar, dass dies kein Dialogtisch sei, sondern eine Runde, die einzig dazu diene, Ortegas Rücktritt zu verhandeln. Alemán schloss seine Ansprache mit den Worten: „Wir können nicht mit einem Mörder verhandeln, denn was in diesem Land verübt wurde, ist ein Genozid.“ Das Regierungsoberhaupt antwortete nicht direkt, leugnete die Existenz von politischen Gefangenen und versicherte, dass die Polizei den Befehl erhalten habe, nicht zu schießen. Diese sei vielmehr Opfer der Ausschreitungen geworden. Zum Abschluss der Runde bot sich noch eine bewegende Szene. Die Student*innen lasen die Namen der bis dahin 55 Toten vor, jeder einzelne gefolgt vom geeinten Ausruf: „¡Presente!“

Allerdings setzten die Bischöfe ihre Teilnahme als Vermittler und Zeugen des Nationalen Dialoges bereits nach einer Woche unter Berufung auf einen „Mangel an Konsens zwischen den Parteien“ zur Lösung der politischen Krise wieder aus. Die von der Bischofskonferenz vorgelegte Agenda zur Demokratisierung des Landes wurde vom nicaraguanischen Außenminister und Leiter der Regierungsdelegation, Denis Moncada, als „Gestaltung eines Weges zu einem verfassungswidrigen Staatsstreich“ gegen die Regierung Ortegas diskreditiert. Um den Dialog dennoch voranzutreiben, regten die Bischöfe einen gemischten Ausschuss an, bestehend aus je drei Regierungsvertretern und Repräsentanten der „zivilen Allianz für Gerechtigkeit und Demokratisierung“ (Studierende, Bauern und Bäuerinnen, Unternehmerschaft, Zivilgesellschaft).

Endgültig kamen die Gespräche jedoch am 30. Mai zum Erliegen. Dies ist der Muttertag in Nicaragua und Managua wurde Schauplatz eines der größten Aufmärsche in der Geschichte des Landes. Hunderttausende fluteten die Straßen der Hauptstadt. Angeführt wurde der Zug, hier nennt man ihn andächtig „die Mutter aller Märsche“, von schwarz gekleideten Müttern, die ihre Kinder in den vorangehenden Wochen verloren hatten. Die Teilnehmer*innen trauerten um die zu dem Zeitpunkt über 80 Todesopfer, forderten Gerechtigkeit und den Rücktritt des sandinistischen Regimes. Trotz aller Andacht herrschte eine nahezu festliche Stimmung. Unter den Demonstrant*innen befanden sich Alte, Junge, auch Kleinkinder. Der Marsch sollte an der Zentralamerikanischen Universität (UCA) in einer Kulturveranstaltung münden. Stattdessen endete die bis dahin friedliche Veranstaltung in einem Blutbad. Als in der Nähe der Universität der erste Schuss vernommen wurde, brach Panik unter den Demonstrierenden aus. Vom Nationalstadion „Dennis Martínez“ aus feuerten Scharfschützen auf die unbewaffnete Menge. Jugendliche versuchten die Demonstration zu verteidigen und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei und den parapolizeilichen Einheiten. Die UCA öffnete ihre Tore und etwa 5000 Personen suchten über Stunden Schutz in der Uni, bevor sie sich auf den Heimweg wagten. 1000 Bäuer*innen, die aus verschiedensten Teilen des Landes angereist waren, sahen sich aus Angst vor weiteren Übergriffen gezwungen, in der Kathedrale zu übernachten. Das Massaker vom 30. Mai hinterließ weitere 15 Tote, darunter auch ein fünfzehnjähriger Junge, der durch einen Schuss in den Hals getötet wurde. In einer Erklärung am Donnerstag äußerten die Mitglieder der Bischofskonferenz, dass die Gespräche nicht fortgesetzt werden könnten, während eine „unmenschliche Gewalt, die das Leben Unschuldiger zerstört“, andauere. Francisco Díaz, stellvertretender Direktor der nationalen Polizei, beschuldigte „kriminelle Banden“ der tödlichen Vorfälle und ließ verlautbaren, dass die Regierung jede Verantwortung für diese Gewalt zurückweise.

Für den 14. Juni rief die Allianz für Gerechtigkeit und Demokratie zu einem ganztägigen landesweiten Streik auf. Seit Wochen wurde vielfach die Forderung an den mächtigen Unternehmerverband COSEP, bis vor zwei Monaten noch Hauptverbündeter und größter Nutznießer der Regierung, laut, einen offiziellen Generalstreik zu unterstützen. Nach langem Warten hatten zahlreiche Städte, darunter auch León, das Streiken bereits selbst in die Hand genommen. In Managua initiierte der Mercado Oriental, der als größter Markt Zentralamerikas schätzungsweise 10 000 Besucher*innen täglich anzieht, am 5. Juni den Streik. Dieser beinhaltet auch Aktionen kollektiven Ungehorsams, indem etwa keine Steuern, Wasser- oder Stromrechnungen mehr gezahlt werden.

„Als mein Bruder am 18. April mit blutüberströmtem Gesicht nach Hause kam, beschloss ich, mich den Protesten anzuschließen. Eines Tages brachte ich den muchachos in der besetzten UNAN (Nationale Autonome Universität Nicaraguas) Lebensmittel. Gleich darauf half ich ihnen beim Errichten von Barrikaden. Und dann beschloss ich dortzubleiben. Als ich meinem Vater von dem Vorhaben berichtete, wusste ich, dass er mir das nicht ausreden kann. Er war damals, während der sandinistischen Revolution, einer der ersten, die loszogen. Er war ein historischer Kombattant im Widerstand gegen Somoza. Er hatte ebenfalls für ein freies Nicaragua gekämpft. Er sagte nichts, sondern ging mit mir und war die ersten zwei Wochen über mit uns hier verschanzt. Das ist unsere Art zu protestieren und unsere Forderungen geltend zu machen.“ „La Siria“, wie ihre Mitkämpfer*innen sie nennen, ist 24 Jahre jung, stammt ursprünglich von der Karibikküste und ist eine der etwa 400 jungen Männer und Frauen, die den weitläufigen, im Süden Managuas gelegenen Campus immer noch besetzt halten. Mittlerweile ist sie Anführerin der Pforte Nr. 5 des Geländes, mit rund 70 Jugendlichen unter ihrem Kommando. „Das hier ist wie eine kleine Stadt inmitten der Stadt“, erklärt sie. „Jeder Eingang stellt eine Zitadelle dar. Sie besitzen jeweils ihre eigenen Vorratskammern, medizinische Zentren, verschiedene Komitees wie beispielsweise zur Reinigung des Geländes, zum Kochen, auch eines zur Essenskontrolle, da uns mitunter vergiftete Nahrungsmittel gebracht wurden, zur Herstellung von selbstgemachten Waffen zur Selbstverteidigung, ein Komitee für die Logistik, eines zur Bewachung der Barrikaden.“ Um in diese Stadt innerhalb der Stadt hineinzugelangen, gilt es zunächst verschiedene Barrikaden zu passieren, stets mit vermummtem Gesicht, versteht sich, außerdem in Begleitung einer Vertrauensperson der Student*innen, welche einen durch den rund um die Uhr bewachten Eingang zu schleusen vermag. Innerhalb dieses Abschnitts des Campus ist die Stimmung freundlich, gleichwohl spürbar angespannt. Erst am Vortag wurden drei der jungen Leute, zwei Mädchen und ein Junge, von vermummten Sympathisanten der Regierung bei einem Botengang entführt. Sie wurden verhört, gefoltert und im Morgengrauen nackt an der Cuesta del Plomo, einer als besonders gefährlich geltenden Zone am Rande der Stadt, wieder ausgesetzt. Bereits Somoza pflegte seine Opfer dort zu „entsorgen“. Zum Zeitpunkt des Interviews mit „La Siria“ sind die drei wieder zurück in der Uni. Das Gespräch findet in einem Unterrichtsraum statt, der zur Vorratskammer für Lebensmittel umfunktioniert wurde. Auf der Tafel stehen sämtliche Namen der bisher Verstorbenen. Die junge Anführerin ist sichtlich müde, hat seit bald 48 Stunden nicht geschlafen, spricht dennoch überlegt und mit Inbrunst.

„Ich bin nun seit knapp einem Monat hier. Immer wieder lese ich, dass wir hier die moralische Reserve des Landes seien. Das kann ich nicht beurteilen. Es mag kitschig klingen, aber das, was für mich am meisten heraussticht, ist, dass hier vor allem die Liebe vorherrscht. Wir alle hier sind in diese Sache verliebt, dem Land verpflichtet und zu allem bereit. Und damit meine ich, auch den Tod zu riskieren. Das ist unglaublich, denn ich dachte immer, dass das Wertvollste, das größte Opfer im Leben das Leben selbst sei. Jetzt verstehe ich, dass das Wertvollste die Liebe ist. Warum? Vor zwei Tagen ist einer unserer Kameraden hier gefallen. Das tut weh. Er und viele andere Weggefährten sind aus Liebe zu diesem Land gestorben. Es ist besser, für eine Sache zu sterben, als ohne eine Sache zu leben, als ohne Liebe und gleichgültig zu leben.“

Neben grundliegenden Anliegen wie dem, die Regierung zu stürzen, sämtliche politische Strukturen zu demokratisieren und Gerechtigkeit für die Opfer der Repression zu fordern, seid ihr keine politische Bewegung im strengen Sinne.

„Dies ist eine Bewegung des Volkes. Insbesondere die jüngere Generation hegt ein profundes Misstrauen und eine Wut gegenüber der Politik. Wir müssen auf gewisse Weise apolitisch sein, um geeint auftreten zu können. So sehr die Regierung uns auch einer politischen Schublade zuordnen möchte, uns repräsentiert keine politische Partei.“

Bis jetzt hat es die Oppositionsbewegung geschafft, den Protest weitgehend friedlich zu gestalten. Mittlerweile gibt es jedoch genug Personen, die nicht mehr die andere Wange hinhalten wollen. Wärt ihr dazu bereit, den bewaffneten Kampf aufzunehmen?

„Wir versuchen klüger zu sein, nicht mit der Sprache der Diktatur, mit Gewalt zu antworten. Wir haben auch gar keine Waffen. Bloß selbstgebaute Granatwerfer, Steinschleudern und dergleichen, um uns zu verteidigen. Aber es ist nicht leicht. Neulich haben wir einen Infiltrierten geschnappt. Die Jungs meinten, dass wir zumindest sein Motorrad anzünden sollten. Ich habe es ihnen untersagt. Wir dürfen nicht so sein wie die, sonst kollabieren wir. Die einzigen, die wir bedingungslos unterstützen und von denen wir Hilfe annehmen würden, sind die Bauern.“

Die nicaraguanischen Behörden haben sich gegen ihr eigenes Volk gerichtet, in einem bösartigen, anhaltenden und häufig tödlichen Angriff auf dessen Recht auf Leben, freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung. Die Regierung von Präsident Ortega hat daraufhin schamlos versucht, diese Gräueltaten zu vertuschen, wobei sie das Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung verletzt hat.“ Diese Worte stammen von Erika Guevara-Rosas, Direktorin der Amerikaabteilung von Amnesty International (AI). Die Menschenrechtsorganisation war vom 4. bis 13. Mai auf einer Mission in Nicaragua, um den Behauptungen über schwere Menschenrechtsverletzungen nachzugehen. Ergebnis dieses Unterfangens ist der Bericht Shoot to kill: Nicaragua’s strategy to suppress protest. Darin wird unter anderem ausführlich dargelegt, dass die nicaraguanische Regierung bewaffnete Personen oder regierungsfreundliche bewaffnete Gruppen eingesetzt hat, die in Absprache mit Staatsbeamten, insbesondere der nationalen Polizei, oder zumindest mit deren Duldung handeln. Außerdem stellte AI fest, dass diese regierungsfreundlichen bewaffneten Gruppen offenbar von der Regierung benutzt wurden, um Chaos zu erzeugen, Leute zu überwachen, Drohungen auszusprechen und gezielte Angriffe durchzuführen. Ferner ist AI der Auffassung, dass auf der Grundlage des ermittelten Musters eine beträchtliche Zahl von Todesfällen als außergerichtliche Hinrichtungen angesehen werden können. Es gebe Gründe zu der Annahme, dass diese Todesfälle mit dem Wissen der höchsten Ebene des nicaraguanischen Staates, einschließlich des Präsidenten, eingetreten sind. Darüber hinaus war AI in der Lage, Akte der Behinderung und Verschleierung durch einige Regierungsbeamte zu dokumentieren, die mit der Absicht durchgeführt wurden, eine gründliche Untersuchung der Fakten zu verhindern. Des Weiteren sei verletzten Demonstrant*innen in mehreren öffentlichen Krankenhäusern die nötige Versorgung verweigert worden.

AI ist zu dem Schluss gekommen, dass die Reaktion der nicaraguanischen Regierung angesichts der legitimen Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in Form von Protesten in verschiedenen Teilen des Landes grundsätzlich rechtswidrig war und mit schweren Menschenrechtsverletzungen und sogar Verbrechen nach internationalem Recht einherging. AI konstatiert weiter, dass die von den nicaraguanischen Behörden verfolgte Strategie, die unter anderem zu einer alarmierenden Zahl von Todesfällen und schweren Verletzungen geführt hat, darauf abzielt, abweichende Stimmen zu bestrafen, weitere öffentliche Kritik zu ersticken und Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen nach dem Völkerrecht zu vertuschen.

Dieser Bericht entpuppt sich als nahezu deckungsgleich mit den Beobachtungen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH), die vom 17. bis 21. Mai das Land besucht hatte. In einem Interview mit der nicaraguanischen Zeitung „Confidencial“ vom 12. Juni beklagte deren Generalsekretär, Pablo Abrao, eine gravierende Zunahme der Gewalt. Außerdem warnte er, wenn diese Zahlen von Todesfällen, Verletzungen und Verhaftungen anhielten, werde man mit einer Situation konfrontiert sein, die in ganz Amerika eine besondere Aufmerksamkeit seitens der internationalen Gemeinschaft erfordere.

Inmitten der Barbarei hüllt sich Daniel Ortega fast gänzlich in Schweigen. Während im ganzen Land Barrikaden errichtet werden, transportieren etliche Lastwagen seinerseits Steine zum Wohnviertel des Präsidentenehepaars, El Carmen. Diese Festung verlässt der „Comandante“, wie er von seinen Anhängern*innen immer noch genannt wird, so gut wie nie. Dessen ohnehin bereits großzügig abgesteckter und militärisch überwachter Sicherheitsbereich wurde mit neuen, noch höheren Mauern versehen. Den einzigen öffentlichen Auftritt seit dem ersten Tag des Nationalen Dialoges gab es bei einer Kundgebung zum Muttertag. Dort stellte er klar, dass er keinerlei Absichten hege, zu weichen: „Nicaragua ist der Privatbesitz von niemandem, Nicaragua gehört uns allen und hier bleiben wir auch alle.“ Ansonsten war sein Diskurs wie üblich von einem religiösen Fundamentalismus gezeichnet, üppig gespickt mit populären und pathetischen, in diesen Tagen umso zynischer daherkommenden Iterationen und darum bemüht, ihn als Vollstrecker einer Art göttlicher Bestimmung für Nicaragua zu stilisieren. Er ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, wer hier „die Guten“ und wer „die Bösen“ sind: „Sogar noch heute, dort neben Trinidad (Stadtteil Managuas), wurde ein Junge getötet, weil er zu dieser Feier kommen wollte. Wie viel Schmerz es in dieser Mutter geben muss. Leider leben wir in Momenten, in denen der Hass die Krallen ausfährt, der Teufel fährt seine Krallen aus, wo wir doch ein Land in Frieden hatten.“

Die Vizepräsidentin gibt weiterhin, Tag ein Tag aus, um 12 Uhr mittags ihre religiös-esoterisch gefärbten Ansprachen „der Liebe, Versöhnung und des Vergebens“ zum Besten. Die Proteste sind ihr lästig, eine „biblische Plage“ nennt sie diese. Die Demonstrant*innen werden als die „vandalistische Rechte“ verschrien. Schenkt man Murillo Glauben, so sind es ausschließlich „winzige Gruppen, die Hass propagieren“, „vergiftete Seelen“, „blutdurstige Vampire“ und „mittelmäßige Wesen“, die es wagen, sich gegen die Regierung aufzulehnen. Ein Großteil der Fernseh- und Radiostationen werden entweder direkt von der Familie Ortega-Murillo oder wohlgesinnten Medienunternehmern geführt. So verwalten drei seiner sieben Kinder, Camilla, Luciana und Maurice Ortega-Murillo, die Sender Multinoticias, Canal 8 und Canal 13. Das Einverleiben der Massenmedien und die damit einhergehende Möglichkeit einer selektiv gesteuerten Beschäftigung von Journalist*innen hat zur Folge, dass ein Großteil der Medienlandschaft klar regierungsfreundlich eingestellt ist. Beim Zappen durch die offiziellen Sender bekommt man den Eindruck, in Nicaragua sei eigentlich alles „in Butter“. Mit dieser Art der Kommunikationspolitik, die darauf abzielt, Informationen vorab zu filtern und die Vorherrschaft einer offiziellen Narration zu sichern, konstruiert das Regime ein Art Fiktion innerhalb der Fiktion. Während dem „Frieden“ und dem „lieben Gott“ gehuldigt wird, lässt man keine zwei Kilometer entfernt Scharfschützen auf friedliche Demonstrierende schießen. Dabei beruft sich die Regierung auf die Demokratie und die Verfassung, während sie diese systematisch zu einer bloßen Mise en Scène verkommen lässt. Dabei ist das Präsidentenehepaar Regisseur und Protagonist zugleich.

Was sich hier binnen der letzten zwei Monate abgespielt hat, hielt vor drei Monaten noch niemand für möglich. Für einen Großteil der jungen Leute, die heute für einen politischen Wandel kämpfen, war es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie plötzlich, im Schutz der Multitude, auf die Straße gehen konnten, um ihre Stimme zu erheben. Sie sind die Generation, die mit dem Versprechen der Demokratie aufgewachsen ist, diese aber nie erfuhr. Vielleicht war ein nicht zu verkennender Mechanismus dieses kollektiven Erwachens auch der Stolz einer Generation. Sie wollten nicht mehr den Kopf einziehen und hinnehmen, dass sie von einem autoritären und korrupten Ehepaar regiert werden. Die Kleptokratie, die Vetternwirtschaft, der Caudillismus eines vergangenen Jahrhunderts – all das wollten sie auf einmal nicht mehr stumm erdulden. Die zügellose Gewalt brachte schließlich das Fass zum Überlaufen. Sukzessive schlossen sich immer mehr Menschen sowie verschiedene, bis dato isolierte Bewegungen zusammen, und in gleichem Maße wich Stück für Stück die Angst.

Damit kam eine irreversible Bewegung ins Rollen, die sich nicht mehr bremsen ließ. Der jüngsten Studie des Meinungsforschungsunternehmens Cid Gallup zufolge wünschen sich heute 70 Prozent der nicaraguanischen Bevölkerung den Rücktritt der Regierung. Daniel y Somoza, son la misma cosa („Daniel und Somoza sind das Gleiche“) wurde zu einem omnipräsenten Slogan. Doch obgleich die Mittel, derer sich das Regime zur Durchsetzung seiner Interessen bedient, in der Tat an gängige Lenkungsformen der skrupellosen Bereicherungsdiktatur der Somozas erinnern, hinkt der historische Vergleich. Die sandinistische Befreiungsfront war bewaffnet, während die hier umrissene Revolution es nicht ist. Ende der 70er-Jahre besaß Nicaragua rund zwei Millionen Einwohner*innen. Die Bevölkerung hat sich im Laufe der letzten 40 Jahre verdreifacht. Anastasio Somoza Debayle vermochte es 1978 noch, vor 200 000 Anhänger*innen zu sprechen. Der nunmehr bloß von einem eisernen Ring ihm loyaler Weggefährten umgebene Ortega muss etliche Personen mit steuerlich subventionierten Bussen zu seinen Kundgebungen bringen lassen und schafft es dennoch kaum, ein ähnlich großes Publikum zu versammeln. Auch auf internationaler Ebene schwindet die Unterstützung für die Regierung nahezu täglich. Ortega hat die Maxime des „Teile und herrsche“ scheinbar erfolglos ausgereizt. Die Tatsache, dass ihm als einzige Antwort die kriminelle Gewalt geblieben ist, ist als Ausdruck der Schwäche zu deuten. Es bleibt zu hoffen, dass das Militär, welches bisher am Rande des Konflikts verharrt, die Waffen nicht, wie in den Zeiten eines Pinochets in Chile, gegen das eigene Volk richten wird. Dies würde Nicaragua in ein völliges Chaos und ein noch verheerenderes Blutbad stürzen.

Wünschen darf man Nicaragua dabei, dass der mit einem unverkennbaren Willen zur Konzentration und Reproduktion der Macht ausgestattete Präsident sich möglichst bald soweit in die Enge getrieben sieht, dass er zu wirklichen Verhandlungen über die Konditionen seines Rücktritts bereit ist. In einem nächsten Schritt müsste die Verfassung reformiert und vorgezogene Wahlen festgelegt werden. Auf dem Weg dorthin gälte es, eine Übergangsregierung einzusetzen, die den Prozess begleitet. Des Weiteren müsste selbstverständlich das Wahlgesetz geändert sowie der Wahlrat komplett, bis auf die kommunale Ebene hinunter, neu besetzt und das Justizwesen rehabilitiert werden. Nur so ließen sich demokratische Rechte sowie eine Wahrung der Menschenrechte effektiv garantieren. Hinsichtlich der Forderung nach einer rechtmäßigen Strafverfolgung wäre schließlich auch eine Internationale Kommission gegen Straffreiheit unter Leitung der Vereinten Nationen denkbar.

„Nicaragua ist so gewaltsam zärtlich wie seine plötzlichen Sonnenuntergänge, wenn sich Rosa und Orange in einen grünen Samt verwandeln und die Nacht voller Tigeraugen, duftend und dicht, einfällt.“ Diese Zeilen schrieb der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar zu Beginn der 80er-Jahre über Nicaragua, das heute vor allem einen Tiger zähmen muss: Daniel Ortega Saveedra. Bis diese Aufgabe nicht geglückt ist, hängt die Ungewissheit, die Gefahr eines erneuten Bürgerkriegs wie ein Damoklesschwert über dem kleinen Land.