Patrick Leigh Fermor (geb. 1915 in London) führte ein abenteuerliches, abwechslungsreiches Leben. 1933, mit 18 Jahren, wanderte er durch Europa nach Konstantinopel, eine Reise, über die er ein zweibändiges Werk schrieb. Im Zweiten Weltkrieg war Fermor für den britischen Nachrichtendienst Special Operations Executive (SOE) tätig, zu dessen Aufgaben auch Spionage und Sabotage hinter den feindlichen Linien zählten. Als SOE-Agent war er in Kreta zusammen mit Widerstandskämpfern an der Entführung des Kommandeurs der deutschen Besatzungstruppen Heinrich Kreipe beteiligt.
Nach dem Krieg unternimmt Fermor mit seiner Frau und dem griechischen Freund Costa eine Reise in die Karibik, eine abenteuerliche Odyssee, die ihn nach Guadeloupe, Martinique, Grenada, St. Lucia, Haiti und Jamaika führt. Frucht dieser Reise ist das Buch The Traveller’s Tree, das im Original 1950, in deutscher Übersetzung erst 2009 erschienen ist. Fermor gilt als einer der besten englischsprachigen Reiseautoren. Er lebt heute in Griechenland.
Ein Großteil des Karibikbuches, 150 Seiten in drei Kapiteln, widmet Fermor Haiti. Er beginnt im ersten Kapitel mit Eindrücken aus Port-au-Prince, schildert ausführlich einen Hahnenkampf, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Rolle von MulattInnen und hellhäutigen HaitianerInnen, die wie er schreibt eher in Paris beheimatet seien als in Port-au-Prince. Der Vodou sei ihnen ein Grauen und so stünden sie in Gegensatz zu den Intellektuellen, die der Gedanke an die afrikanischen Wurzeln, die Krieger, Helden und Bezwinger der französischen kaiserlichen Armee mit Stolz erfülle.
Viel Raum widmet Fermor der Geschichte. Er liefert einen recht detaillierten historischen Abriss, der von den ersten Sklavenaufständen Ende des 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reicht.
Das zweite Kapitel steht ganz im Zeichen des Vodou. Zunächst lässt Fermor einen französischen Priester zu Wort kommen, der es als seine Aufgabe sieht, die HaitianerInnen von Relikten afrikanischer Religionen zu entwöhnen und dem Landvolk begreiflich zu machen, dass sie Vodoukult und Christentum nicht gleichzeitig ausüben sollen. Er berichtet Fermor, auf dem Land sei die Vorstellung weit verbreitet, das Christentum sei ein Hauptbestandteil des Vodou, so dass christliche Heilige in der Vorstellung der Landbevölkerung mit afrikanischen Göttern verschmelzten. Sie setzten Erzulie Freda Dahomin, „die Aphrodite von Dahomey, die Liebesgöttin“ mit der Jungfrau Maria gleich.
Fermor widmet danach viele Seiten seinen Erlebnissen bei Vodouzeremonien. Alles, was er in vielen Nächten sieht und hört, bringt er nüchtern und vorurteilsfrei zu Papier. Dem afrikanischen Mystizismus, wie er in kinetischer Energie, in Sprüngen, Verrenkungen, Tänzen und auch Trance zum Ausdruck komme, stellt er die europäische Tradition der einsamen Askese gegenüber. Er beschreibt in anschaulichen Bildern, wie die Lwa, die Vodougottheiten, in die Körper der VodouanhängerInnen fahren. So schreibt er, die eitle Erzulie „tänzelt mit wiegenden Hüften, selbst wenn sie im Körper eines Mannes steckt“. Und das Bewusstsein des Besessenen sei gespalten, er sei gleichzeitig er selbst und der Lwa.
Ausführliche, fast theologisch anmutende Betrachtungen widmet Fermor der Frage, ob die Lwa nun als Götter oder Heilige zu betrachten seien. Eine Antwort gibt er zwar nicht, aber er kommt zu dem Schluss, der Vodou sei im Grunde eine polytheistische Religion. Nationalhelden wie Toussaint Louverture oder Dessalines seien, so Fermor, im Vodou zu Göttern mutiert. Eine wichtige Funktion des Vodou liege in diesem ehrenden Andenken an die heldenhaften Vorfahren, in deren Glorifizierung, auch im Schüren der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat Afrika. Der Vodou sei den HaitianerInnen „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Luft, die sie atmen, das gesamte Universum“.
Im dritten Kapitel schildert Fermor die Renaissance der haitianischen Malerei, die sich in den 1940er Jahren, dank des Engagements der beiden Nordamerikaner Selden Rodman und DeWitt Peters, gerade anschickte, als naive Malerei ihren Siegeszug durch alle Welt anzutreten.
Fermor rundet seine Haitireise ab mit einer Fahrt über Gonaúves nach Cap-Haitien im Norden, der Wiege aller Aufstände und Revolutionen des Landes. Er beschreibt detailliert Leben und Wirken des Königs Christophe, dessen Reich im Norden Haitis zwar wirtschaftlich prosperierte, doch zugleich unter dem Despotismus und der Willkür des Herrschers litt. Als sein Reich nicht mehr zu retten war, schoss sich König Christophe in seinem Sans Souci genannten Palast eine goldene Kugel in den Kopf. Einige AnhängerInnen begruben ihn im Innenhof seiner in 2500 Meter Höhe gelegenen Festung Laferrière. Die hatte König Christophe aus Angst vor Wiedereroberungsversuchen der Franzosen errichten lassen. Von der Festung wurde nie eine Kanonenkugel abgefeuert.
Am letzten Tag seines Aufenthaltes in Port-au-Prince lernt Fermor einen Poeten kennen. Als der ihn fragt, was ihn nach Haiti führe, antwortet Fermor, er sei Schriftsteller und schreibe auch über Haiti. Vous allez écrire des bêtises, mon pauvre ami (Sie werden Unsinn schreiben, meiner armer Freund), antwortet der. „Wir wussten beide, dass er recht hatte, und lachten“, so Fermor. Vielleicht hat Fermor in seinem Buch auch Unsinn verzapft. Doch vieles ist hoch interessant, kurzweilig und spannend erzählt. Und die eine oder andere kluge Beobachtung oder gar Wahrheit steckt sicherlich auch in dem Reisebericht.
Der Baum des Reisenden. Eine Fahrt durch die Karibik, Dörlemann Verlag, Zürich 2009, 640 Seiten, 32,- Euro