Am 13. März, kurz nach Mitternacht, ist die legendäre bolivianische Bergarbeitersprecherin Domitila Barrios de Chungara im Alter von 75 Jahren gestorben. Sie hat ihr Leben lang dafür gekämpft, dass sich für die Armen in Bolivien etwas ändert und sich ihre soziale Lage verbessert. Dafür hat sie einen hohen Preis bezahlt. Und sie ist sich selber treu geblieben, ohne zu verbittern.
Aufgewachsen ist sie als Tochter eines Minenarbeiters in den Bergwerkszentren hoch oben in den bolivianischen Anden. Schon früh musste sie Verantwortung für ihre vier jüngeren Geschwister übernehmen. Gegen den gesellschaftlichen Widerstand der Bevölkerung in der Minensiedlung Llallagua und sogar den ihrer früh verstorbenen Mutter durfte Domitila dank ihres Vaters zur Schule gehen.
Ihre erste politische Erfahrung machte sie als 15-Jährige. Ihr Vater war einer der Mineros aus dem Bergwerk Siglo XX, die sich am revolutionären Aufstand des Jahres 1952 beteiligten. In einem Interview mit dem Journalisten Jörn Klare erzählte sie 2004, ihr Vater habe ihr bei seiner Rückkehr zugerufen: „Wir haben gewonnen, meine Tochter. Wir haben gewonnen! Jetzt wird es keine hungrigen Kinder mehr geben und es werden keine Kinder mehr barfuss gehen müssen.“
Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Revolution brachte den Bergarbeitern und ihren Familien zwar einige soziale Fortschritte (Altersrente, Werkswohnungen, gewerkschaftliche Mitbestimmung), aber an der Armut in den Minensiedlungen änderte sie wenig. Das städtische Kleinbürgertum hatte die Macht an sich gerissen und suchte das Bündnis mit den USA und den alten Eliten. Zwar wurden die Bergwerke verstaatlicht und die staatliche Minengesellschaft COMIBOL gegründet, doch die Arbeitsbedingungen blieben brutal, Arbeitsschutz und medizinische Betreuung waren noch immer unzureichend. Deswegen erreichten die Mineros auch weiterhin selten das Rentenalter und der Verdienst reichte kaum, um den Unterhalt ihrer Familien zu sichern.
Ihren Weg als Revolutionärin begann Domitila 1965 in Siglo XX, nach einem Massaker, das Regierungstruppen an den Minenarbeitern verübten (die Diktatur fürchtete damals ein Bündnis der Mineros mit der Guerilla Ernesto „Che“ Guevaras). Da Domitila eine der wenigen Bergarbeiterfrauen war, die lesen und schreiben konnte, wurde sie zu deren Sprecherin. Als selbstbewusste Frau hatte sie es anfangs sehr schwer, sich gegen ihre männlichen Genossen in der Gewerkschaft durchzusetzen. Allerdings änderte sich dies durch ihre Kompetenz und ihr Auftreten schnell.
Nicht zuletzt durch Domitilas Engagement wandelte sich das Frauenbild in der bolivianischen Gesellschaft nachhaltig. Der Kampf gegen politische Unterdrückung und für soziale Veränderungen wurde ihr Lebensinhalt. Zunächst richtete er sich gegen die Herrschaft von René Barrientos. Er war jedoch nicht der letzte Diktator in Bolivien, dem sie die Stirn bot.
Anfang 1978 organisierte Domitila an der Seite des 1980 ermordeten Jesuitenpaters und Journalisten Luis Espinal mit ihren Genossinnen einen dreiwöchigen Hungerstreik gegen die Diktatur des Generals Hugo Banzer. Sie wurde zu einer Symbolfigur des Widerstandes.
Domitila wurde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, ihr Sohn wurde ermordet. Doch die Bewegung weitete sich aus, erfasste innerhalb kurzer Zeit das ganze Land und Banzer musste schließlich zurücktreten und freie Wahlen zulassen. Domitila wurde zur Heldin. In dem erwähnten Interview mit Jörn Klare resümierte sie rückblickend bitter: „Es sind immer wir Arbeiter, die für die Demokratie gekämpft haben. Mit den Hungerstreiks haben wir die Demokratie erreicht, und die Demokratie hat die Arbeiter auf die Straße geworfen.“ Denn es war Victor Paz Estenssoro, der einstige Revolutionsheld, der während seiner letzten Präsidentschaft (1984-89) auf Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) die COMIBOL zerschlug und mehr als zehntausend Mineros ihrer Existenzgrundlage beraubte.
In den folgenden Jahren war sie sehr aktiv in der politischen Bildung und überzeugt davon, dass das Wissen um wirtschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse die Menschen dazu befähige, die Geschichte in die eigene Hand zu nehmen. Sie vertrat den Standpunkt, dass von oben herab kein wirklicher sozialer Wandel möglich sei.
Auch international wurde Domitila durch ihren von der brasilianischen Journalistin Moema Viezzer aufgezeichneten Lebensbericht bekannt, der unter dem Titel „Wenn man mir erlaubt zu sprechen” 1978 in der Bundesrepublik und 1983 in der DDR erschien.
In den 80er und 90er Jahren bekam Domitila Barrios de Chungara verschiedene Angebote, politische Ämter zu übernehmen, wofür sie sich allerdings nicht erwärmen konnte. In ihren letzten Lebensjahren spielte sie in der bolivianischen Politik keine große Rolle mehr. Im indigenen Aufbruch der letzten beiden Jahrzehnte war sie keine Protagonistin, vermutlich sah sie sich immer vor allem als Proletarierin. Vom Schicksal gebeutelt, musste sie stattdessen immer wieder mit Lungenkrankheiten, Nierenproblemen und Krebs kämpfen. Sie wurde berühmt, doch wohlhabend wurde sie nie und lebte bis ans Ende in bescheidenen Verhältnissen. Ihr Traum blieb der von einer gerechteren Welt, in der keine Kinder mehr hungern und barfuss gehen.