Sinneswandel oder Häutung?

Teilen die Aktivist*innen zum Thema Handelspolitik in Chile das Erstaunen bei europäischen Kolleg*innen angesichts des offensichtlichen Einverständnisses der Regierung Boric mit dem Wirtschaftsparadigma der EU, wie es das Abkommen zwischen der EU und Chile ausbuchstabiert?

Die Regierung Boric ging schon frühzeitig eine Allianz mit der Rechten und den großen Wirtschaftsgruppen ein und ließ so die ehemalige Concertación wiederaufleben (die historische Koalition von Christ- und Sozialdemokraten, deren Regierungen das neoliberale Modell Pinochets während der Transition zur Demokratie beibehielten). So schloss sie das Parteienbündnis „Socialismo Democrático“ (also die PS und andere sozialdemokratische Parteien – die Red.) in die Regierungskoalition ein, die zuvor von der Frente Amplio angeführt worden war, zu der des Weiteren auch die Kommunistische Partei und andere kleine Parteien gehören. Nach und nach verzichtet Boric so auf sein Programm. Boric hat im Übrigen als Parlamentarier nie den popularen Aufstand verteidigt, im Gegenteil, er war Sachwalter einer institutionellen Lösung und unterstützte das so genannte Friedensabkommen, das grundlegenden Änderungen Grenzen setzt. Nicht nur die Pandemie, auch dieses Abkommen stoppte den popularen Aufstand.

Der massive Rückhalt, den Boric dann bei den Präsidentschaftswahlen bekam, hat auch mit dem Willen vieler Wähler*innen zu tun, den Aufstieg von José Antonio Kast, dem Repräsentanten der Ultrarechten, zu verhindern. Die Unterstützung Boric’ für das neoliberale Modell wurde für „Chile Mejor sin TLC“ im Laufe der Verfassungsversammlung beim Abstimmungsverhalten der Regierungskoalition sichtbar, als sie etwa unsere Initiative gegen Freihandelsverträge vollkommen ablehnte, oder bei anderen Änderungsvorschlägen seitens des popularen und unabhängigen Blocks im Konvent. Außerdem bemühte sich die Regierung Boric aus unserer Sicht nicht wirklich um ein Ja beim Plebiszit zur neuen Verfassung im September 2022, was zur Niederlage des popularen Vorschlags beitrug.

Die Kräfte, die den Wechsel wollten, schafften es nicht, sich gegen die Fake News und die Offensive des dominierenden Blocks durchzusetzen, die zudem die tonangebenden Medien auf ihrer Seite hatten. Die Initiative liegt nun wieder bei den großen Wirtschaftsgruppen. Die Regierung Boric hat vor ihnen kapituliert, was sich mit dem neuen Plan für eine Verfassungsversammlung nach der Ablehnung der vom Konvent erarbeiteten Verfassung, aber auch mit den jüngsten Veränderungen im Kabinett bestätigt, wo die Rechtswende sehr deutlich wird.

Vertreter der Rechten wie Hernán Larraín, ehemaliger Justizminister der Pinochet-Diktatur, wurden von den im Kongress vertretenen Parteien als „Experten“ benannt, die der Kongress mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung beauftragte. Die Benennung Larraíns wurde sehr breit abgelehnt, unter anderem von der Vereinigung der Opfer der Colonia Dignidad, die ihn, wie sie schrieb, betrachtet „als Komplizen des Ortes, wo Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattfanden, Entführungen, Folter, Morde, Verschwindenlassen, Verscharren und illegale Exhumierungen von der Diktatur ermordeter politischer Gefangener“. 50 Jahre nach dem zivil-militärischen Putsch vom September 1973 gibt eine Regierung, die sich anfangs „ökologisch“ und „feministisch“ nannte, ihr ursprüngliches Programm auf, ratifiziert das TPP-11[fn]TPP-11 ist das Transpazifische Freihandelsabkommen. Seit dem Rückzug der USA unter Trump gehören aus Amerika Kanada, Mexiko, Peru und Chile dazu, außerdem Australien und Neuseeland und aus dem asiatisch-pazifischen Raum Brunei, Japan, Malaysia, Singapur und Vietnam.[/fn] und unterzeichnet nunmehr das Abkommen mit der Europäischen Union, das im Wesentlichen unter der Regierung Piñera ausgehandelt wurde. An die Stelle von Volkssouveränität und Verfassungsmacht treten also wieder Entscheidungen aus dem Regierungssitz und dem Kongress. Populare Aktivist*innen und soziale Bewegungen nennen so einen Prozess Betrug und Parodie. Das geht gar nicht!

Alle Verhandlungsrunden mit der EU fanden unter der vorherigen konservativen Regierung Chiles statt, die letzten sieben sogar während des sozialen Aufstands, während draußen Sicherheitskräfte auf den Straßen Demonstrierenden die Augen ausschossen. Die Abschlussrunde gelang noch vor Beginn der Wahlkampagne. Nationale wie internationale Aufrufe fordern eine Ablehnung des Abkommenstextes. Wer ist in der Regierung Boric verantwortlich für Wirtschaftspolitik und setzt sich so rundweg über diese Positionen hinweg?

Die ehemalige Ministerin Antonia Urrejola war formal verantwortlich für Außenbeziehungen. Aber ihre Position zugunsten des Abkommens mit der EU und zuvor pro TPP-11 stimmt mit der der Mehrheit des Regierungsblocks überein. Er hat sich entschieden, sozialen Forderungen den Rücken zu kehren und sich von den Wünschen des nationalen Unternehmertums in Allianz mit den großen Konzernen leiten zu lassen.

Gibt es noch Chancen, dass die Regierung Boric das Abkommen ablehnt? Welche Strategie verfolgt „Chile Mejor Sin TLC“, die Ablehnung insgesamt oder die Neuverhandlung bestimmter Kapitel, und wenn ja, welcher?

„Chile Mejor Sin TLC“ erwartet in keinster Weise irgendetwas von dieser Regierung. Unsere Arbeit richtet sich auf populare Sektoren, die die Folgen der Verschärfung der schlimmsten Aspekte des herrschenden neoliberalen Modells spüren, welche sich in Umweltzerstörung, Erhöhung der Lebenshaltungskosten, Anwachsen neofaschistischer Sektoren, Repression der mobilisierten Bevölkerungsteile und einer zunehmenden Militarisierung der indigenen Territorien ausdrücken, die sich im permanenten Ausnahmezustand befinden. Wir lehnen das Abkommen rundheraus ab und zeigen gegenüber den popularen Sektoren, was dieses Abkommen mit der stetigen Abnahme von Lebensqualität und unseren schwindenden sozialen, Umwelt- und Arbeitsrechten zu tun hat.

Aus Sicht europäischer Unternehmer*innen, die von der Europäischen Kommission vertreten werden, sind die Vorteile des Abkommens evident. Es stellt einen gigantischen Schritt hin zur Externalisierung der Kosten für die Energiewende und die Elektromobilität dar, indem es den Zugriff auf notwendige Rohstoffe wie Lithium, grünen Wasserstoff und Kupfer leichter macht, Rohstoffe also, deren Abbau und Herstellung im Falle einer Ratifizierung des Abkommens soziale und Umweltschäden weit weg von Europa verursachen. Was ist der Vorteil für Chile? Was für diejenigen, die Boric wählten?

Die Vorteile sind nicht für Chile, sondern für solche Unternehmen, die im Bergbau, in der Energiewirtschaft, in der Agrarindustrie und ähnlichen Bereichen aktiv sind. Diejenigen, die eine Regierung wählten, die sich selbst ökologisch und feministisch nennt, entdecken jetzt das wahre Gesicht dieser Administration. Die schamlose Wende der Regierung nach rechts, dazu die Ablehnung der neuen progressiven Verfassung im Plebiszit, hat breite Bevölkerungsteile in Hoffnungslosigkeit gestürzt. Die Glaubwürdigkeit der Politik ist niedriger denn je.

Das Kapitel 8 des EU-Chile-Abkommens, „Energie und Rohstoffe“, enthält Klauseln, die den europäischen Zugriff unter anderem auf Kupfer und auf erneuerbare Kraftstoffe wie den so genannten „grünen Wasserstoff“ garantieren, der für die Förderung von Lithium nötig ist, womit die Fähigkeit des Staates eingeschränkt wird, über die Regulierung seiner natürlichen Gemeingüter zu entscheiden. Dies entspricht den Interessen der EU und ihrem Ziel von Energiewende und Elektromobilität, aber es ignoriert die Interessen (und Kosten) für unser Land.

Die nach den Vorgaben des Abkommens anzuwendenden Prinzipien sind Transparenz und Nichtdiskriminierung. Das klingt erstmal gut, aber die „Nichtdiskriminierung“ bezieht sich nicht auf soziale und ethnische Gruppen, sondern auf die großen europäischen Unternehmen, die in Chile nicht „diskriminiert“ werden dürfen. Wenn Chile Zölle auf europäische Projekte erheben oder bei EU-Investitionen Bedingungen wie Technologietransfer stellen möchte, würden diese Maßnahmen als Hemmnis oder technisches Handelshindernis gelten, also als Diskriminierung. Chile wird also gezwungen sein, Lithium an die EU zum gleichen Preis zu verkaufen wie an einen Unternehmer in Chile oder einem Nachbarland, was die Bildung binationaler Unternehmen mit Firmen aus Ländern wie Argentinien oder Bolivien erschwert. Bei Straßen- oder anderen Verkehrsverbindungen können keine Sonderabgaben oder Kompensationen verlangt werden.

Deswegen können wir nicht von Vorteilen sprechen. Der Vertrag ist ein Ausdruck von Neokolonialismus, da Chile die sozialen und die Umwelt- sowie Klimakosten bezahlen wird. Für jedes Kilo „grünen“ Wasserstoffs braucht man zehn Liter entmineralisiertes Süßwasser und in großem Maße Energie, die durch Umwandlung von Agrarland in Photovoltaik- oder Windenergieparks in Gegenden gewonnen wird, die so vom herrschenden Extraktivismus doppelt bestraft werden.

In den Territorien und Ökosystemen, wo sich Lithium und andere Mineralien befinden, sind die Schäden des intensiven Abbaus in den Salzseen und deren Umgebung schon sichtbar, wie auch indigene Gemeinden bestätigen. Andererseits wird das Abkommen dazu beitragen, weiter auf den Individualverkehr zu setzen, statt etwa dem öffentlichen Transport den Vorzug zu geben. Wir wissen, dass es im EU-Parlament eine Debatte zum Thema „Due Diligence“ (Sorgfaltspflicht, Lieferkettengesetz) geben wird, wo es um die Auswirkungen der Präsenz europäischer Unternehmen in Ländern wie dem unseren geht. Wir wollen in diese Diskussion eingreifen, damit die Europarlamentarier*innen die Realität hier begreifen, da das Abkommen in den Medien Chiles und der EU als großer Erfolg dargestellt wird.

Abgesehen von einem erleichterten Zugang zu Rohstoffen aller Art, von Avocados bis Lithium, erhofft sich Europa Exportsteigerungen bei seinen Industrieprodukten nach Chile von Maschinen bis zu Pestiziden. Von den nach Chile exportierten Pestiziden und deren Vorprodukten sind mindestens 26 in Europa verboten. Wie sind die Reaktionen darauf bislang in Chile und was kann man auf der Basis des Abkommens tun? Kann man das Vorsorgeprinzip im Kapitel Nachhaltigkeit anwenden?

Das Aktionsnetzwerk Pestizide, das zu „Chile Mejor Sin TLC“ gehört, hat sich über diese Situation beschwert und verlangt, dass das Abkommen das Exportverbot aller in Europa verbotenen Pestizide nach Chile gewährleisten müsse. Doch die mehr als 50 hochtoxischen, in der EU verbotenen und in Chile registrierten Pestizide dürfen weiter nach Chile exportiert werden, solange die EU diese Doppelmoral nicht politisch verbietet. Viele Bauern arbeiten längst agroökologisch oder stellen derzeit um. Das Vorsorgeprinzip steht nur im Nachhaltigkeitskapitel und dort ist es nicht einklagbar. In Bezug auf Handel und Ernährung kommt es nicht vor.

Die Modernisierung des Abkommens enthält ein für die EU-Außenpolitik neuartiges Kapitel „Handel und Gender“. Wenn man das Kapitel liest, fällt aber auf, dass mit „Gender“ lediglich Frauen gemeint sind, obwohl auch Männer und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern angesprochen sein sollten. Zudem geht es nur um das Ziel, Frauen in den Exportarbeitsmarkt zu integrieren. Für Machos und Leute, die geschlechtsbedingte Hierarchien ignorieren, mag das ein Fortschritt sein, aber wenn das Kapitel ernst gemeint wäre, müsste es analysieren, was Investitionen und Import/Export jeweils für Frauen und Männer bedeuten, Maßnahmen zum Hierarchieabbau unterstützen und auch die in der patriarchalen Wirtschaft unsichtbar gemachte Reproduktionsarbeit reflektieren. Wie wirkt sich das Abkommen im Hinblick auf männlich gelesene Arbeitsplätze erwartbar aus? Ist es diesbezüglich ein „next generation agreement“, wie EU-Handelskommissar Dombrovskis lobt, oder zementiert es eher klassische Verhältnisse und ist insofern ein „last generation agreement“?

Die Gender-Kapitel in diesem und anderen Abkommen sind Lockvögel, um Fortschrittlichkeit und Feminismus zu behaupten, ohne weiteren inhaltlichen Zweck. Damit wird die Checkliste neuer Themen abgehakt. Es ist Augenwischerei, gerade auch für populare Frauen. Das Abkommen führt zu noch mehr Bergbau, Holzeinschlag und Agroindustrie, deren Auswirkungen besonders die Frauen und deren Sorgearbeit zu spüren bekommen. Es sind die Frauen, die sich um kranke Kinder oder Ehemänner in den vom Bergbau verseuchten Territorien kümmern müssen. Weil Wasser fehlt, verkümmern ihre Gemüsegärten. Weil Baummonokulturen und Exportlandwirtschaft immer größere Flächen einnehmen, gibt es keine gesunden Lebensmittel und keine natürlichen Medikamente. Frauenkrankheiten und sogar Krebs nehmen zu. Krebs ist in den letzten Jahren in Chile sogar zur tödlichen Krankheit Nr. eins aufgestiegen, noch vor Gefäßerkrankungen. Das hat mit den im Land vorherrschenden Arbeitsbedingungen und der Art von Ernährung, die sich daraus ergibt, zu tun.

Ein weiteres „innovatives“ Kapitel betrifft ISDS/ICS (Klagemöglichkeit von ausländischen Unternehmen gegen Staaten). Chile wird gerade vom französischen Flughafenbetreiber ADP und Vinci Airports auf 455 Millionen Dollar wegen entgangenen Gewinns während der COVID-Pandemie (wegen der zeitweiligen Schließung von Flughäfen) verklagt. Die Klage beruht auf dem bilateralen Investitionsabkommen (BIT) Frankreich-Chile von 1992 und ist beim Schiedsgericht ICSID bei der Weltbank anhängig. Das Urteil steht noch aus. Führen solche Klagen nicht zu enormer Reserviertheit, wenn solch ein Kapitel im EU-Chile-Abkommen die 18 existierenden BITs mit einem Strich um neun (der übrigen EU-Länder) erweitert?

Noch kurz vor der Unterschrift von Ministerin Urrejola unter den Vertrag veröffentlichten 500 Organisationen sowie Persönlichkeiten und Parlamentarier*innen aus der EU und Chile einen Appell gegen die Modernisierung des Abkommens. Das war sogar der chilenischen EU-Botschafterin in Brüssel unangenehm, wie wir hörten. Die Regierung Chiles hüllt sich gegenüber der französischen Forderung in Schweigen, obwohl letztere mithilfe von Investitions- oder Freihandelsabkommen unsere Sozialpolitik herausfordert. Es gibt mehr solcher Klagen und sie werden mit dem Abkommen noch zunehmen. Ein anderer offener Fall ist der des Wasseraufbereiters Suez/Frankreich, der sich aus seiner Verantwortung stehlen will, obwohl Öl in sein Wasserbecken in Collipulli im Süden Chiles gelaufen ist. Ein Teil unserer Strategie ist zu zeigen, wie öffentliche Gelder aufgrund von Klagen, die die Länder des Südens oft verlieren, in den Taschen von Multis landen. So fehlen dann Gelder im öffentlichen Haushalt, die eigentlich in dringende Maßnahmen in den Regionen wie Gesundheit, Wohnungsbau, Bildung, würdige Arbeit oder Zugang zu Wasser für Mensch und Natur fließen sollten.

Ein fundamentales Problem des chilenischen Wirtschaftsmodells ist die Privatisierung aller Dienstleistungen, von der Bildung über Gesundheit bis zu den Renten. Was sagt der Vertrag diesbezüglich? Ist es nötig, ausländische Beteiligungen in diesem Bereich zu regulieren und/oder zu begrenzen?

Das Abkommen bestätigt das Subsidiaritätsprinzip. Der Staat überträgt die Verantwortung an Private, egal ob in- oder ausländisch. Mit dem modernisierten Abkommen können letztere in neue Bereiche vordringen, wo sie bislang noch nicht tätig waren.