So viele Fragen, noch so wenig klare Antworten

In der Straße Chihuahua im Hauptstadtviertel Colonia Roma bildet sich vor dem Haus mit der Nummer 216 fast jeden Werktag eine Schlange. Dort befindet sich AMLOs Wahlkampfzentrale, die nun als eine Art vorläufiger Amtssitz fungiert. Einfache Leute aus dem ganzen Land kommen dorthin, um Bittgesuche zu übergeben. Gemeindevertreter*innen erinnern an Zusagen, die AMLO machte, als er auf seiner unermüdlichen jahrelangen Reise in jeden Winkel Mexikos auch ihren Landkreis besuchte. Gleichzeitig wurden in der Chihuahua 216 bereits US-Außenminister Mike Pompeo sowie seine Kabinettskolleg*innen Finanzminister Steven Mnuchin und Sicherheitsministerin Kirstjen Nielsen vorstellig. Auch Kanadas Außenamtschefin Chrytia Freeland kam bereits vorbei, dazu eine Reihe von Botschafter*innen, der erste war der chinesische. Der noch amtierende Präsident Enrique Peña Nieto von der einst allmächtigen PRI? Fast vom Erdboden verschwunden.

AMLOs vorgezogene Regierung kommt bei der breiten Bevölkerung bisher gut an. Die atmet durch, will sich das gute Gefühl nicht durch kritische Stimmen vermiesen lassen. Mit einem durch keine Manipulationen mehr zu verhindernden Befreiungsschlag an den Wahlurnen setzten die Mexikaner*innen einen vorläufigen Schlusspunkt vor allem unter die letzten 18 Jahre der Regierungen der Partei der Nationalen Aktion (PAN) und der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI). Diese führten nicht nur die immer stärker neoliberal ausgerichtete Politik der alten PRI ab 1982 fort. Mit dem 2006 unter PAN-Präsident Calderón erklärten „Krieg“ gegen die Drogenkartelle provozierten sie immer mehr Gewalt im Land. Nur der absolute Überdruss an dieser Politik erklärt, dass das Schreckgespenst des angeblich linken Populisten AMLO und seiner Nationalen Erneuerungsbewegung (MORENA) bei den Wähler*innen nicht mehr verfing. Jedes verzweifelte Manöver, das PRI und PAN in den letzten Wochen vor der Wahl versuchten, schlug gegen sie selbst zurück. Der Vertrauensvorschuss, der AMLO dagegen gewährt wird, ist enorm. Nach einer im ersten Augustdrittel durchgeführten Umfrage der Tageszeitung El Universal sagten 60 Prozent der Befragten, sie würden bei einer neuen Wahl für AMLO stimmen. Ein Zuwachs von 7 Prozent innerhalb einer Monats. Sogar 69 Prozent der Befragten glauben, es werde Mexiko unter AMLO besser gehen. Um die Dimensionen noch deutlicher zu machen: Ricardo Anaya, mit 22 Prozent abgeschlagener Zweiter bei den Präsidentschaftswahlen, verteidigte bei der Augustumfrage seinen Platz. Mit 11,4 Prozent der Stimmen…

Nüchtern betrachtet können auf diese Euphorie nur Dämpfer folgen. Zu widersprüchlich ist die Zusammensetzung des Regierungskabinetts. Zu wenig konkret bleiben viele Vorschläge. Zu viele Konfliktfelder warten auf die neue Regierung. Zu stark ist bisher alles auf die Person López Obrador zugeschnitten. Die Regierung dezidiert links zu nennen, wäre verwegen, AMLO als neuen Hoffnungsträger Lateinamerikas zu bezeichnen vermessen. Jede Aussicht auf positive Veränderungen von vornherein zu verneinen, wird der derzeitigen Stimmung und dem damit verbundenen Potenzial allerdings ebensowenig gerecht. Einige der Konfliktfelder und Widersprüchlichkeiten sollen hier angesprochen werden.

Gewalt und ihre Aufarbeitung: Erst vor kurzem bezeichnete die Statistikbehörde Inegi 2017 als bisher gewalttätigstes Jahr, seit die Gewaltdelikte vor 20 Jahren erstmals systematisch erfasst wurden. 31 174 registrierte Morde und nichts deutet auf eine Trendwende in diesem Jahr hin. Am 7. August fand in Anwesenheit des gewählten Präsidenten das erste von insgesamt 17 bis zum 24. Oktober geplanten und über das Land verteilten „Foren zur nationalen Befriedung und Versöhnung“ in Ciudad Juárez statt. Zeitgleich gab es dort vier Feminizide. Wenige Tage zuvor wurden in der Stadt aufgrund einer mutmaßlichen Abrechnung zwischen Drogenkartellen 27 Morde innerhalb von 24 Stunden verübt. Auf den Foren sollen Vorschläge im Bereich der Sicherheitspolitik zwischen künftigen Regierungsmitgliedern, Fachleuten und Vertreter*innen von Menschenrechts- und Opferorganisationen diskutiert werden. AMLO stellt dort zudem sein Konzept einer Amnestie für Drogenkriminelle sowie seine Idee von „Vergebung, nicht Vergessen“ zur Debatte. Dies soll die Grundlage für die Wiederherstellung des zerstörten gesellschaftlichen Zusammenhalts sein. Zwar erklärte Alfonso Durazo, zukünftiger Chef des wieder eingeführten Sicherheitsministeriums, Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Massaker, zwangsweises Verschwindenlassen und Hinrichtungen würden auf keinen Fall unter die Amnestie fallen. Doch vieles bleibt schwammig. Gerade für die Angehörigen von Ermordeten und Verschwundenen ist die Vorstellung eines möglichen Vergebens ohne Gerechtigkeit unerträglich. Immerhin, Durazo gab Mitte August unumwunden zu, das Land sei „ein Friedhof“. Die designierte Innenministerin und frühere Verfassungsrichterin Olga Sánchez Cordero sowie ihr zukünftiger Staatssekretär für Menschenrechte, Alejandro Encinas, haben in Gesprächen mit Familienangehörigen von Verschwundenen eine Sensibilität gezeigt, die den Funktionär*innen von PRI und PAN auf Bundes- und Bundesstaatsebene in der Regel völlig abging. Encinas hat angekündigt, die von einem Bundesgericht vor wenigen Monaten angeordnete Wahrheitskommission zu den 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero zu seiner Priorität zu machen. Derzeit versucht die noch amtierende PRI-Regierung über die Generalbundesstaatsanwaltschaft, diese Wahrheitskommission mit etwa 100 verschiedenen Einsprüchen für „juristisch unmöglich“ erklären zu lassen.

Die Rolle des Militärs und der Geheimdienste: Mit Kritik am Militär hat sich AMLO bisher absolut bedeckt gehalten. Auch unter seiner Regierung soll das Vorschlagsrecht für den neuen Verteidigungsminister aus den Reihen der Militärs selbst kommen. Das Thema der Streitkräfte ist brisant. Im Bundesstaat Tamaulipas stehen Marinesoldaten unter Verdacht, für das zwangsweise Verschwindenlassen von mehr als zwei Dutzend Personen verantwortlich zu sein. Es gibt eine Aufforderung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, dieser Anklage auf den Grund zu gehen. Anfang August forderte ein Gericht die Staatsanwaltschaft auf, den Fall Tlatlaya neu aufzurollen und dabei die Befehlskette des Heeres erneut zu untersuchen. Am 30. Juni 2014 hatte es nach offizieller Darstellung im Landkreis Tlatlaya im Bundesstaat Mexiko eine bewaffnete Konfrontation zwischen Militärs und Kriminellen gegeben. Vieles deutet aber darauf hin, dass die meisten der 22 zivilen Opfer von den Soldaten hingerichtet wurden. Im Fall von Ayoztinapa tun die Militärs bis heute alles, eine unabhängige Befragung über ihre mögliche Verwicklung in das Verschwindenlassen der Studenten zu verhindern. Gerade im Bundesstaat Guerrero tauchen immer wieder Informationen auf, die nahelegen, dass die Armee in bestimmten Regionen längst von der Drogenbekämpferin zur Drogenschützerin mit eigenen wirtschaftlichen Interessen mutiert ist. Vorerst hat AMLO angekündigt, die vom Militär gestellte und mit etwa 8000 Mitgliedern völlig überdimensionierte Präsidentengarde komplett aufzulösen. Auch der Geheimdienst soll neu strukturiert werden und „nie wieder“ die Bürger*innen ausspionieren. Andererseits halten selbst AMLO-Anhänger*innen dessen Idee, sich als Präsident im Wesentlichen von jeweils zehn unbewaffneten Frauen und Männern schützen zu lassen, für ausgesprochen wagemutig bis selbstmörderisch.

Quadratur des Kreises in der Wirtschaftspolitik: Der nach dem neuen Präsidenten zweitmächtigste Mann wird nach dem Stand der Dinge der neue Kanzleramtsminister und Unternehmer Alfonso Romo sein. Dieser spielte im Wahlkampf den erfolgreichen Vermittler mit der mächtigen Unternehmerschaft im Norden Mexikos, vor allem im Bundesstaat Nuevo León mit der Hauptstadt Monterrey. Er redet davon, aus Mexiko ein „Investitionsparadies“ zu machen. Bezüglich des vor den Wahlen ruppigen Klimas zwischen Großunternehmern und AMLO äußert er sich nun mit Begriffen wie „Flitterwochen“ und „Ehe“. Zu AMLOs Wirtschaftsprogramm gehört die Ausweitung von Wirtschaftssonderzonen vor allem an der US-Grenze und im Süden des Landes. Dazu kommen Megaprojekte wie der verkehrs- und handelstechnische Ausbau des Isthmus von Tehuantepec oder eine Eisenbahnlinie für den Tourismus auf der Halbinsel Yucatán. Wie ernst zu nehmen ist in diesem Zusammenhang die Aussage der MORENA-Vorsitzenden und Generalsekretärin in Personalunion, Yeidckol Polevnsky: „Wir lassen keine neoliberalen Positionen in der Regierung zu“? Die Energiereform von 2014, die das Land in bisher nicht gekanntem Ausmaß der ausländischen Extraktivismusindustrie in all ihren Formen öffnete, will AMLO in den Grundstrukturen respektieren. Im Gegenzug verspricht er, auf Fracking zu verzichten sowie parastaatliche Unternehmen wie die Stromgesellschaft CFE und den Ölkonzern Pemex bevorzugt zu berücksichtigen. Doch vieles hat die PRI-Regierung noch schnell festgeklopft. Strom kann seit Kurzem auch von der Privatindustrie angeboten werden. Für die Ausbeutung lukrativer Öl- und Gasfelder sind viele Konzessionen bereits an ausländische Konzerne übergeben. Bergbaufirmen haben Konzessionen auf Jahrzehnte hinaus. Innerhalb von etwa zwei Jahren hat Pemex statt eines Tankstellenmonopols nur noch 75 Prozent Marktanteil. Die unter den Vorgängerregierungen bewusst vernachlässigten Ölraffinerien will die zukünftige Regierung modernisieren. Denn inzwischen werden im Ölförderland Mexiko 70 Produzent des Benzins importiert, fast komplett aus den USA. Doch ob der geplante Bau neuer Raffinerien angesichts sich erschöpfender Reserven und des Klimawandels unbedingt zukunftsweisend ist? Über das wegen der Auswirkungen auf die anliegenden Gemeinden und die Umwelt sowie der Bodenverhältnisse umstrittene Projekt eines Neubaus des Internationalen Flughafens am Rande der Hauptstadt will AMLO im Oktober die Bevölkerung befragen. Die noch amtierende Regierung hat die Bauarbeiten mit allen Mitteln vorangetrieben. Entscheidet sich die neue Regierung für den Weiterbau, wird sie die vielen Flughafengegner*innen enttäuschen. Bricht sie das Vorhaben ab, wird das eine teure Angelegenheit mit möglichen Schadenersatzforderungen.

Zur Situation auf dem Land, wo die Drogenkartelle über eine unerschöpfliche Reservearmee verfügen und viele Landkreise komplett unter ihrer Kontrolle haben, sagt AMLO: „Diejenigen, die uns ernähren, sollen selber zu essen haben.“ Er will lokale Verkaufsketten fördern, vernünftige Garantiepreise festlegen, die Ernährungssicherheit fördern und Lebensmittelimporte reduzieren. Ein massives Wiederaufforstungsprogramm mit Obstbäumen, Kaffeesträuchern und Nutzhölzern auf einer Million Hektar soll innerhalb der kommenden zwei Jahre nicht nur weite Regionen verändern, sondern viele Arbeitsplätze schaffen. Gleichzeitig stärkt López Obrador explizit dem Landwirtschaftsminister Víctor Villalobos den Rücken. An ihn erinnern sich viele als früheren Verfechter der Gentechnik und Verbündeten des Monsanto-Konzerns in der staatlichen Verwaltung. Wie wird sich die neue Regierung zu der Situation der Saisonarbeiter*innen und Tagelöhner*innen stellen, die unter miserablen Bedingungen vor allem in den großen landwirtschaftlichen Exportbetrieben im Landesnorden schuften?

Ein neues Verhältnis zu den indigenen Völkern? Zu allen Projekten, die indigene Gemeinden betreffen, soll es Befragungen und Abstimmungsprozesse geben. Doch auf dem Papier und in der Gesetzgebung ist das heute schon festgeschrieben. Die entscheidende Frage ist: Wird der indigenen Bevölkerung tatsächlich ein Vetorecht zugestanden, wenn sie sich gegen Extraktivismusvorhaben, Staudämme, Öl- und Gasleitungen etc. auf ihren Territorien entscheidet? Die neue Regierung will die 1996 unvollendeten Abkommen von San Andrés zwischen Regierung und der Zapatischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) umsetzen, sagt sie. Doch erster Ansprechpartner sind eben die Zapatist*innen. Die zeigen López Obrador die kalte Schulter.  Die zapatische Führung äußerte sich mehr als harsch zu AMLOs Wahlsieg: „Sie können den Vorarbeiter, die Verwalter und Korporale auswechseln, aber der Fincabesitzer bleibt immer derselbe”, beurteilten sie den Spielraum der neuen Regierung in der kapitalistisch geprägten Welt. Ein schlecht vorbereiteter Annäherungsversuch des wegen seiner Arbeit mit Migrant*innen landesweit bekannten Paters Alejandro Solalinde an die EZLN endete vorläufig im Fiasko. Die Zapatist*innen können nicht für alle indigenen Völker Mexikos sprechen. Aber sie sind eine besonders wichtige Stimme.

Im Verhältnis zu den USA und Donald Trump herrscht Unklarheit. Es ist kein Geheimnis, dass AMLO den Abschluss oder das Scheitern der Neuverhandlungen des Freihandelsabkommens zwischen Kanada, USA und Mexiko (NAFTA) gerne noch der amtierenden Regierung überlassen möchte. In einem ersten Brief an Trump bezog AMLO sich auf die Gemeinsamkeit des Kampfes gegen das politische Establishment. Er bot an, durch bessere wirtschaftliche Bedingungen in Mexiko den Migrationsdruck zu verringern. Mit demselben Ziel schlug er vor, gemeinsam eine wirtschaftliche Entwicklung in Mittelamerika zu fördern. Freizonen und Steuervergünstigungen im Grenzgebiet sollen den Handel mit den USA ausbauen. Über die menschenunwürdige Behandlung der Migrant*innen und die Familientrennung in den USA verlor er kein Wort. Anbiederung oder reine diplomatische Vorsicht? Eine weitere Frage.

Die Widersprüchlichkeiten und Fragezeichen ließen sich noch an vielen weiteren Themen abarbeiten. Was wird am Ende aus der versprochenen Rücknahme der von weiten Teilen der Lehrer*innenschaft abgelehnten Bildungsreform unter der PRI-Regierung? Wird der politische Machtwechsel dazu beitragen, die korrupten und seit Jahrzehnten regierungshörigen Führungsriegen in vielen Gewerkschaftsverbänden abzulösen? Wird der seit dem 2. Juli von AMLO gefahrene Umarmungs- und Versöhnungskurs mit Privatwirtschaft und politischen Gegner*innen ein Ende finden oder eine „künstliche Harmonie“ aufrechterhalten, wie die Anwältin Magdalena Gómez es jüngst nannte? Im Wahlkampf hatte López Obrador immer wieder und zu Recht die „Mafia der Macht“ gebrandmarkt. Wird es eine liberalere Drogenpolitik, aber eine wirksamere Kontrolle der illegalen Finanzströme des organisierten Verbrechens geben? Hat der angekündigte Kampf gegen die Korruption in allen Bereichen der Gesellschaft eine reale Erfolgschance? Werden die staatlichen Beschäftigten mitziehen, wenn sie nun, wie von López Obrador angekündigt, unter seiner Regierung auch samstags arbeiten sollen? Wird AMLOs mehrfach von ihm ausgedrückter Respekt vor der Gewaltenteilung und dem derzeit gar nicht existenten Rechtsstaat in der Praxis Bestand haben? Oder werden seine Popularität und der Mangel an widerspruchsbereiten Führungspersönlichkeiten in den eigenen Reihen ihn doch zu dem allein entscheidenden „Tropenmessias“ machen, als den ihn seine Gegner*innen bei seiner ersten Kandidatur 2006 bezeichneten?

Die ursprünglich aus dem sozialkonservativen Lager kommende Politikerin Tatiana Clouthier, die erfolgreich AMLOs Wahlkampf in den neuen Medien organisierte, wies in einem Interview mit der Tageszeitung La Jornada zu Recht darauf hin, dass López Obrador Leute „von A bis Z“ um sich scharte. Die Frage sei zu wissen, in was man sich einig sei. „Besser es gibt keine Träumer, damit es keine Enttäuschten gibt.“ Der Jubel am Wahlabend und die noch gestiegene Popularität AMLOs zeigen, dass viele der Wähler*innen mit der neuen Regierung durchaus Träume verbinden. Leider ist die Gefahr herber Enttäuschungen sehr real.