Soziale Proteste in Lateinamerika

Wenn man mich nach sozialen Protesten in Lateinamerika fragen würde, dann wüsste ich nicht, wo ich anfangen soll. Soll ich über städtische Proteste gegen die WM in Brasilien sprechen, über Cyberproteste gegen den Wahlbetrug in Mexiko oder über die Proteste von Kleinbauern in Paraguay, die von ihrem Land mal wieder vertrieben wurden? Torben Ehlers hat nun mit dem Sammelband „Soziale Proteste in Lateinamerika“ ein notwendigerweise unvollständiges Panorama lateinamerikanischer Widerstandsbewegungen gezeichnet.

Zunächst verwirrt mich das Cover des Buches. Dort blickt mir Simon Bolívar mit einem wohl zapatistischen Tuch ums Gesicht entgegen und das Buch trägt den Untertitel „Bolívars Erben im Kampf um Eigenmacht, Identität und Selbstbestimmung“. Warum Bolívar nun für alle unterschiedlichen Proteste Lateinamerikas stehen soll, erschließt sich mir ebenso wenig wie die Frage, warum zum Beispiel die antistaatliche und vorwiegend indigene EZLN sich als „Erbe Bolívars“ fühlen soll. Nach dem Lesen ist meine Skepsis jedoch verflogen, denn das Buch besteht aus hervorragenden Artikeln, die teilweise eher eine Einführung liefern und manchmal sehr spezielle Themen behandeln. 

Hervorheben möchte ich den Artikel zu den indigenen Bewegungen in Ecuador von Daniela Célleri und Sebastian Matthes. Beide Autoren liefern ein umfassendes Panorama der indigenen Thematik, um dann zu untersuchen, welche Rolle indigene Konzepte, wie das Buen Vivir und Plurinationalität, bei den Veränderungen durch die „Bürgerrevolution“ unter Rafael Correa zukommen. Das Fazit über die Regierungsarbeit fällt widersprüchlich aus. Die indigene Bewegung erscheint geschwächt und wenig repräsentiert. Gleichzeitig kommt es aber auch zur Erhöhung von Sozialausgaben, von denen vor allem die armen Schichten profitieren. Diese Ausgaben sind aber nur durch einen starken Extraktivismus möglich, der letztlich wiederum negative Konsequenzen für die Umwelt und damit auch die indigenen Bevölkerungsteile hat.

Eine differenzierte Betrachtung einer aktuellen linken Regierung liefert auch Utz Anhalt anhand des Beispiels Venezuelas (allerdings noch vor dem Tod von Hugo Chávez). Er stellt fest, dass sich Basisdemokratie und autoritäre Elemente vermischen und letztlich nur eine Stärkung der Basisarbeit die Probleme der Korruption und des Autoritarismus überwinden kann. Untermauert werden die Thesen mit dem Beispiel des Kooperativenverbands Cecesola (siehe ila 354 und 359).

Neben diesen Themen, die zurzeit viele Debatten prägen, gefallen aber auch ganz besonders die etwas spezifischeren Artikel. So wird Jamaica unter Bezug auf die Strukturen der (urbanen) Gewalt untersucht. Eva Kalny beschreibt, wie die indigene Bewegung Guatemalas gegen Megaprojekte mobilisiert und dabei zunehmend Unterstützung anderer sozialer Bewegungen erhält.

Aus Mexiko gibt es ein erstaunliches Beispiel. Der Dichter Javier Sicilia hatte im Jahr 2011 seinen Sohn verloren und daraufhin zum Protest aufgerufen, bis die Umstände des Todes seines Sohnes geklärt seien. Dabei traf er den Nerv vieler Mexikaner (Estamos hasta la madre – Wir haben die Schnauze voll), die daraufhin zu einem Marsch in die Hauptstadt aufbrachen. Zur Abschlusskundgebung kamen 100 000 Personen. Torben Ehlers zeigt, das Besondere an dieser eher mittelständischen Protestform ist, dass sie auch Verbindungen zu den indigenen Gemeinden und ihren lang andauernden Kämpfen gegen Repression und Straflosigkeit schlagen kann. Zuletzt wird von Ehlers jedoch kritisch betrachtet, welche Erfolgsaussichten tatsächlich in einem derart korrupten Land wie Mexiko bestehen. Noch vor der Wahl 2012 geschrieben, betont Ehlers, dass von den oppositionellen Parteien, damals noch PRI und PRD, wenig Alternativen zu erwarten seien. 

Spannend ist auch die ungewöhnliche Perspektive auf Cuba. Hier werden zwei sehr unterschiedliche Bewegungen dargestellt: Die ausländisch finanzierten „Damen in Weiß“ und Hiphop als kritische cubanische Jugendbewegung. Daniela Kälber empfindet den Moment als günstig, um größeren Raum für Andersdenkende zu schaffen, damit die Revolution nicht „ihre Kinder frisst“.

Insgesamt ein spannendes Buch, das Grundlagen liefert oder Themen beleuchtet, mit denen man sich sonst weniger auseinandersetzt. Natürlich kann ein Buch zu sozialen Protesten in Lateinamerika kein umfassendes Bild liefern, weswegen pro Land nur bestimmte Protestbewegungen besprochen werden (in Chile z.B. die Bildungsproteste anstelle der Mapuche-Revolten). Das möchte man dem Werk aber auch nicht vorwerfen. Schön wäre es noch gewesen, wenn man lateinamerikanische AutorInnen mit ins Boot geholt hätte und so auch lateinamerikanische akademische Debatten für die deutsche LeserInnenschaft geöffnet hätte.

Torben Ehlers (Hg.): Soziale Proteste in Lateinamerika. Bolivars Erben im Kampf um Eigenmacht, Identität und Selbstbestimmung, Argument Verlag, Berlin 2013, 416 Seiten, 24,- Euro