Der politische Transformationsprozess in Venezuela weckt zunehmend das Interesse von internationalistischen Linken im deutschsprachigen Raum. Während andere soziale Veränderungsprozesse in Lateinamerika überwiegend nur bestimmte Spektren ansprechen (Chiapas vor allem jüngere anarchistisch-libertäre und autonome Linke, Cuba eher ältere „traditionelle“ Linke) ist die Entwicklung in Venezuela so heterogen, dass sich Leute aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen damit auseinandersetzen. Im vergangenen Frühjahr sind drei Bücher zu Venezuela erschienen, zwei von AutorInnen aus der eher traditionellen Linken (André Scheer und Sahra Wagenknecht), eines von einem Autor mit einem autonomen bzw. linksradikalen Hintergrund (Raul Zelik, vgl. die Besprechung aller drei Titel in der ila 276).
Das kürzlich erschienene Buch „Venezuela. Welcome to our Revolution – Innenansichten des bolivarianischen Prozesses“ kommt aus letzterem Spektrum. Es ist das Ergebnis einer vierwöchigen Delegationsreise nach Venezuela, bei der die TeilnehmerInnen unterschiedliche Projekte und Regionen besuchen und mit zahlreichen AktivistInnen des bolivarianischen Prozesses reden konnten. Diese Interviews – insgesamt 19 – bilden den Kern des Buches. Ergänzt werden sie durch redaktionelle Beiträge zur Geschichte Venezuelas, zu den „misiones“, dem Kernstück der Sozialpolitik der Chávez-Regierung, über die venezolanische Industrie, die Landwirtschaft und die Medien. Die interviewten AktivistInnen sehen die politische Entwicklung Venezuelas sehr differenziert. Das heißt nicht, dass unter den Befragten Leute sind, die mit der rechten Opposition sympathisieren. Aber sie benennen verschiedene Widersprüche, von deren Lösung es abhängt, in welche Richtung sich der politische Prozess entwickeln und ob es zu einer wirklichen Revolution kommen wird. Die Mehrheit der Interviewten vertritt die Meinung, dass die überwiegend nach dem Amtsantritt von Chávez im Jahr 1999 entstandenen Basisbewegungen das Rückgrat des revolutionären Prozesses bilden.
Die Basisbewegungen hätten die Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des Putsches im April 2002 gespielt, ebenso beim Scheitern des Unternehmerstreiks Ende 2002, Anfang 2003, und hätten Chávez schließlich zu seinem triumphalen Sieg beim Referendum im August 2004 verholfen. Daher käme ihnen auch die führende Rolle im politischen Prozess zu. Ziel sei die Schaffung einer partizipativen Demokratie mit Rätesystemen auf unterschiedlichen Ebenen. Die Gegner einer solchen Entwicklung sehen sie nicht nur in der venezolanischen Rechten und dem US-Imperialismus. Auch in den eigenen bolivarianischen Reihen gäbe es Kräfte, die das Projekt einer partizipativen Demokratie nur halbherzig unterstützen, vor allem die politischen Parteien und das Militär. Die Parteien, die die Regierung Chávez unterstützen, wie die Bewegung Fünfte Republik (MVR), die linkssozialdemokratische PPT und die Kommunistische Partei (PCV) ständen für das alte klientelistische und vertikale System, das die Leute entmündige und der Korruption Vorschub leiste. Viele Funktionäre der früheren Regierungen hätten sich in diese Parteien – insbesondere die MVR – integriert und hofften dort ihre politischen Karrieren unter den neuen Bedingungen fortzusetzen. Das Militär stehe naturgemäß für eine hierarchische Befehlsstruktur, die wenig mit basisdemokratischen Strukturen zu tun habe. Zudem hat auch die venezolanische Armee eine Geschichte als Repressionsorgan, wenn auch weniger ausgeprägt als in den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten. Dieser Sicht des Militärs widerspricht in einem der Interviews Major Leonardo Raymond, der betont, die aktive Beteiligung an den Sozialprogrammen bedeute auch für die Militärs einen wichtigen Lernprozess.
Was aus Sicht der Regierung machtpolitisch Sinn ergibt, nämlich die Annäherung des Präsidenten an das nach dem Referendum politisch geschwächte Unternehmerlager, bereitet den sozialen ProtagonistInnen erhebliche Sorgen. In einem der interessantesten Interviews des Buches äußert Stalin Pérez Borges (für seinen Vornamen kann niemand etwas) vom linken Gewerkschaftsbund UNT die Befürchtung, Chávez könnte mit Rücksicht auf das Unternehmerlager auf die Umsetzung des Gesetzes über die Sozialversicherung und die Verabschiedung von Gesetzen zur Reform der Arbeitsgesetzgebung verzichten. Dann allerdings müsse er sich auf den Widerstand der ArbeiterInnen gefasst machen. Eine derartige Haltung findet sich in vielen Interviews des Buches. Die AktivistInnen betonen, dass Chávez derzeit der Garant und die Identifikationsfigur des politischen Transformationsprozesses ist. Deshalb haben sie sich alle in der Kampagne für seinen Sieg im Referendum engagiert. Gleichzeitig machen sie aber deutlich, dass der Präsident nur dann auf die Unterstützung der Basisbewegung zählen kann, wenn der politische Prozess in Richtung mehr sozialer Gerechtigkeit und politischer Partizipation weiter geht. Wenn diese Position in den bolivarianischen Basisbewegungen hegemonial ist, d.h. sie sich nicht so ohne weiteres von der Chávez-Regierung kooptieren lassen, dann ist das, was politisch in Venezuela passiert, weit mehr als Linkspopulismus.
Kollektiv p.i.s.o., Venezuela. Welcome to our Revolution. Innenansichten des bolivarianischen Prozesses, Verlag Gegen den Strom, München, Okt. 2004, 168 Seiten, 10 Euro