Während die elektronische Auszählung der Stimmen aufgrund des knappen Wahlergebnisses bis spät in die Nacht hinein andauerte, war bereits von zahlreichen gewalttätigen Übergriffen auf linke AktivistInnen im ganzen Land zu hören. Die Bilanz wenige Tage nach den Wahlen ist erschütternd. Die venezolanische Generalstaatsanwaltschaft ermittelt mittlerweile wegen neun Morden und 70 Verletzten, die in direktem Zusammenhang mit den Ausschreitungen im Zuge der Präsidentschaftswahl stehen. Am Tag nach der Wahl forderte Capriles seine SympathisantInnen in einer Fernsehansprache dazu auf „ihre Wut zu entladen“ – an Kochtöpfen (cacerolas), wohlgemerkt. Die Wahlergebnisse wolle er solange nicht anerkennen, bis die 3200 vermeintlichen Unregelmäßigkeiten beim Wahlgeschehen aufgeklärt und die elektronischen Wahlergebnisse mit den papiernen Stimmzetteln manuell abgeglichen würden. Dabei hielt er ganz im Sinne altbewährter Agitationstricks einen imposanten Stapel Papier in die Höhe und versprach seinen ZuschauerInnen baldige Aufklärung. Zahlreiche AnhängerInnen Capriles’ protestierten daraufhin vor den Büros des Nationalen Wahlrats (CNE). Die Präsidentin des CNE Tibisay Lucena wies darauf hin, dass bis zu diesem Zeitpunkt noch keine formalen Schritte von Seiten des Oppositionskandidaten eingeleitet worden seien, um eine Neuauszählung der Stimmen zu erreichen. Auch der designierte Präsident Maduro zog seine voreilige Zustimmung zu einer vollständigen manuellen Auszählung zurück und konnte sich dabei auf die legalen Vorgaben berufen.
Die ersten Tage nach den Wahlen waren von großer Spannung und Unsicherheit geprägt. Während die Regierung von einem Putschversuch sprach, zogen rechte Mobs durch die Straßen und griffen diejenigen Personen an, die nicht bereit waren, sich ihrem Protest gegen den vermeintlichen Wahlbetrug anzuschließen. Nachdem der Journalist Nelson Bocaranda über Twitter das Gerücht verbreitet hatte, cubanische Ärzte hielten in einem medizinischen Zentrum in Maracaibo Wahlurnen versteckt, wurden mehrere dieser Einrichtungen angegriffen. Bei einem Übergriff auf die BewohnerInnen der Siedlung La Limonera im Bundesstaat Miranda wurden die beiden AktivistInnen José Luis Ponce und Rosiris Reyes getötet. La Limonera ist im Zuge des sozialen Wohnungsbaus entstanden und gilt aufgrund seiner Lage in einer gemeinhin wohlhabenden Gegend als Vorzeigeprojekt. Den reichen NachbarInnen ist diese Siedlung womöglich ohnehin ein Dorn im Auge. In dieser pogromartigen Stimmung wurden außerdem staatlich subventionierte Supermärkte, Parteibüros der Sozialistischen Partei (PSUV), Einrichtungen von Alternativmedien sowie ein Gebäude des internationalen Nachrichtensenders Telesur angegriffen. Es ist bemerkenswert, dass sich die Aggressionen der rechten AktivistInnen vor allem gegen Einrichtungen der sozialen Infrastruktur richteten und damit die Symbole des sozialen Fortschritts zur Zielscheibe hatten.
Während die Nichtanerkennung der Wahlergebnisse im Land ihre gewollten Effekte zeitigte und den politisch motivierten Konflikten neue Nahrung gab, sorgte die internationale Diplomatie zunächst für weitere Spannungen. Die spanische Regierung stellte sich unumwunden hinter die Absichten der konservativen Opposition und forderte ebenfalls eine Neuauszählung der Stimmen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton ließ verlauten, es sei „wichtig, dass das Ergebnis von allen Seiten akzeptiert werde“. Diese Forderung wurde außerdem von der US-amerikanischen Regierung unterstützt wie auch von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Ganz anders jedoch sah es auf dem amerikanischen Subkontinent aus.
Nachdem zahlreiche Regierungen dem Präsidenten Maduro bereits ihre Glückwünsche übermittelt hatten, forderten die Mitgliedsstaaten der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) in einer ad hoc einberufenen Dringlichkeitssitzung in Lima dazu auf, die Wahlergebnisse umgehend anzuerkennen. Diese schnelle Einigung der lateinamerikanischen Staaten trug sicherlich zur Entspannung des internationalen Szenarios bei und ist womöglich eine der späten Früchte der regionalen Integrationsbemühungen, die von der venezolanischen Regierung in den letzten Jahren maßgeblich vorangetrieben wurden. Zweifellos gibt es handfeste ökonomische Gründe, die gegen eine politische Destabilisierung in Venezuela sprechen. Eine politische Krise würde sich umgehend in Schwankungen des Erdölpreises niederschlagen, wenn nicht gar zu Produktionseinbrüchen führen. Doch kann die Einigkeit der UNASUR auch ein Anzeichen dafür sein, dass die US-amerikanische Hegemonie in ihrem traditionellen Hinterhof in letzter Zeit an Kraft und Einflussmöglichkeiten verloren hat.
Dass es sich bei der Diskussion um die Anerkennung des Wahlergebnisses um einen fadenscheinigen Vorwand handelt, um im Innern politische Spannungen zu erzeugen, wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass das venezolanische Wahlsystem international als eines der zuverlässigsten gilt. Daran zweifelt noch nicht einmal die in Caracas ansässige Außenstelle der Konrad-Adenauer-Stiftung. In einer Wahlanalyse schreibt der Landesbeauftragte der Stiftung Georg Eickhoff: „Mit ihrem Bestehen auf einer manuellen Auszählung zielt Venezuelas Opposition also nicht primär auf die Verkündung eines anderen Wahlergebnisses, das ihr den Sieg zuspricht. Es geht vielmehr darum, die fehlende Legitimität der Regierung bloß zu stellen (sic!).“ Ein kürzlich erschienener Bericht der Internetpublikation German Foreign Policy legt eine innige Beziehung zwischen der deutschen Stiftung und der Partei des Oppositionskandidaten nahe. Die Stiftung zahle alleine nach Angaben der US-amerikanischen Journalistin und Anwältin Eva Golinger „rund 500 000 Euro jährlich für gemeinsame Projekte mit rechten Parteien in Venezuela“, darunter Capriles’ Partei Primero Justicia. Trotz oder gerade aufgrund dieser engen internationalen Partnerschaft ist Eickhoff der festen Überzeugung, dass mit der manuellen Auszählung kein Regimewechsel zu erreichen sei, erhalte doch die „Wahlbehörde sogar Applaus von Seiten europäischer Diplomaten“. Dafür brauche es andere Mittel. Die politische Destabilisierung könne immerhin die Legitimität der Regierung in Zweifel ziehen, den Rest wird die „mangelnde Legitimität der Amtsführung“ besorgen.
Einiges weist darauf hin, dass es bereits im Vorfeld der Wahl Destabilisierungspläne gab. Wie die liberale Tageszeitung El Universal Ende März berichtete, entzogen drei Oppositionsvertreter Capriles ihre Unterstützung, nachdem sie von Plänen des Oppositionsbündnisses „Tisch der Demokratischen Einheit“ (MUD) erfahren hätten, die eine Anerkennung der Wahlergebnisse von vorneherein ausschlossen. Nichtsdestotrotz konnte dieser Plan nur deshalb aufgehen, weil der Vorsprung Maduros derart knapp ausfiel. Mit einer Differenz von gerade mal einer viertel Million Stimmen verlor Maduro im Vergleich zu seinem Vorgänger deutlich den Rückhalt der Bevölkerung. Die Opposition ist so stark wie noch nie seit Chávez’ Amtsübernahme im Jahr 1998. Dabei handelt es sich jedoch um eine Tendenz, die sich seit mehreren Jahren abzeichnet. Vor dem gescheiterten Referendum im Jahr 2007 erreichte die Chávez-Regierung ihren höchsten Grad an Zustimmung. Seither sank der Stimmanteil für den einstigen Präsidenten kontinuierlich, während sich die Opposition nach und nach restabilisieren konnte.
Die sinkende Zustimmung für den bolivarianischen Prozess dürfte in erster Linie den inneren Widersprüchen und den drängenden Problemen der Regierung geschuldet sein. Steigende Inflation, Lebensmittelknappheit, Korruptionsfälle sowie zunehmende Unsicherheit durch ungeahndete Gewaltverbrechen prägen nach wie vor den venezolanischen Alltag. Während die Wahlkampagne Maduros darauf fokussiert war, die Figur Chávez auf mythische Weise zu instrumentalisieren, und manchmal einer großen Fernsehshow mit Stars und Sternchen glich, knüpfte Capriles bei den unmittelbaren Problemen der Bevölkerung an, schürte Ängste vor dem kommunistischen Gespenst und versicherte zugleich, am sozialen Erbe Chávez’ festzuhalten. Dabei scheute er sich auch nicht davor, sich selbst als „Sohn Chávez’“ zu bezeichnen.
In einer selbstkritischen Ansprache anlässlich seiner Vereidigung vor der Nationalversammlung versprach Maduro, die genannten Probleme entschlossen anzugehen. Zuvor rief er die „Regierung der Straße“ aus. Es sei die venezolanische Bevölkerung allein, welche die „demokratische Revolution“ zu vertiefen vermöge. Die Kommunalen Räte und der rätedemokratische Umbau des Staates stünden dabei im Zentrum, um die „sozialistische Lebensweise“ zu erreichen. Mit der Vorstellung des neuen Kabinetts setzte er ein deutliches Zeichen zugunsten der zivilen Kräfte innerhalb des Chavismus. Die Wahl des Soziologen Reinaldo Iturriza als Minister für die Kommunen lässt darauf hoffen, dass es Maduro um den „Kommunalen Staat“ ernst ist.
Unterdessen kündigte Capriles an, die Wahlergebnisse vor dem Obersten Gerichtshof (TSJ) anzufechten und notfalls vor internationale Instanzen zu ziehen. Der CNE ging inzwischen auf die Forderung ein, die verbleibenden Wahlautomaten unter der Anwesenheit aller politischen Lager zu überprüfen. Doch damit wollte sich Capriles nicht zufrieden geben. Er knüpft die Überprüfung entgegen der üblichen Verfahrensweise an neue Bedingungen, die, wenn überhaupt, nur unter großem zeitlichem Aufwand durchzuführen wären. Es ist ein Spiel auf Zeit. Allerdings hat sich die angespannte Lage auf den Straßen mittlerweile entschärft.