Spur der Zerstörung

Ein 200 Seiten starkes Werk zu lesen über Jair Messias Bolsonaro und sein Projekt, Brasilien nachhaltig umzukrempeln, macht schon schlechte Laune. Diese geballte Menschenverachtung, die der brasilianische Präsident und seine aufgepeitschten Fans von sich geben! Und doch sollte dieses Buch gelesen werden – um zu verstehen, welche Kräftekonstellation den Militärdiktaturbewunderer an die Macht gebracht, was er in den letzten vier Jahren erreicht hat, und wo seine radikalisierte Politik an Grenzen gestoßen ist. Wer könnte dafür geeigneter sein als Niklas Franzen, Journalist und Brasilienkenner, den man von seinen differenzierenden Reportagen aus taz, ND etc. kennt.

Im Prolog macht Franzen deutlich: Es ist ein Blick von außen, der an Grenzen stößt. Aber als ausländischer Journalist hat er zuweilen Zugang zu Orten und Menschen gefunden, der ihm als Brasilianer wohl verwehrt worden wäre (S.9), etwa in eines der skandalös überfüllten Gefängnisse, wo 64 Prozent der Häftlinge Schwarze sind (S. 143 ff.). Von Anfang an bezieht Franzen Haltung und bedient sich einer klaren, mitunter drastischen Sprache: „Der Wahn regiert (…). Es ist ein giftiges Gemisch aus religiösem Fanatismus, Verschwörungsmythen und Militarismus“ (S. 9).

Zunächst rekapituliert Franzen die Vorgeschichte zu Bolsonaros Aufstieg, die fehlende Aufarbeitung der Diktatur, die Krise der PT-Regierungen, die Demontage und Dämonisierung von Ex-Präsident Lula, wie ursprünglich progressive Bewegungen von rechts gekapert wurden (S. 22), schließlich der institutionelle Putsch gegen Ex-Präsidentin Dilma Rousseff, kulminierend in einer Abstimmung im Abgeordnetenhaus, wo gejohlt, geschimpft, gerangelt und gespuckt wurde (S. 29). So schaffte es Bolsonaro 2018, sich als unbefleckter Anti-Politiker zu inszenieren, der einen Neustart für Brasilien will. Einmal an der Macht, braucht Bolsonaro weiterhin den ständigen Krisenmodus, denn im Ausnahmezustand kann er radikale Maßnahmen legitimieren (S. 79). Auch der persönliche Werdegang des Fallschirmjägers a.D. wird erzählt (mit dem interessanten Detail, dass Bolsonaro einst plante, eine Bombe zu zünden, um gegen niedrige Besoldung zu protestieren, S. 72). Ebenso aufschlussreich: die Darstellung von Bolsonaros Kulturkampf per Smartphone, der sich vor allem gegen einen herbei fantasierten „allmächtigen Kulturmarxismus“ (S. 91) richtet.

Weitere Kapitel widmen sich dem kolossalen Einfluss der Evangelikalen, dem eskalierenden Sicherheitsproblem und dem Aufstieg der „neuen Herren Rios“, den Milizen, die auch hinter dem Auftragsmord an der linken Stadträtin Marielle Franco 2018 vermutet werden. Das koloniale Erbe und der fortbestehende Rassismus sind ebenso Thema wie der „Showdown im Regenwald“ (S. 149 ff.). Für einen positiven Twist sorgt das letzte Kapitel, das sich Brasiliens oppositionellen Bewegungen widmet, die der Präsident und seine Basis nicht niederkämpfen konnten, im Gegenteil. Franzen kommt zu einer bedenkenswerten Einschätzung: „Während in Europa emotional über den vermeintlichen Widerspruch zwischen Identitäts- und Klassenpolitik diskutiert wird, ist es für Brasiliens Linke normaler, verschiedene Kämpfe zusammenzuführen“ (S. 189).

Brasilien ist polarisiert und zermürbt, die Armut steigt, der Hunger ist zurück, was bis in die Mittelschicht hinein zu spüren ist. Da deswegen die soziale Frage bestimmender wird, könnte die Linke die Chance ergreifen (S. 196). Aber sie darf nicht ihre Fehler wiederholen und muss aufpassen, beim Schmieden von Bündnissen nicht wieder zerrieben zu werden. Brasilien ist vier Jahre später ein anderes Land, viele kleine Schritte haben es zurückkatapultiert. Der Bolsonarismus ist leider gekommen, um zu bleiben. Selbst wenn Bolsonaro im Oktober hoffentlich abgewählt wird und keinen Putsch anzettelt, hat der Bolsonarismus Fakten geschaffen: Fundamentalistische Christ*innen haben sich in der Politik festgesetzt, immer mehr Waffen zirkulieren, die Zerstörung und Ausplünderung des Amazonas schreiten voran, und ein polarisierender Kulturkampf, in dem vor Gewalt- und Mordaufrufen nicht zurückgeschreckt wird, hat schon zu tödlichen Konsequenzen geführt.

Niklas Franzens Buch ist ein geschmeidig zu lesendes Sachbuch voller spannender Geschichten, die komplexe Zusammenhänge darzustellen vermögen. Franzen, der mehrere Jahre in São Paulo gelebt hat und so oft wie möglich nach Brasilien zurückkehrt, baut kleine Cliffhanger am Ende der Unterkapitel ein – schließlich muss das an Serien gewöhnte Publikum bei der Stange gehalten werden! Das sorgt für Lese-Flow und tröstet über manche Wiederholung hinweg (was daran liegen mag, dass Franzen einige seiner besten Reportagen in das Buch integriert hat).