Nach dem guatemaltekischen Bürgerkrieg (1960-1996) profitierten vor allem Militärs und Eliten von der herrschenden Straflosigkeit; in den folgenden Jahren wurde sie jedoch zum Synonym für ein nicht funktionierendes Justizsystem. Das Land war auf dem Weg zum gescheiterten Staat, die Organisierte Kriminalität agierte längst aus ihm heraus. Dies war der Ausgangspunkt für die CICIACS (Comisión de Investigación de Cuerpos Ilegales y de Aparatos Clandestinos de Seguridad), deren Mandat darin bestand, gegen die „illegalen Körperschaften und geheimen Netzwerke“ vorzugehen. Aus der CICIACS wurde später die CICIG.

Der Vorschlag zur Einrichtung der CICIACS stammt aus dem Jahr 2001. Der erste Vertrag mit den Vereinten Nationen wurde Ende 2003 unterschrieben, dann durch das Verfassungsgericht gestoppt und später erneut verhandelt. Die Eliten spielten auf Zeit, sie wollten keinen Akteur zulassen, der ihre Kreise stören könnte. Im Jahr 2007 lag das Mandat der CICIG dem Kongress zur Abstimmung vor, aber schon Anfang des Jahres stand fest, dass es keine Mehrheit dafür geben würde. Doch dann änderte sich die Situation radikal: Am 19. Februar 2007 ermordeten Kriminalpolizisten drei Abgeordnete des zentralamerikanischen Parlaments aus El Salvador. Die Polizisten vermuteten Drogen oder Drogengelder im Wagen der Abgeordneten, flogen allerdings auf und wurden vier Tage später von Kollegen im Gefängnis selbst zum Schweigen gebracht. Jetzt war nicht mehr zu leugnen, dass das Land längst im Griff der Organisierten Kriminalität war. Der Kongress, der im gleichen Jahr wiedergewählt werden wollte, musste die CICIG nun akzeptieren.

Seitdem sind über zwölf Jahre vergangen. Im September 2007 nahm die CICIG ihre Arbeit auf, wenn auch zunächst ohne Team und ohne Instrumente: Es gab keine Telefonabhörsysteme, keine Daten der Banken zur Geldwäsche, kein wirkliches Zeugenschutzprogramm und keine zuverlässigen Richte­r*innen mit ausreichendem Schutz. Dazu kam die Frage nach der Vorgehensweise: Wo fangen wir an? Welches ist der kriminelle Markt, der den Staat am meisten im Griff hat – der für Drogen, für illegale Adoptionen, für Entführungen oder die Geldwäsche?

Die CICIG baute die FECI (Fiscalía Especial contra la Impunidad) auf, eine eng mit ihr kooperierende, hochqualifizierte Abteilung der Staatsanwaltschaft, und entwickelte mit Unterstützung der Zivilgesellschaft die Instrumente, die sie brauchte. Schon in den ersten Jahren kam Ex-Präsident Portillo wegen Bestechlichkeit ins Gefängnis, aber der war bei den Eliten ohnehin verhasst. Doch sie rettete auch einen anderen, ebenso von den traditionellen Eliten ungeliebten Präsidenten, als die Ermittlungen im Fall Rosenberg zu einem filmreifen Ergebnis führten: Zwei Tage vor seiner Ermordung machte der Rechtsanwalt Rosenberg in einem selbst produzierten Video Präsident Álvaro Colom und seine Frau für den geplanten Mord an ihm verantwortlich. Das Video löste eine Staatskrise aus. Wochen später wies die CICIG nach, dass Rosenberg, der an Depressionen litt, seine Mörder selbst beauftragt hatte.

Am 10. Mai 2013 schließlich geschah das Ungeheuerliche: Der Erste Strafgerichtshof verurteilte Ex-Staatschef Ríos Montt wegen Völkermord. Dieses Gericht wurde sofort zum Symbol für eine unabhängige Justiz. Daraufhin forderten die im CACIF[fn]Comité Coordinador de Asociaciones Agrícolas, Comerciales, Industriales y Financieras, guatemaltekischer Unternehmerverband[/fn] organisierten Unternehmer*innen vom – gänzlich unzuständigen – Verfassungsgericht die Annullierung des Urteils. Am 20. Mai kam es dieser Forderung nach. Die Eliten hatten es gerade noch mal geschafft. Doch der Schreck vor einer unabhängigen Justiz saß tief.

Ein Jahr später stand die Neubesetzung des Obersten Gerichts sowie der Berufungsgerichte an. In einem offen manipulierten Prozess, dessen Hintermänner die CICIG zwei Jahre später anklagen sollte, ernannte der Kongress 236 größtenteils korrupte oder willfährige Richter*innen. Die Eliten hatten wieder einmal die Kontrolle zurückerlangt und konnten durchatmen.

Im April 2015 stand der nächste Schritt an. Präsident und General Pérez Molina erwartete einen „Evaluierungsbericht“ der CICIG, der die Empfehlung bestätigen sollte, ihr Mandat im August zu beenden. Wenige Tage vorher platzte die erste Bombe: CICIG und FECI legten eine riesige Verschwörung zwischen Unternehmer*innen, Steuerbehörde und Zoll zur Steuerhinterziehung offen. Danach ging es Schlag auf Schlag. Andere Fälle folgten, es kam zu vielen Verhaftungen und noch im gleichen Jahr saßen auch Vizepräsidentin Baldetti und Präsident Pérez Molina im Gefängnis. In den kommenden Jahren kam es zu Prozessen gegen Hunderte Unter­nehmer*innen, Beamt*innen, Minister*innen, Medien­vertreter*innen, Abgeordnete, Richter*innen und Anwält*innen. Laut Abschlussbericht der CICIG wurden zwischen 2008 und 2019 über 1540 Personen wegen Korruptionsvergehen angeklagt.

Es war unvorstellbar: Auf einmal saßen die Eliten und ihr System des „gekaperten Staats“[fn]El Estado capturado (Der gekaperte Staat) war auch der Titel des Abschlussberichts der CICIG vom 28.08.2019: https://www.cicig.org/wpcontent/uploads/2019/08/Informe_Captura_Estado_2019.pdf[/fn] auf der Anklagebank. Im Jahr 2015 begleiteten Tausende von Menschen jeden Samstag diese Ermittlungen mit Demonstrationen; am Anfang waren es ein paar hundert, dann ein paar tausend, im September über 200000. Die Wahlen standen an und wurden zum Prüfstand. Die Bevölkerung wollte „Reformen jetzt“ und die Verschiebung der Wahlen, die im September 2015 stattfinden sollten. Es gab Hoffnung – und eine enorme Angst unter den Eliten. Wieder standen sie kurz davor, die Kontrolle zu verlieren, nur war die Situation jetzt noch ernster. In den Jahren 2015/2016 war die CICIG praktisch unantastbar. Doch die extreme Angst unter den Eliten war ein hervorragender Kitt: Sie schlossen ihre Reihen, Widersprüche verschwanden über Nacht. Sie mussten es schaffen, die Reformen auf die lange Bank zu schieben und zunächst Wahlen durchzuführen. Diese kurzfristige Strategie ging zunächst auf. Langfristig half den Eliten jedoch nur ein bestimmter Diskurs, nämlich der „gegen die internationale Einmischung“, sowie eine orchestrierte Verleumdungskampagne gegen die CICIG in den USA.

Der Ansatz, einen Staat über das Strafrecht zu säubern, ist verführerisch, aber letztlich illusionär. Welche konzeptionellen Ursachen trugen dazu bei, dass Guatemala sich trotz aller Erfolge wieder dort befindet, wo es bereits vorher war?

Einer der Gründe dafür liegt in der gesellschaftlichen Realität: Die organisierte Zivilgesellschaft stand immer hinter CICIG und FECI. Doch ein solch tiefgreifender Wandel, wie ihn Guatemala benötigt, braucht die Straße und eine starke Bewegung. Die gab es zwar 2015 und noch einmal 2017 vor allem unter den städtischen Mittelschichten. Die Bevölkerung, von der Umfragen zufolge 70 Prozent den Kampf gegen die Korruption befürwortete, war jedoch weder auf einen andauernden Kampf vorbereitet, noch hatte sie die politischen Strukturen dafür. Wichtige „Gewerkschaften“, vor allem des öffentlichen Dienstes, waren und sind Teil des korrupten Systems; lediglich Kleinparteien unterstützten den Kampf gegen die Straflosigkeit. Und schließlich erlaubt es der Rassismus der Mittelschichten kaum, sich mit Bauern- und indigenen Organisationen zusammenzuschließen.

Ein weiterer Grund: Korruptionsverbrechen gehen einher mit Machtmissbrauch. Es geht um öffentliche Aufträge im Milliarden­bereich, um Unterschlagung, Steuerhinterziehung, Stellenbesetzung, die Ausschaltung von Konkurrent*innen, die Bestechung von Richter*innen, manchmal auch um Drogen und Mord und somit um Strukturen, die wie eine gut geölte Maschine funktio­nieren. Die Ermittlungen dagegen beginnen oft unscheinbar, führen aber schnell direkt ins Zentrum der Macht: Militärs, Abgeord­nete, Präsident*innen, Minister*innen, Medienmogule, Unter­nehmer*innen, Richter*innen. So führte die CICIG auf einmal einen Feldzug gegen die gesamten Machtstrukturen, und das an mehreren Fronten.

Kann solch ein Feldzug überhaupt gewonnen werden? Ohne politische Analyse und politisches Handeln sicher nicht. Die geschlossenen Reihen der Eliten müssten mit politischen Maßnahmen aufgelöst werden. Das widerspricht jedoch dem Wesen der Strafverfolgung: Sie soll nicht politisch sein, sondern gegen alle unvoreingenommen ermitteln. Und genau hier steckt auch das Dilemma.

Nicht jeder Kriminelle trägt die gleiche Verantwortung, die Tatbeiträge sind unterschiedlich, die Gewinne, die kriminelle Energie und der angerichtete soziale Schaden häufig auch. Das Strafrecht ist nicht dafür geschaffen, einen Staat umzukrempeln. Instrumente wie Amnestien, Haftverschonungen, Einstellung oder Reduzierung von Strafe gegen Geständnis hören sich unangemessen an, wenn es gegen Korruption geht. Und doch werden solche Instrumente gebraucht, wenn die Korrupten nicht noch mehr zusammengeschweißt werden sollen. Doch über solche Instrumente verfügte die CICIG nicht beziehungsweise tat sie sich schwer damit, sie zu schaffen. Auch die Zivilgesellschaft scheute sich, über Amnestien und Strafreduzierungen für bestimmte Täter nachzudenken.

Die Erfolge der Ermittlungen ließen nicht nur das Vertrauen in die CICIG wachsen, sondern auch den irrigen Glauben, dass das Strafrecht gefestigte Machtstrukturen auflösen und ein Land von Grund auf verändern kann. Aber Strafrecht ist und bleibt ein Herrschaftsinstrument. Nur, wenn es gegen die Korrupten geht, gefällt uns das: hohe Strafen, harte Richter, lange U-Haft, Hunderte Angeklagte. Doch es ist ein gefährliches Spiel und nährte die Illusion, dass die Unantastbaren fallen könnten; und sie fielen ja tatsächlich zunächst.

Mit dem Vertrauen in die CICIG und in das Strafrecht wurde auch die Verantwortung an einige wenige mutige Richter*innen und Staatsanwält*innen abgegeben und damit an Institutionen, um deren Schwäche wir wussten. Der Oberste Gerichtshof bestand und besteht überwiegend aus korrupten und willfährigen Richter*innen, die Richterernennungen im Jahr 2014 (siehe oben) hatten das ganze System extrem geschwächt. Die meisten nahmen auch gar nicht wahr, dass Generalstaatsanwältin Aldana (2014-2018), die große Verdienste im Kampf gegen die Korruption erwarb, in ihrer Amtszeit auch für die Kriminalisierung und Verfolgung von Menschenrechtsaktivist*innen sorgte. Sie stand für den Kampf gegen die Korruption, aber nie für den gegen die Straflosigkeit, der sich gleichzeitig gegen die Ungerechtigkeit der Justiz richtet. Als sie bei den Wahlen 2019 zur Kandidatin eines eher fortschrittlichen Projektes wurde (dann aber fadenscheinig angeklagt und daher vorsichtshalber nicht ins Land zurückkehrte), wandelte sie sich auf einmal zur Hoffnungsträgerin – aber darüber wurde vergessen, dass sie auch den Widerstand gegen Großprojekte verfolgt hatte.

Was bleibt? Das Wissen, dass auch Unantastbare fallen können, und das ist viel wert. Auch die Instrumente, die in diesen zwölf Jahren geschaffen wurden, bleiben, aber sie können eben auch gegen soziale Bewegungen eingesetzt werden. Wir haben einige Staatsanwält*innen und Richter*innen, die mutig sind und nicht mehr einfach den Weisungen von oben folgen. Doch die korrupten Richter*innen und Staatsanwält*innen haben wieder Oberwasser, wie die zahlreichen Einstellungsskandale in Korruptionsverfahren im Jahr 2019 gezeigt haben. Hinzu kommt ein Kongress, der in seinen letzten Monaten vor dem Amtswechsel alles darangesetzt hat, auch noch die letzten Erfolge der Justiz mit Amnestien, Strafermäßigungen und Verfahrensänderungen zurückzudrehen. Die neue Regierung unter Alejandro Giammattei, der am 14. Januar 2020 sein Amt antrat, hat längst klargemacht, dass sie in diesem Sinne weitermachen wird.

Dies soll kein abschließendes negatives Urteil über die CICIG und ihre Arbeit sein. Die CICIG war richtig und ist nötig, aber keine CICIG der Welt schafft es alleine gegen die Oligarchie, ohne die geschlossenen Reihen der Eliten aufzubrechen und eine aktive und organisierte Bevölkerung auf ihrer Seite zu haben. Das Modell der CICIG war gut. Doch ein gutes Modell ist keine Erfolgsgarantie, es ist fehleranfällig und kann nicht alle Baustellen gleichzeitig bearbeiten. Außerdem braucht es Unterstützung, nicht nur von außen, sondern auch die Bereitschaft der Eliten für Veränderungen. Aber die hat es nie gegeben.