Starkes Emanzipationssignal

Tatsächlich gab es Stimmen im Land, die vor dem Referendum Ende September für eine Enthaltung oder ein Nein optierten, einzig und allein, weil der Staat sich lieber um die Versorgungslage kümmern solle oder weil man diesen Staat nicht mit der Teilnahme an einer demokratischen Abstimmung legitimieren wolle, sei das Gesetz auch noch so gut, Cuba sei ja schließlich trotzdem ein Unrechtsstaat. Wie so oft in den letzten zwei Jahren seit Krisenbeginn erschienen die ideologischen Gegensätze unüberhörbar und unüberbrückbar.

Vor allem die Kirchen hatten lautstark gegen das Projekt Stimmung gemacht. Zuerst trommelten die evangelikalen Gruppen (unterstützt vom radikalen Exil in Miami) und dann auch die katholische Kirche, der die Emanzipation homosexueller Lebensweisen und ohnehin die ganze „Genderideologie“ heftig gegen den Strich gehen.

Die Exilgruppen versuchten sich über ihre Kanäle in Stimmungsmache: Mit der Stärkung von Kinderrechten beabsichtige die Regierung ja nur einen leichteren Zugriff auf die Minderjährigen, und so könnten den Eltern jederzeit ihre Kinder weggenommen werden, etc., etc.

Auf der anderen Seite warb die Regierung in einer groß orchestrierten Kampagne in Medien und Stadtteilversammlungen über Monate hinweg für ein Ja. Der breite Diskussionsprozess führte zu unzähligen Veränderungen. Es war schließlich der 25. Gesetzesentwurf, über den im September abgestimmt wurde.

Adiel González und Lázaro González aus Bolondrón, einem kleinen Ort in der Provinz Matanzas, kamen am 13. Oktober als eine der Ersten in den Genuss des neuen Gesetzes, ihre Eheschließung ging durch die Weltpresse. Adiel studierte früher katholische Theologie, kam jedoch mit der rigiden heterosexuellen Norm der konservativen Kirche des Landes in Konflikt und wurde zum Kämpfer für die Rechte der LGBTQ+ (engl. für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans, queere und weitere Menschen). Für beide geht ein Lebenstraum in Erfüllung, die Frage der legitimatorischen Grundlagen der Reform stellt sich für das Paar nicht. Cuba ist weltweit erst das 34. und in Lateinamerika das achte Land, das die gleichgeschlechtliche Ehe einführt. Doch man geht hier noch weiter. Während in Brasilien die Repression gegenüber LGBTQ+ wieder beständig zunimmt, ermöglicht Cuba nun sogar Adoptionen für homosexuelle Paare und schafft die rechtliche Grundlage für die ohnehin bereits praktizierten geschlechtsangleichenden Operationen.

Das Gesetz markiert eine Zeitenwende in dem vom Machismo geprägten Land. Die Diskriminierung kam in Doppelgestalt daher: Das katholische Erbe führte zur Verunglimpfung queerer Lebensformen als unmoralisch, und trivialmarxistische Anmutungen sowjetischer Provenienz wiederum führten zur Diffamierung selbiger als bourgeois-dekadent. Auch in den afrikanischstämmigen Religionen fand die sexuelle Diversität keine Fürsprecher*innen. In der Alltagskultur sind herabwertend verwendete Begriffe, die auf die sexuelle Orientierung abzielen, gängige Codes zur Aufrechterhaltung machistischen Selbstverständnisses.

Die homophobe Hysterie erreichte in den 60er- und 70er-Jahren mit der Einführung der UMAP (Arbeitslager) ihren Höhepunkt. Später entschuldigte sich Fidel Castro dafür und übernahm die Verantwortung. 1993 löste T. G. Aleas filmischer Welterfolg „Fresa y Chocolate“ (Erdbeer und Schokolade, Silberner Bär auf der Berlinale 1994) eine breite gesellschaftliche Debatte aus. Ebenfalls Anfang der 90er-Jahre wurde die seuchenpolitische Maßnahme der erzwungenen Unterbringung HIV-Infizierter in Sanatorien beendet. Bemerkenswerterweise zog fast niemand aus, weil in der schweren Krise der sogenannten Sonderperiode die Versorgungslage „drinnen“ besser war als „draußen“. 1997 wurde das Strafgesetzbuch von diskriminierenden Elementen gesäubert. In den 90er-Jahren entstand auch das Kulturzentrum El Mejunje in Santa Clara, faktisch das erste schwule Zentrum des Landes (siehe dazu den Dokumentarfilm „Queens of the Revolution“ von Rebecca Heidenberg, USA 2018), unter der Schirmherrschaft von Miguel Díaz-Canel, damals Erster Parteisekretär der Provinz Villa Clara und heute Präsident des Inselstaats. 2008 kam es zu ersten geschlechtsangleichenden Operationen, treibende Kraft dabei war das Institut für Sexualerziehung CENESEX unter der Leitung der „Schutzpatronin der Transsexuellen“ Mariela Castro, der Tochter von Raúl Castro (siehe dazu den Dokumentarfilm „En el cuerpo equivocado“ – „Im falschen Körper“ von Marilyn Solaya über die erste geschlechtsangeglichene Person auf der Insel). Die alte Definition der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau aus dem Familiengesetz von 1975 wurde bereits in der neuen Verfassung von 2019 verworfen zugunsten einer Kennzeichnung der Ehe als Rechtsverhältnis zweier Menschen. Das neue Familiengesetz spricht vom freien Willen zweier geschäftsfähiger Menschen, auf Basis von Zuneigung, Liebe und Respekt ein gemeinsames Leben zu führen. Ferner wurden in jüngster Zeit Hotelkapazitäten mit dem Etikett „LGBTQ+ freundlich“ geschaffen (z.B. Hotel Telégrafo in Havanna, Rainbow Muthu auf Cayo Guillermo).
Das Familiengesetz drückt die Vielfalt familiärer Lebensformen durch den Plural in seinem Titel aus: „Código de las familias“ – nicht mehr Familiengesetzbuch, sondern Gesetzbuch der Familien. Es gibt eine weitere neue Begrifflichkeit mit Symbolkraft: „responsabilidad parental“, elterliche Verantwortung, statt des in der spanischen Sprache immer noch gebräuchlichen archaischen „patria potestad“ (wörtlich „väterliche Gewalt“) für die elterliche Sorge. Genau hier hakten die Gegner*innen ein. Elterliche Rechte würden abgeschwächt oder gar mit Füßen getreten und staatlicher Willkür Tür und Tor geöffnet, war der Tenor der exilcubanischen Dauerkampagne gegen das Gesetz. Das verunsicherte manche Eltern auf der Insel.

Der ideologische Ballast des alten Familiengesetzes von 1975, das mehr Wert auf die Erziehung zum Sozialismus als auf das Kindeswohl zu legen schien, konnte in seinen konkreten Auswirkungen verheerend sein (der Verfasser bekam in mehreren Fällen in den 90er- und 00er-Jahren hautnah mit, wie Fälle massiver Kindesmisshandlung und sexuelle Übergriffen unter den Teppich gekehrt wurden; in einem Fall hatten die traumatisierenden sexuellen Übergriffe einer pädophilen Kulturfunktionärin auf ein Mädchen keinerlei Konsequenz, vielmehr wurden die Eltern, beide Parteimitglieder, von Parteikadern unter Druck gesetzt, damit sie keine Anzeige erstatteten).

Die alte politische Durchdringung des Gesetzes wurde nun im neuen Gesetz im Artikel 134, Buchstabe „ñ“, auf einen winzigen Passus zusammengestaucht, wo noch von der Erziehung zur Liebe zum Vaterland und seinen Symbolen die Rede ist (so ganz ohne ideologischen Quark ging es wohl nicht). Ansonsten regelt der Gesetzesartikel die Inhalte der elterlichen Verantwortung in durchaus akzeptabler Weise. Es werden als Teile des Sorgerechts zum Beispiel das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitsfürsorge (für die physische und (!) psychische Gesundheit) genannt. Vor allem betont das Gesetz, was mit elterlicher Verantwortung genau gemeint ist. Die Eltern seien verpflichtet, für den Unterhalt des Kindes zu sorgen, seine Identitätsentwicklung einschließlich der Entwicklung einer verantwortungsbewussten Sexualität zu fördern sowie die gesellschaftliche Inklusion bei jedweder Form von Behinderung zu unterstützen. Sie sollen dem Kind ein Leben frei von Gewalt und jeglicher Diskriminierung ermöglichen und seine Würde und persönliche Integrität schützen. Ebenso soll eine Erziehung hin zum Respekt für andere und zum Verständnis für die Gleichheit aller Menschen stattfinden. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den gemeinsam Sorgeberechtigten wird einerseits der Gerichtsweg, andererseits ein Mediationsverfahren angeboten, letzteres taucht ganz neu im Gesetz auf.

Die „Aufsicht und Pflege“ („guarda y cuidado“, die Begrifflichkeiten haben nicht immer eine eindeutige Entsprechung in der deutschen Sprache, am ehesten könnte man von Alltagssorge sprechen) könnten je nach Situation sowohl gemeinsam als auch von einem Elternteil alleine ausgeübt werden. Die gemeinsame Ausübung könne auch alternierend erfolgen, womit anscheinend ein Wechselmodell bei getrennt lebenden Eltern gemeint ist. Bei Bedarf könne auch die Ausübung der Alltagssorge durch Dritte, zum Beispiel Großeltern, erfolgen. Letztere verfügen nun auch über ein einklagbares „Kommunikationsrecht“ mit den Enkeln, wenn dies elterlicherseits verweigert werde, selbiges gilt auch für sonstige Familienangehörige.

Ist das Kind Opfer physischer, psychischer oder sexueller Übergriffe oder auch indirektes Opfer häuslicher Partner*innengewalt, muss das Gericht bei Bekanntwerden eine Entscheidung treffen. Die Verfahrenswege, Strukturen und Zuständigkeiten unterscheiden sich teilweise stark von deutschen Gepflogenheiten. So muss bei Kindern, die in einer Schutzeinrichtung Zuflucht gefunden haben, die dortige Leitung eine Meldung bei der Staatsanwaltschaft machen, damit diese wiederum einen Sorgerechtsantrag bei Gericht stellt. Das Gericht kann das Sorgerecht aufgrund der beschriebenen Übergriffe entziehen, genauso wenn ein Elternteil sich nicht mehr um das Kind kümmert. Bei veränderten Umständen kann das Sorgerecht später wieder rückübertragen werden. Das Gericht kann bei Erfordernis die Vormundschaft für ein Kind auf bis zu zwei Personen übertragen. Es soll darauf achten, dass die am besten geeignete Person für die Vormundschaft bestellt wird.

Erstmalig gibt es die Möglichkeit der Unterbringung in Pflegefamilien durch Gerichtsbeschluss, diese sei der Unterbringung in staatlichen Einrichtungen vorzuziehen, wobei sich das Pflegeverhältnis bei Rückkehr des Kindes in die Herkunftsfamilie, bei Adoption und durch Erreichen der Volljährigkeit wieder auflöst.

Das Familiengesetz führt eine ganze Reihe neuer Instanzen, Funktionen und Begrifflichkeiten ein: „personas cuidadoras familiares“, die am ehesten mit sozialpädagogischen Familienhelfer*innen verglichen werden können, „guarda de hecho“ (faktischer Vormund), „defensor familiar“. Bei den beiden Letztgenannten ist die rechtliche Abgrenzung zum Vormund nicht ganz klar. Die Profession „guarda de hecho“ kann es auch für erwachsene Angehörige vulnerabler Gruppen wie Alte und Behinderte geben und ähnelt den in Deutschland bekannten gesetzlichen Betreuer*innen. Deutlich wird an mehreren Stellen, dass das neue Gesetz einen unterstützenden und präventiven Gedanken verfolgt und damit das eher reaktiv aufgestellte Kinder- und Jugendschutzgesetz LOPNA (Ley Orgánica para la Protección de Niños y Adolescentes) des venezolanischen Bruderstaats hinter sich lässt.
Ein Kernstück des neuen Gesetzes ist verhältnismäßig kurz gefasst und stellt dennoch einen wichtigen Schritt nach vorn dar: die Auseinandersetzung mit familiärer Diskriminierung und häuslicher Gewalt. Vielfältige Formen von Diskriminierung, die Geschlecht oder sexuelle Orientierung, ethnische Herkunft oder Hautfarbe, Alter und Behinderung, Nationalität oder gar regionale Herkunft – die Vorurteile der Hauptstädter*innen gegenüber den Menschen aus dem Südosten sind in der Tat ein Problem – betreffen, werden als schädlich benannt. Wer Opfer von Diskriminierung oder häuslicher Gewalt wird oder Kenntnis entsprechender Handlungen gegenüber Dritten hat, kann bei Gericht Gewaltschutz beantragen, dies muss dort als Eilverfahren geführt werden. Die gewaltausübende Person muss sich sodann sowohl familienrechtlich als auch strafrechtlich verantworten. Leider bleibt das Gesetz bezüglich der möglichen Maßnahmen unkonkret. Ediltrudis, Juristin aus Santiago de Cuba, erläutert im Gespräch, das Gericht habe die Möglichkeit, den Aggressor per Näherungsverbot von seinem Opfer fernzuhalten, doch explizit erwähnt ist dies nicht. Seit vielen Jahren beklagt die Sozialwissenschaftlerin Alberta Durán Gondar das Fehlen von Frauenhäusern. Und auch der „Código de las familias“ erwähnt eine Frauenhausunterbringung weiterhin nicht als Möglichkeit. Ediltrudis erläutert dazu die cubanische Sicht, nicht das Opfer, sondern der Täter müsse gehen und sich außerdem der Härte des Strafrechts stellen. Verständlich, doch was ist mit denen, die sich zur Anzeige aus Angst oder falsch verstandener Loyalität nicht durchringen können, und was ist, wenn die Beweise absehbar für eine Verurteilung nicht ausreichen? Haben diese Betroffenen nicht dennoch einen Anspruch auf Schutz, auch wenn sie dafür zunächst weglaufen müssen?

Trotz verschiedener Schwachstellen stellt das Familiengesetzbuch mit seiner erkennbaren Intention, vulnerable Gruppen zu schützen, einen beachtlichen menschenrechtlichen Fortschritt dar und schneidet im lateinamerikanischen Vergleich ziemlich gut ab. Und hier dürfte ein Motiv für den verbissenen Kampf von Teilen der inneren Opposition und vor allem des cubanischen Exils gegen das Gesetz liegen. Konnte man zuletzt Cuba als Chiffre für Mangel und Repression lesen, macht das Familiengesetz nun einen Strich durch die Rechnung, weil viele internationale Medien tatsächlich die Veränderung normativer Grundlagen der cubanischen Gesellschaft wahrgenommen und darüber berichtet haben. Das gilt sogar mit Einschränkung für einen ewigen Scharfmacher wie Bernd Pickert von der taz, der in bester Folkloretradition nach Art des Hauses zunächst seiner Obsession folgt, bloß nichts Gutes an Cuba zu lassen. So spielt Pickert die Bedeutung des Familiengesetzes herunter, um dann gar kontrafaktisch in den Raum zu stellen, der Regierung liege nichts an diesem Gesetz, es sei ihr sogar vollkommen egal. Doch im gleichen Kommentar entfernt er sich später kurz vom Immergleichen und geht auf klaren Abstand zur Haltung der Opposition, nur aus ideologischen „system change“-Gründen gegen das Gesetz zu stimmen. Immerhin. Etwas verwunderlich ist die in der internationalen Rezeption gern benutzte Formulierung, die Cubaner*innen hätten nun zum ersten Mal demokratisch über ein Gesetz abgestimmt, so als wären in Deutschland oder europäischen Ländern Gesetzesreferenden geradezu übliche Verfahren.

Nun liegt es an der cubanischen Regierung und ihren Institutionen, das neue Gesetz auch in der Praxis zu leben und das allenthalben bei Menschen geweckte Interesse nicht gleich wieder zu verprellen.

Nimmt die Polizei das Diskriminierungsverbot der neuen Gesetzgebung ernst, kann und darf es Phänomene wie „racial profiling“, Belästigung sexueller Minderheiten oder Ignoranz gegenüber Erscheinungsformen häuslicher Gewalt nicht mehr geben.