Streit statt Bündnisse

Patsy L’Amour Lalove, selbsternannte „Polittunte“ aus Berlin, holt zu einem Rundumschlag aus. „Beißreflexe“ ist eine Abrechnung mit Entwicklungen in der Queerszene der letzten Jahre und eine deutliche Positionierung (dabei bezieht sie sich hauptsächlich auf die Debatten in Deutschland). Es geht darum, wie man in der Queerszene miteinander umgeht, aber eigentlich auch um sehr viel mehr. Rassismus, Transphobie, Mobbing, Antisemitismus, all diese Vorwürfe grassieren von verschiedenen Seiten. Eins vorweg: Patsy ist nicht um Versöhnung bemüht. Alleine steht sie damit nicht da, denn insgesamt 26 Autor*innen haben Artikel beigesteuert, meistens recht kurze Analysen oder Erlebnisberichte.

Es ist nicht leicht, eine Buchbesprechung über „Beißreflexe“ zu schreiben. Zum einen, weil eine Vielzahl an Themenfeldern angesprochen werden, die ihrerseits komplex und vielschichtig sind. Zum anderen, weil es um konkrete Situationen geht, einige Artikel also Erlebnisberichte sind, bei denen mensch hier nur von einer Seite erfährt. Die Vertreter*innen der kritisierten Entwicklungen kommen in diesem Buch nur durch Zitate zu Wort.

Die generelle These des Buches (wie auch der Untertitel verdeutlicht) lautet: Große Teile der (aktivistischen) Queerszene haben eine antiemanzipatorische Wende vollzogen. Statt für die Befreiung aller Menschen einzutreten, hegen sie autoritäre Sehnsüchte, verfolgen Rache und Neid statt Versöhnung. Dabei schrecke die Szene nicht vor Stalking, Mobbing und Rufmord zurück. Nun könnte man meinen, dies wären vielleicht nur persönliche Dynamiken – gäbe es nicht so viele Fälle.

Ein zentrales Ereignis, das immer wieder auftaucht, ist die Diskussion um die queerfeministische Rapperin Sookee, die im Vorfeld einer Podiumsdiskussion kritisiert wurde. Sookee wurde vorgeworfen transmisogyn zu sein, weil sich der Songtext ihres Liedes If I had a … negativ auf den Penis bezieht. Wer sich in der Hiphopszene auskennt, weiß, dass Sookee in Deutschland die erste Person war, die Frauenfeindlichkeit und Homophobie offensiv kritisierte und der dafür Hass in allen möglichen Formen entgegenschlug. Ausgerechnet Sookee wurde nun als Aggressorin gebrandmarkt, weswegen sie die Teilnahme an der Diskussion absagte (sie selber entschuldigte sich sogar und blieb um Versöhnung bemüht). Dieses konkrete Ereignis verdeutlicht das Problem. Statt eine theoretische Debatte anzustoßen oder Bündnisse zu schmieden, werden unliebsame Personen abgewertet und ausgeschlossen. Patsy sagte im Rahmen der Buchvorstellung, dass man durchaus nicht mit jedem reden muss: Rassist*innen müssen außen vor bleiben. Aber Menschen, Aktivist*innen, die jahrelang in der linken Szene aktiv sind, aufgrund eines „falschen“ Habitus, „falscher“ Mode, unüberlegtem Sprachgebrauch oder auch nur ihrer Sexualität gleichzusetzen mit den Gaulands, Petrys und Höckes dieser Welt, kann nicht zielführend sein. Dem zugrunde liegt ein Begriff von Gewalt, der sprachliche Gewalt gleichsetzt mit körperlicher Gewalt. Ein falsch benutztes Wort wird gewertet wie ein körperlicher, homophober Angriff. Was bleibt, sind verunsicherte Aktivist*innen und ein feindliches, unsolidarisches Klima.

Neben der Beschreibung vieler konkreter Fälle widmet sich das Buch auch den theoretischen Grundlagen, auf die sich die Streitfälle beziehen. Viele Konzepte tauchen auf: Critical Whiteness, Homonormativismus, Homonationalismus, Kulturelle Aneignung, Privilegien, Schutzräume, Pinkwashing, Antiimperialistischer Egalitarismus, um nur ein paar zu nennen. Es würde den Rahmen sprengen, all diese Konzepte hier zu erläutern. Wiederkehrend ist darin aber immer wieder die Frage, wer am stärksten diskriminiert sei und wer welche Privilegien habe. Dabei werden Menschen in identitäre Kategorien, Hautfarbe, Gender, Religion, bedingt auch Klasse, eingeordnet und bewertet. Diese Zuordnung kennt keine Individuen mehr, sondern begreift die Menschen als identisch mit der Zuschreibung. Aus dieser zugeschriebenen Position in der Gesellschaft werden dann Handlungsanweisungen gedacht: Wer ihnen nicht folgt, ist transfeindlich oder Rassist.

Konkret sieht es dann beispielsweise so aus, wie auf dem Queer Zine Fest Berlin: „Schwarze Menschen und People of Color erfahren Rassismus/Diskriminierung, was unter anderem über ‚Kulturelle Aneignung‘ ausgedrückt wird. Daher möchten wir Schwarze und of Color-Teilnehmende am Queer Zine Fest unterstützen und keine Dreadlocks und Plugs von weißen Besucher*innen auf unserem Fest haben.“ Die Motive, warum jemand Dreadlocks trägt oder inwiefern er/sie politisch aktiv ist, zählen nicht. Es gilt, den Dresscode einzuhalten.

Dabei sind weiße oder heterosexuelle Menschen häufig per se verdächtig, inhaltliche Diskussionen werden gerne mit dem Satz abgewiegelt, man hätte seine Privilegien nicht gecheckt. Hierzu ist der Beitrag „Repression für alle“ von Leo Fischer aufschlussreich. Der Gedanke ist simpel: Wenn alle unterdrückt sind, gibt es keine Privilegien mehr. Damit würden aber nicht weniger Menschen unterdrückt. Rechte entstehen erst überhaupt dadurch, dass es Privilegien gibt. Dadurch, dass sich etwa ein heterosexuelles Pärchen öffentlich küssen kann, können homosexuelle, transsexuelle Pärchen dieses Privileg ebenfalls einfordern. Würde das heterosexuelle Pärchen damit aufhören, würde das transsexuelle Pärchen dadurch nicht freier werden. Fischer spricht hier von „protestantischer Selbstkasteiung“. Die Strategie sollte auf das Gegenteil zielen: Räume zu öffnen, nicht zu schließen.

Ein anderes Feindbild sind Homosexuelle Cis[fn]Cis wird als Gegenteil von Trans gewertet, also Personen, deren Genderidentität mit ihrem „natürlichen“ Geschlecht übereinstimmt.[/fn]: Sie werden als Parteigänger*innen der bürgerlichen Gesellschaft begriffen und ihre – mühsam erkämpfte – Sichtbarkeit kritisiert. Ilona Bubeck wehrt sich gegen den Vorwurf, als Cis-Lesbe privilegiert zu sein, indem sie ihre Biographie nacherzählt und daran erinnert, wie steinig der Weg für sie war und wie viel Arbeit es bedeutete, Räume zu schaffen, in denen sich Menschen jenseits der Heteronormativität entfalten können: „Dafür, dass wir politisch Aktiven solche Räume geschaffen haben, erwarte ich keine Dankbarkeit. Respekt wäre aber geboten, anstatt Anfeindungen, denn Hass spaltet und macht uns nur schwach gegenüber einer Gesellschaft, die wieder konservativer und gefährlicher wird.“

Analog zu den Angriffen auf Personen werden auch rechtliche Errungenschaften als Strategie abgewertet, etwa indem LGBTQI*-Rechte in Israel als „Pinkwashing“ bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Patsy Religionsfeindlichkeit vorgeworfen wird, als wäre es nicht schon seit langem grundlegender Teil kritischen Denkens, auch Religion einer Kritik zu unterziehen. Dabei geht es vor allem darum, dass Gewalt gegen LGBTQI* von manchen queeren Aktivist*innen weniger beachtet bzw. relativiert wird, wenn sie in einem muslimischen Land passiert. Hierfür finden sich in „Beißreflexe“ eine Menge Beispiele.

Problematisch sind in dem Band die Pathologisierungen, die den autoritären, queeren Aktivismus psychologisch zu erklären suchen. Hier macht man es sich zu einfach, denn letztlich sind die „Beißreflexe“, wie auch Patsy erklärt, keine einfachen Reflexe, sondern ein bewusstes politisches Programm. Reduziert man dieses Programm auf eine psychologische Störung, entfällt die Reflexion über die Inhalte der Ideologie. Das Tragische ist, dass den meisten der aufgeworfenen Konzepte wichtige Gedanken zu Grunde liegen: Wie sollte man mit dem Fortbestehen kolonialer Strukturen umgehen? Wie kann man die Sichtbarkeit unterdrückter Gruppen erhöhen? Wo verstecken sich ausbeuterische Verhältnisse unter dem Deckmantel der Aufklärung? Alle diese Fragen sind nach wie vor drängend.

Es ist keine bahnbrechende Erkenntnis, dass im Namen von Aufklärung noch die übelsten Verbrechen gerechtfertigt wurden. Adorno und Horkheimer reflektierten dies mit der „Dialektik der Aufklärung“ ausführlich. Doch eine Emanzipation der Menschen kann nur durch Aufklärung erfolgen, die man sicherlich immer wieder konkret und kritisch an ihren eigenen Idealen messen muss. Dafür ist es wichtig, die Verletzungen, Erlebnisse und Erfahrungen seines Gegenübers zu kennen, nachzuempfinden und zu reflektieren. Dies geht nur durch Empathie und Solidarität. Es ist schwierig, die Diskriminierungen und Verletzungen nachzuempfinden, die ein anderer Mensch erlebt hat. Aber nicht gänzlich unmöglich. Dafür bedarf es eines respektvollen Umgangs und Empathie. Sektenartiges Auftreten, schwarz-weiße Feindbilder sowie ein fehlender Wille, Widersprüche auszuhalten, führen jedoch zum Gegenteil. Es ist fraglich, inwieweit dieses Buch die bestehenden Gräben schließen wird. Zweifelsohne hat es aber eine überfällige Debatte angestoßen.