Im Trierer Litradukt Verlag (s. auch Artikel über den Verlag in ila 321) ist gerade der dritte Roman des haitianischen Autors Gary Victor, „Suff und Sühne“, erschienen. Auf seiner Lesereise durch Deutschland machten der 1958 geborene Autor und sein Verleger Peter Trier auch in Köln Station. Victor zeigte sich angenehm überrascht über das große Interesse an seinen Romanen in Deutschland und sprach über seine Azémar-Krimis, seinen Protagonisten und über Haiti.
Auch der neue Krimi um Kommissar Dieuswalwe Azémar strotzt vor Spannung (s.a. Besprechung in ila 372). Für das kafkaeske Ambiente sorgen diesmal nicht nur die haarsträubenden Verhältnisse in Haiti. Der Protagonist muss sich einer Entziehungskur unterziehen. Andernfalls muss er den Polizeidienst quittieren. Dazu hat ihn sein neuer Vorgesetzter verdonnert. Der Entzug gleicht einem Delirium, fesselt Kommissar Azémar tagelang ans Bett, löst immer wieder Halluzinationen aus, an denen der Erzähler uns detailliert teilhaben lässt. Dennoch wird Azémar in eine Verschwörung des organisierten Verbrechens hineingezogen. Die brasilianische Führung der UN-Mission hat sich mit der Drogenmafia und der haitianischen Wirtschaftselite verbündet, um skrupellosen Geschäften nachzugehen. Menschenraub, Bestechung im großen Ausmaß, Mord und Drogenhandel erfordern Azémars Eingreifen. Noch ist er in der Lage, sich und seine Tochter vor dem Bandenunwesen zu schützen.
Doch der Antiheld Azémar ist ein unverbesserlicher Säufer. Seine einzige Sorge gilt dem Wohl seiner Adoptivtochter Mireya. Seine Hauptcharakterzüge sind seine Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit, auf die er aber nicht stolz ist. Alle seine Kollegen sind korrupt, bessern ihr mageres Gehalt durch Zuwendungen der Drogenmafia auf, nur Azémar macht keine Kompromisse, geht leer aus und lebt weiterhin in ärmlichen Verhältnissen. Von seinen Vorgesetzten erhält er keinerlei Unterstützung, allenfalls der eine oder andere Freund im Polizei- und Justizapparat hilft ihm bei seinen Ermittlungen.
Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zustände Haitis machen ihn wütend, setzen ihm so sehr zu, dass er Betäubung im Suff und in Gewalt sucht: Auch Gott habe gewalttätig gehandelt, so habe sein Zorn die Sintflut gebracht. Die Wut auf die haitianischen Zustände sei auch der Grund dafür, so Victor, dass Azémar gern eine dunkle Brille trägt. So sehe er eine abgemilderte, eine geschönte Wirklichkeit.
Sicherlich stecke in Azémar etwas von ihm selbst; auch er leide unter den Verhältnissen in seiner Heimat, bekennt der Autor auf der Lesung. Die Figur des Protagonisten erlaube ihm, sich seiner Phantasie hinzugeben, Rache zu nehmen und zu töten. Die erschreckende Wirklichkeit des Landes gebe die Themen seiner Romane vor und lege das Krimigenre nahe: Drogenkriminalität, Organhandel, politischer Mord. Victors Krimis verstehen sich also durchaus als Vehikel für Sozialkritik.
Azémar übt Selbstjustiz, er zögert nicht, Mörder eigenhändig zu töten, hat deswegen auch Schuldgefühle. Azémar ist eine völlig zerrissene Persönlichkeit, ein moralischer Ermittler, der glaubt, im Dienst des Guten böse sein zu müssen. Aus diesem Widerspruch zieht er ebenso viel Antrieb und Energie wie aus der Sorge um seine Tochter. Was kann er, was kann Haiti ihr schon bieten? Wie kann er sie außer Landes bringen? Diese quälenden Fragen lassen ihn für Momente den Zuckerrohrschnaps (Soros) vergessen, sie sorgen dafür, dass er immer wieder die Kurve kriegt. Natürlich hat Azémar keine stabile Beziehung zu einer Frau, denn als armer Schlucker kann er ihr nichts bieten. Er hat allenfalls flüchtige und oberflächliche Affären, wie die zur Ehefrau seines Vorgesetzten im Krimi „Schweinezeiten“.
Suff und Sühne“ ist voller literarischer Anspielungen auf Kafkas phantastische Romane und das düstere Universum Dostojewskis. Der Titel erinnert an „Schuld und Sühne“, ein skrupelloser Bandenchef nennt sich Raskolnikow und auch Azémars Wahn und Gehabe erinnern an Dostojewskis Hauptfigur. Er steht vor ähnlichen Herausforderungen: Was darf er Böses tun um des Guten willen? Der Romaneinstieg mit der riesigen, schwarzen Tarantel, die langsam von der Decke herunterkommt, wiederum scheint dem Anfang von Kafkas „Verwandlung“ entlehnt. Der Einstieg, so Victor, ist für ihn die Lokomotive, die die Romanhandlung zieht. Monatelang brüte er an einer Geschichte, die er erst dann zu Papier bringe, wenn alles ausgereift sei, vor allem der Romanbeginn, den der Autor keinesfalls verderben dürfe.
Gary Victor spricht auch über die Probleme seines Landes, über die Perspektivlosigkeit und Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen, die schlechte Regierungsführung, grassierende Kriminalität, Korruption und Abhängigkeit vom Ausland, alles Themen, die er in seinem Roman aufgreift. Dann auch über die Abholzung, das prekäre Gesundheitssystem und die horrenden Naturkatastrophen. Dennoch: Er ist kein Pessimist, die Lage sei vor zehn Jahren viel prekärer und instabiler gewesen als heute.
Zurzeit sei offen, ob das Mandat der UN-Mission in Haiti, das Mitte April auslaufe, verlängert werde, Trump habe mit der Kürzung von Geldern gedroht. Aber die HaitianerInnen würden der MINUSTAH nicht nachtrauern, sollte sie abziehen, sie habe viele KritikerInnen. Insbesondere der brasilianischen Führung werfe man vor, dass sie die haitianische Polizei behindere und gegenüber den Drogenbanden nicht durchgreife. Außerdem kreidet man der UN-Mission immer noch an, dass sie die Cholera ins Land eingeschleppt habe. So fordern auch mehrere Nichtregierungsorganisationen, das UN-Mandat nicht zu verlängern. Die HaitianerInnen sehen, wie MINUSTAH Unsummen verschlingt, die Funktionäre verdienten drei bis vier Mal so viel wie in ihren Herkunftsländern, unterschlügen Hilfsgelder und zahlten 1000 US-Dollar am Tag für Mietwagen. All das sei bekannt, werde thematisiert und kritisiert, denn die Pressefreiheit funktioniere im Land. Gary Victor ist auch Chefredakteur einer Zeitung, er redigiert Nachrichten, schreibt Leitartikel, hält sich an die journalistischen Regeln. Umso mehr liebt er den Kriminalroman. Hier kann er radikaler und wagemutiger formulieren und kritisieren, dabei mächtig auf die Pauke hauen und über die ihn schmerzende haitianische Wirklichkeit phantasieren. Andernfalls, so Victor, lande er im Irrenhaus.
Oder im Suff. In „Suff und Sühne“ bleibt sein Held am Ende allein zurück. Es gelingt ihm endlich, seine Tochter außer Landes zu bringen, er aber kommt weder vom Schnaps los, noch kann er seine Verfolger abschütteln. Für ihn scheint die Lage aussichtslos. Wir dürfen gespannt sein, wie es mit Dieuswalwe Azémar weitergeht.