Jedes Land, jede Gesellschaft besitzt Besonderheiten und komplexe Geschichten, die sich dem äußeren Betrachter kaum oder erst nach langem Beobachten und Nachdenken erschließen. In Bezug auf Argentinien gilt dies wahrscheinlich in besonderem Ausmaß, da dort die fast unvermeidliche Diskrepanz z.B. zwischen Potentialen und schlechter ökonomischer Wirklichkeit, zwischen zivilisatorischem Anspruch (und teilweiser Realität) und barbarischen Elementen etc. besonders krass zu sein scheint. Keineswegs zufällig ist es wohl, dass nicht wenige Arbeiten über dieses Land im Titel oder Untertitel die Formel vom „argentinischen Rätsel“ führen.

Der Politikwissenschaftler und Journalist Ingo Malcher, der über zehn Jahre als Korrespondent für einige Zeitungen und Zeitschriften in Buenos Aires gearbeitet hat, legt nun eine „Entdeckungsreise“ in die Geschichte, die politische und ökonomische Wirklichkeit und die Kultur Argentiniens vor. Das Portrait dieses Landes setzt sich bei ihm aus diesen vier Blöcken zusammen, die relativ gleichgewichtig behandelt werden und in denen Schwerpunktthemen im Vordergrund stehen, welche durch mikroskopisch ausgerichtete Reportagen zusätzlich konkretisiert werden. Die krisenhafte Entwicklung und Grundkonstellation der argentinischen Wirtschaft, die seit Jahren dauernde Präsenz des Phänomens des Peronismus (in allen seinen Schattierungen und Veränderungen), die Herrschafts- und Repressionsmechanismen und Hinterlassenschaften der letzten Militärdiktatur (1976-1983), aber auch viele Facetten des kulturellen und intellektuellen Lebens bilden die Fixpunkte seiner informativen und beeindruckenden Skizze dieses Landes.

Dabei gelingen Malcher meines Erachtens vor allem in den Teilen über Kultur und Gesellschaft bedeutende Detailstudien, die sich von den sonst üblichen Ausführungen in wissenschaftlichen oder Reiseliteraturen über Argentinien erheblich unterscheiden, z.B. in dem Kapitel über wesentliche Entwicklungsphasen des Tango, dessen spezifische Ausdrucksweisen in jeweils unterschiedlichen Zeitepochen seit etwa 1880 oder in dem Abschnitt, der der besonderen gesellschaftlichen und politischen Bedeutung des Fußballs und seiner organisatorischen Ausdrucksformen in Argentinien gewidmet ist. Die Ausführungen über die Intellektuellen und das intellektuelle Leben in Argentinien sowie über die argentinischen „Weizenwurzeln“ des Instituts für Sozialforschung und der Frankfurter Schule zählen zu den eindrucksvollsten und innovativsten Passagen dieses Portraits.

Der flüssig und locker geschriebene, dennoch nicht oberflächliche Text macht die Lektüre zum Vergnügen für solche, die sich primär über das Land informieren wollen, aber auch zu einem erheblichen Teil für Kenner des Landes. An manchen Punkten und Orten des kleinen Bändchens lassen sich auch für solche Leser neue Aspekte und Zusammenhänge entdecken. Viele Informationen, Eindrücke und Stimmungsbilder werden in gut strukturierter Form dargestellt. Tiefergreifende Erklärungen für bestimmte Entwicklungen deutet der Verfasser gelegentlich an, aber sie bleiben in der Regel im Hintergrund oder werden teilweise auch personalisiert. Genau aus diesem Grunde aber ist der Band so gut lesbar; weitergehende Vertiefungen, Fragestellungen und Analysen von Zusammenhängen sind Aufgabe von spezielleren Studien, die der Lektüre dieses Bandes folgen könnten. „Tango Argentino“ kann als gelungene Anregung zum Kennenlernen eines interessanten, ja faszinierenden Landes mit all seinen Widersprüchen, Illusionen und Mythen begriffen werden. 

Malcher, Ingo: Tango Argentino. Porträt eines Landes, München 2008, 208 S., Verlag C.H. Beck, 12,95 Euro