Mitten auf den vielbefahrenen Straßen von Rio de Janeiro bewegen sich Tänzerinnen und Tänzer zwischen den Autos hindurch. Ein weißer Schwan, schwarz gekleidete Tänzer*innen. Sie tanzen um Aufmerksamkeit, für den Erhalt ihres Theaters, gegen den Niedergang der Kultur. Die Tänzer*innen auf den Straßen waren der Beginn des Filmprojekts von Vincent Rimbaux und Patrizia Landi, die eigentlich geplant hatten, einen Film über die Krise Brasiliens zu machen. Durch die Demonstration der Künstler*innen wurden sie aufmerksam auf die desolate Situation des Teatro Municipal von Rio de Janeiro und beschlossen, darauf ihren Fokus zu legen. Das Ergebnis ist „Ressaca“, ein herzergreifender Film über das Sterben der brasilianischen Kulturlandschaft.

„Wir hörten von der schrecklichen Geschichte von Felipe“, erzählt Vincent Rimbaux beim Gespräch auf dem DOK.fest in München im Mai, „dem Meistertänzer des Teatro Municipal, der als Uber-Fahrer arbeiten muss, um für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Wir waren sehr schockiert von dieser Geschichte.“ Mit Felipe hatte das Regie-Duo seinen ersten Protagonisten für „Ressaca“ gefunden. Felipe ist einer von vielen, den die Kürzungen der Ausgaben für Kultur stark betreffen. Weil er monatelang nicht bezahlt wird, muss er schließlich einen Job als Uber-Fahrer annehmen, um seine Rechnungen zu bezahlen und die kleine Familie durchzubringen. Schließlich ist auch seine Frau Tänzerin am Teatro Municipal und verdient seit Monaten kein Geld mehr. Felipes Konstitution als Tänzer leidet selbstverständlich unter dem Nebenjob, denn er kann weniger trainieren, sich weniger weiterentwickeln. Felipe spricht von einem verlorenen Jahr in seiner Künstlerkarriere.

Márcia Jaqueline, ebenfalls einst Primaballerina am Teatro Municipal, hat relativ schnell für sich entschieden, dass sie das geliebte Theater verlassen muss, wenn sie ihre Karriere nicht gefährden will. Sie hat ein Engagement in Salzburg gefunden und ist gegangen, um dort zu tanzen. Der Film zeigt auch das: Wie sie schweren Herzens Abschied von ihren Freund*innen nimmt, in Salzburg aber zur Höchstform aufläuft. Sie vermisst ihr Land, hat Heimweh, weiß aber, dass sie nur im Ausland eine Chance hat, ihren Beruf richtig auszuüben. Im Umkehrschluss ist das natürlich bitter für die Situation der zurückgebliebenen Tänzerinnen und Tänzer – denn sie werden in absehbarer Zeit keine Möglichkeit haben, ihre Karriere aufrechtzuerhalten oder gar weiterzuentwickeln.

„Ressaca“ nimmt die Lage von Brasiliens Kulturlandschaft in den Fokus – am Beispiel des Teatro Municipal in Rio de Janeiro und dessen Tänzer*innen, Musiker*innen, Bühnenarbeiter*innen und Platzanweiser*innen, die seit Monaten nicht mehr für ihre Arbeit bezahlt werden, aber für ihr Theater kämpfen wollen. Der Film zeigt die Demonstrationen der Künstler*innen, die hitzigen Diskussionen um das weitere Vorgehen und die Auswirkungen für einzelne Personen wie Felipe, Márcia oder den alten João, der seit 37 Jahren am Einlass des Theaters steht und nun um seinen Job bangen muss.

„Das Theater ist mein erstes Zuhause“, sagt João. „Ich habe die meiste Zeit meines Lebens hier verbracht.“ Der Film betont nicht nur, wie wichtig das Theater für sein Leben ist, sondern auch, wie stark er unter dem ausbleibenden Gehalt leidet. Wenn er einkaufen geht und an der Kasse steht, kann man seine Spannung regelrecht spüren: Reicht das Geld für die wenigen Dinge, die er im Wagen hat? „Ressaca“ zeigt auch, wie der alte Mann auf einer Leiter steht und Wände streicht, um über die Runden zu kommen, und wie João darüber spricht, dass er Angst habe, eines Tages von der Leiter zu fallen. Gerade das Schicksal von João rührt buchstäblich zu Tränen, was ein Dokumentarfilm selten schafft. Die Situation der Menschen und die Gespräche, die die Filmemacher*innen mit ihnen führen, gehen zu Herzen. Rimbaux und Landi kommen ihren Protagonist*innen sehr nahe. Sie haben es geschafft, eine intime Beziehung aufzubauen, und davon lebt der Film. „Sie waren sehr glücklich darüber, dass wir ihnen zugehört haben“, erzählt Vincent Rimbaux. „Sie wollten gehört werden und ihre Geschichte erzählen.“ Die Menschen vertrauen ihnen und vertrauen ihnen vieles an, und das macht den Film so lebendig.

Das Besondere an „Ressaca“ ist außerdem, dass er konsequent in Schwarzweißbildern erzählt. Einerseits erreichen die Filmemacher*innen dadurch schöne und erhabene Bilder. Gerade den Tanzszenen haftet etwas Würdevolles an. Andererseits erschrecken die Bilder auch – vor allem dann, wenn bei einer Demonstration das Militär aufmarschiert. An dieser Stelle haben die Bilder eine fast ikonische Wirkung und erinnern an alte Zeiten, an die Jahre der Diktatur, als alles in Schwarzweißbildern gefilmt wurde.

„Ressaca“ ist eine verdienstvolle Momentaufnahme des aktuellen Brasiliens. Der Film, der auf dem DOK.fest München im Mai 2019 seine internationale Premiere feierte, soll in Brasilien auch ins Kino kommen. Es bleibt zu hoffen, dass viele Menschen ihn sehen und dass er viele Leute bewegt, die ihrerseits etwas bewegen können. Das Teatro Municipal von Rio, eines der wichtigsten Häuser in Südamerika, wäre es wert.