So suchen zivilgesellschaftliche Organisationen nach Wahrheit und Gerechtigkeit, wie beispielsweise die Stiftung für forensische Anthropologie in Guatemala (FAFG). Mit der Kampagne „Mein Name ist nicht XX“ möchte sie die Identität Zehntausender Opfer klären, die während des Krieges verschwanden oder ermordet wurden. Gleichzeitig sind VertreterInnen dieser Organisationen Opfer von Übergriffen und Bedrohungen, die aufgrund der im Land herrschenden Straflosigkeit nicht verfolgt werden. Dirk Bornscheins Buch „In den Tentakeln der Macht“ untersucht detailliert die vergangenheitspolitischen Dynamiken in der guatemaltekischen Nachkriegsgesellschaft und deren Auswirkungen auf die Konsolidierung der Demokratie. Das Buch gibt damit Aufschluss über einen Aspekt der jüngsten Vergangenheit des Landes, der bis heute fortwirkt.
Bornschein definiert Vergangenheitspolitik als „Aufarbeitung der im Kontext von Diktaturen oder Bürgerkriegen begangenen Menschenrechtsverletzungen“ (S. 28). Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf der staatlichen Politik, aber auch zivilgesellschaftliche Akteure werden einbezogen. Konkret werde Vergangenheitspolitik anhand von vier Hauptinstrumenten umgesetzt, durch politisch-historische Aufarbeitung der Vergangenheit (z.B. über Wahrheitskommissionen), durch Entschädigungszahlungen, strafrechtliche Ahndung der Verbrechen sowie durch Entfernung belasteter Akteure aus öffentlichen Ämtern. Von der Zivilgesellschaft Guatemalas werden diese Maßnahmen oft mit der Forderung nach „Gerechtigkeit, Wahrheit, Wiedergutmachung“ zusammengefasst.
Basierend auf 235 Interviews mit wichtigen Schlüsselpersonen untersucht Bornschein das Zusammenspiel der Vergangenheitspolitik mit anderen Politikfeldern, vor allem der Justiz-, Sicherheits- und Militärpolitik. Dabei wird die Umsetzung der Vergangenheitspolitik chronologisch und etappenweise analysiert.
Für das Verständnis der Vergangenheitspolitik ist das Wissen um die vergangene Gewalt essentiell. Der Bürgerkrieg fand seinen Höhepunkt zwischen 1981 und 1983, als unter den Generälen Lucas García und Ríos Montt ganze Dörfer vernichtet wurden. Insgesamt wurden im Krieg etwa 200 000 Menschen ermordet, so die Ergebnisse der Wahrheitskommission (CEH). 83 Prozent davon gehörten der indigenen Bevölkerung an. Hauptmenschenrechtsverletzer war nach den Ergebnissen der CEH das Militär, das für 93 Prozent der Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wird, drei Prozent der Gewalttaten wurden laut CEH von der Guerilla begangen.
Die erste ausführlich von Bornschein untersuchte Etappe beginnt 1983, auf dem Höhepunkt der Gewalt und zu dem Zeitpunkt, als die Militärdiktatur mit der Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung die formale Demokratisierung beschloss. Denn dieser Beschluss setzte Eigendynamiken frei, unter denen die Verbrechen des Militärs von Guerilla und Zivilgesellschaft bereits als politisches Druckmittel eingesetzt wurden. So war das Thema Menschenrechte ab diesem Zeitpunkt „mal Katalysator, mal Hindernis“ (S. 84). Die internationale Isolierung Guatemalas nach den Gewalttaten hatte „deutlich zum Einstieg in die politische Transition beigetragen“ (S. 94), gleichzeitig hatten die Streitkräfte aufgrund der Vorwürfe wenig Interesse an Friedensverhandlungen, bei denen sie zur Verantwortung hätten gezogen werden können. Die ambivalenten Auswirkungen der Thematisierung der Menschenrechtsverletzungen setzten sich in den folgenden Entwicklungen fort und waren symptomatisch für die Auswirkungen der Vergangenheitspolitik.
Unter Präsident Serrano (1991-1993) erlebte der Friedensprozess einen Aufschwung, denn der Präsident erkannte, dass die Menschenrechtsverletzungen des Militärs das Ansehen seiner Regierung beeinträchtigten. Als Folge führte er zum ersten Mal direkte Gespräche mit der Guerilla, die UN wurde als Beobachterin zugelassen. Die Allianz zwischen Menschenrechtsgruppen und internationaler Gemeinschaft stabilisierte sich in dieser Phase. Der größte Erfolg der nachfolgenden Präsidentschaft (De León Carpio, 1993-1995) war aus Perspektive der Menschenrechtsbewegung die Unterzeichnung eines Abkommens, das u. a. Zwangsverschleppungen und extralegale Hinrichtungen unter Strafe stellte. Seine Umsetzung sollte von einer UN-Mission überwacht werden, die bis 2004 in Guatemala tätig war.
Der letztendliche Friedensschluss erfolgte erst unter Präsident Arzú (1996-1999). Dieser griff nach seinem Amtsantritt härter durch als seine Vorgänger und entließ Offiziere, die dem Frieden besonders entgegenstanden. Bis Dezember 1996 wurden nun mehrere Abkommen geschlossen, wobei vergangenheitspolitische Themen besonders diskutiert wurden, beispielsweise die Frage nach Amnestie für Militärangehörige, die Demobilisierung der paramilitärischen Einheiten oder die Kompetenzen der einzusetzenden Wahrheitskommission. In diesen Punkten einigte man sich auf Formelkompromisse, die die Klärung auf die Zukunft verschoben: „Die Prinzipien Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung wurden als solche akzeptiert, aber im Detail so transformiert, dass sie den Gefahren ausweichen sollten […]: Schuldzuweisungen, Unzufriedenheit des Militärs, etc.“ (S. 228). Mit dem Friedensschluss verlagerte sich die Vergangenheitspolitik von der Diplomatie auf die Innenpolitik und von der Theorie in die Praxis. Auf die Veröffentlichung der Ergebnisse der Wahrheitskommission CEH im Februar 1999 reagierten Militär und konservative Kreise ablehnend und kritisierten mangelnde Neutralität, da die Vergehen des Militärs zu stark betont würden.
Präsident Portillo (2000-2003) war der Kandidat des ehemaligen Diktators Ríos Montt. Unter dem Druck, seine Regierung auch international und vor der Zivilgesellschaft zu legitimieren, berief Portillo mehrere VertreterInnen „demokratischen Denkens“ (S. 289) in die Regierung. Erfolge wurden beispielsweise in der „Politik der Anerkennung“ erzielt, mit der der Staat offiziell die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen des Krieges übernahm. Diese Politik wurde von Oscar Berger (2004-2007) fortgeführt. Handfeste Ergebnisse sind unter Portillo und Berger schwerer zu finden. Beispielsweise wurden Entschädigungszahlungen eingeleitet, aber das Budget des Wiedergutmachungsprogramms war gering und bezog auch ehemalige Angehörige der Paramilitärs mit ein. Mit dem Rückblick auf die Amtszeit Bergers schließt Bornscheins chronologische Untersuchung.
Ein Ergebnis der Ausarbeitung ist, dass die Vergangenheitspolitik von der Akteurskonstellation beeinflusst und begrenzt wurde. Vereinfacht gesagt standen sich als Akteure das Militär, die Unternehmer und die ihnen angegliederte politische Klasse auf der einen Seite und die Guerilla, Menschenrechts- und Mayabewegung auf der anderen Seite gegenüber. Eine besondere Rolle spielt die internationale Gemeinschaft, die ein wichtiger Hebel zur Durchsetzung der Interessen der Menschenrechtsbewegung war. Dabei lässt sich eine ambivalente Logik feststellen: Immer, wenn die Akteurskonstellation eigentlich ungünstig war, also besonders belastete Kräfte an der Regierung waren, führte der daraus resultierende Druck dazu, dass in der Vergangenheitspolitik besondere Fortschritte erzielt wurden.
Bornschein kann zudem herausstellen, dass es eine enge Beziehung der untersuchten Politikfelder gibt. In Bezug auf die Sicherheitspolitik spricht er von einer „(Un-)Sicherheitsfalle“. Denn die nach Friedensschluss sprunghaft ansteigende Kriminalität hatte zur Folge, dass die Armee weiterhin zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Inneren eingesetzt wurde. Die Strukturen des „Aufstandsbekämpfungsstaates“ blieben somit erhalten. Aufgrund seiner starken Stellung konnte das Militär immer wieder verhindern, Verantwortung für die im Krieg begangenen Verbrechen zu übernehmen. Dies wiederum behinderte die Entwicklung einer unabhängigen Justiz, die massiv manipuliert wurde. Militärangehörige sorgten zunehmend auch in anderen Bereichen für Straflosigkeit. Bedrohungen politischer Gegner und andere kriminelle Aktionen, z.B. Verwicklung in das Drogengeschäft, nahmen so immer mehr zu.
Der Autor schließt mit der Erkenntnis, dass die Vergangenheitspolitik, wie oben schon angedeutet, widersprüchliche Folgen hatte. Denn politische Erfolge verlangten stets nach Kompromissen zwischen den verschiedenen Machtgruppen. Fortschritte in der Vergangenheitspolitik, wie beispielsweise der Bericht der Wahrheitskommission, verminderten aber die Kompromissbereitschaft des konservativen Flügels in anderen Bereichen und konnten so auch den Demokratisierungsprozess blockieren. Andererseits ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit selbst ein unabdingbares Element der Transformation und wird langfristig einen gesellschaftlichen und politischen Kulturwandel anstoßen (vgl. S. 438).
Dirk Bornschein untersucht als erster im deutschsprachigen Raum umfassend die Auswirkungen der Vergangenheitspolitik auf die Demokratisierung Guatemalas, nachdem Anika Oettler in ihrer Dissertation bereits ausführlich die Rolle der Wahrheitskommission behandelt hatte. Seine Ausführungen werden durch zahlreiche Zitate aus den Interviews ergänzt, die den LeserInnen die Vielfalt der Positionen und Interessen verdeutlichen und sie sehr nah an das Geschehen heranführen. Durch diese Methode wird das Buch, wie Bornschein treffend beschreibt, zu einer umfangreichen Materialsammlung, in der sich Chaos und Ordnung der (Vergangenheits-) Politik spiegeln (vgl. S. 393). Leicht lesbar ist der Text aufgrund dieses Detailreichtums nicht, zumal der Autor oft geschichtliches Wissen zu Guatemala voraussetzt. Trotzdem ist die Lektüre des Buches empfehlenswert, denn es verschafft einem bereichernde Einblicke in die praktische Politik und die mühsame Aufarbeitung der Vergangenheit. Damit ist es für alle interessant, die sich mit der Geschichte Guatemalas auseinandersetzen oder die Entwicklungen von Post-Konflikt-Gesellschaften nachvollziehen wollen.
Dirk Bornschein: In den Tentakeln der Macht – Vergangenheitspolitik im Prozess der Demokratisierung Guatemalas (1990-2007), Verlag Mensch & Buch, Berlin 2010, 474 Seiten, 39,80 Euro