Einen Tag vor dem brutalen Polizeieinsatz hatten sich Präsident Jair Bolsonaro und der Gouverneur von Rio de Janeiro, Cláudio Castro, hinter verschlossenen Türen getroffen. Beobachter*innen sehen einen Zusammenhang zwischen Bolsonaros Treffen und dem von der Zivilpolizei verübten Massaker. Zeug*innen berichteten, dass Polizeibeamte ohne Durchsuchungsbefehl in die Häuser eindrangen, die Bewohner*innen angriffen, alles durchsuchten und Handys beschlagnahmten. Mutmaßlich kam es sogar zu Hinrichtungen, ohne dass die Verdächtigen irgendeine Chance bekamen, sich zu ergeben. „Sie treiben sie in die Enge. Sie wollen nicht, dass sich die Jungs ergeben“, prangert eine Nachbarin in einem Video an. Außerdem wurden Polizeibeamte dabei beobachtet, wie sie Leichen in Polizeifahrzeugen fortbrachten, was jegliche forensische Arbeit unmöglich macht. Ein Foto zeigt das Zimmer eines neunjährigen Mädchens, der Boden vollgespritzt mit Blut.
Die Zivilpolizei versichert, dass alle 28 Toten im Verdacht standen, in den Drogenhandel verwickelt zu sein, dass sie Vorstrafen hatten und alle bei einer direkten Konfrontation mit Polizeibeamten starben. Allerdings waren unter den Toten, laut Informationen des polizeilichen Nachrichtendienstes, mindestens zwei Verdächtige nicht vorbestraft, ein 16-jähriger Jugendlicher und ein 21-Jähriger, zwölf weitere waren nicht wegen Drogenhandels vorbestraft, sondern für leichtere Straftaten; ein 23-Jähriger war etwa wegen des Mitführens von Drogen für den persönlichen Konsum angeklagt worden (der Prozess wurde eingestellt). Präsident Bolsonaro sagte dazu: „Wenn Drogenhändler, die stehlen, töten und Familien zerstören, als Opfer behandelt werden, setzen die Medien und die Linken sie mit normalen, ehrlichen Bürgern gleich, die das Gesetz und ihre Mitmenschen respektieren. Das ist eine Beleidigung für die Menschen, die so lange schon von der Kriminalität in Geiselhaft gehalten werden. Herzlichen Glückwunsch an die Zivilpolizei von Rio de Janeiro!“
133 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei (am 13. Mai 1888) werden Schwarze in Brasilien weiterhin verfolgt, bedroht und getötet. Seit Jahrzehnten dringen Polizisten ohne Durchsuchungsbefehl in die Häuser der Favela-Bewohner*innen ein und richten junge Afrobrasilianer*innen hin, ohne zu unterscheiden, ob sie Kriminelle oder Opfer sind. Damit verstoßen sie gegen jede Art von Gesetzen und Regeln, die in den meisten Ländern der Welt gelten, und missachten jedwede Menschlichkeit. Sie sorgen für ein Szenario aus Krieg und Zerstörung, nicht nur in den Körpern, sondern auch in den Seelen der Bevölkerung. Kinder wachsen traumatisiert auf, Mütter verbringen den Rest ihres Lebens mit Depressionen. In vielen Familien in der Favela ist der Vater nicht anwesend, die Mutter zieht die Kinder alleine auf. Aber wenn der Vater anwesend ist, wird auch er von Seelenqualen gepeinigt. Dieser brasilianische Krieg gegen arme Menschen afrikanischer Abstammung ist nicht zu rechtfertigen, er ist schlicht Terror. Solange bestimmte Politiker*innen, Polizist*innen und reiche Leute vom Drogen- und Menschenhandel profitieren, wird dieser Krieg niemals enden.
Die Verantwortlichen für den Tod von Marielle Franco (afrobrasilianische Stadträtin in Rio de Janeiro, am 14.3.2018 ermordet; d. Red.) sind weiterhin auf freiem Fuß. Eine im Mai 2020 veröffentlichte Analyse in der New York Times („License to Kill“) kam zu dem Schluss, dass brasilianische Polizist*innen ohne Hemmungen drauflosschießen, weil sie von ihren Vorgesetzten und politischen Führern geschützt werden. Außerdem können sie darauf vertrauen, dass sie, selbst dann, wenn gegen sie wegen ungesetzlicher Tötungen ermittelt wird, weiterhin auf der Straße Dienst tun können.
In Brasilien ist der Rassismus eng mit der Favela verknüpft. Die Favelas stehen im Mittelpunkt der Gewalt, sowohl von kriminellen Gruppen als auch von Seiten der Polizei. Sie führen eine Koexistenz mit der Gesellschaft, als wären sie ein anderes Land, eine Art Territorium im permanenten Ausnahmezustand. Untersuchungen der Agentur für Investigativjournalismus in São Paulo haben gezeigt, dass die Menge an Marihuana, die bei Weißen beschlagnahmt wird, im Durchschnitt größer ist als die bei Schwarzen (1,15 Kilo gegenüber 145 Gramm). Allerdings werden Schwarze viel häufiger verurteilt. Dies geschieht bei der Beschlagnahmung von allerlei Betäubungsmitteln. „Weiße werden am Ende als Nutzer eingestuft, während Schwarze als Händler gelten“, erklärt der Experte Edinaldo César Santos Júnior. „Eine Operation wie diese würde niemals in einem weißen Mittelschichtviertel stattfinden, wo es auch Drogenhandel und -konsum gibt“, sagt Douglas Belchior, ein Mitglied der „Schwarzen Koalition für Rechte“. Und tatsächlich passiert so etwas auch nicht.
Die Polizei hat Rückendeckung vom Staat, wenn sie foltert und tötet. Damit setzt sie den Genozid an der schwarzen Bevölkerung weiter fort, der seit der Abschaffung der Sklaverei betrieben wird. Dieses Projekt liegt auch den Gesellschaftsstrukturen zugrunde und bringt immer noch viele dazu, Gewalt zu normalisieren und sich nicht für deren Eindämmung einzusetzen. Für Douglas Belchior radikalisierte Präsident Bolsonaro das „historische Projekt des schwarzen Völkermords“: „Nicht einmal in den pessimistischsten Prognosen hatten wir uns vorgestellt, dass wir 2020 an diesen Punkt gelangen und der schwarze Völkermord derart brutal eskaliert wird.“ Der Präsident hatte eine Reihe von rassistischen Aussagen während seiner Wahlkampagne gemacht.
Um eine Vorstellung von der Polizeigewalt zu bekommen: Die Polizei in Brasilien ist im Vergleich zu den USA für fast sechsmal mehr Opfer verantwortlich, im Jahr 2019 waren es 5804 Tote. Davon waren 75 Prozent (oder 4533) schwarz. Die Militärpolizei des Bundesstaates São Paulo hat im ersten Quartal 2020 bei angeblichen Auseinandersetzungen 218 Menschen getötet. Davon waren 63,5 Prozent schwarz oder PoC. In Rio de Janeiro waren 80,3 Prozent der 885 Menschen, die im ersten Halbjahr 2019 von der Polizei getötet wurden, schwarz. Die Zahl der Todesfälle durch Polizeigewalt stieg während der Quarantäne im Jahr 2020 um 43 Prozent an. Die Zahl der Tötungsdelikte gegen Schwarze ist zwischen 2008 und 2018 um 11,5 Prozent gestiegen, während die Zahl der Tötungsdelikte gegen Nicht-Schwarze um 12,9 Prozent gesunken ist.
Im Jahr 2015 wurden fünf unschuldige junge schwarze Männer während einer Polizeirazzia auf dem Weg nach Hause in Rio de Janeiro in ihrem Auto getötet – durch 111 Schüsse. Im April 2019 saß der schwarze Musiker Evaldo Rosa dos Santos mit seiner schwangeren Frau und seinem Sohn in einem Auto, als er durch 80 Schüsse getötet wurde, ebenfalls in Rio. Edson Arguinez Júnior, 20, und Jordan Luiz Natividade, 18, wurden mit Folterspuren tot aufgefunden, nachdem sie 2020 von zwei Militärpolizisten in Rio de Janeiro angesprochen worden waren. Auch private Sicherheitsbeamte wenden Gewalt gegen Schwarze an. Am Vorabend des „Tags des Schwarzen Bewusstseins“, dem 20. November 2020, wurde João Alberto Freitas von Sicherheitsleuten vor dem Supermarkt Carrefour in Porto Alegre zu Tode geprügelt. Ende April 2021 wurden Bruno Barros da Silva, 29, und sein Neffe Ian Barros da Silva, 19, in Amaralina (Bahia) ebenfalls von Sicherheitskräften eines Markts gefoltert und getötet, weil sie verdächtigt wurden, Fleisch gestohlen zu haben.
In einem Artikel der Zeitung El País wertet das Institut Fogo Cruzado die Statistiken von Kindern aus, die von Schießereien betroffen waren. In fünf Jahren wurden 100 Kinder in den Favelas im Bundesstaat Rio de Janeiro erschossen. Ein Drittel der Opfer wurde während einer Polizeiaktion oder eines Einsatzes erschossen, sechs von zehn Kindern wurden in der Stadt Rio de Janeiro erschossen. Vier Kinder, die in diesen fünf Jahren erschossen wurden, wurden in ihrer Schule oder auf dem Weg dahin erschossen. 17 weitere wurden zu Hause erschossen. Im Jahr 2019, dem letzten herkömmlichen Schuljahr vor der Pandemie, ereigneten sich 32 Prozent der Schießereien in Rio im Umfeld von Schulen in den Favelas. Etwa 70 Prozent der Erschießungen finden in Abwesenheit der staatlichen Sicherheitskräfte statt. Gleichzeitig wurden 30 Prozent der Kinder bei Schießereien infolge von Polizeieinsätzen erschossen, wie im Fall von Ágatha Félix, acht Jahre alt. Emilly und Rebecca, vier und sieben Jahre alt, wurden beim Spielen vor ihrem Haus erschossen.
Im Jahr 2020 wurde die Regierung von Rio angewiesen, 81 Personen für Fehler, Verbrechen oder Fehlverhalten von Polizeibeamten zu entschädigen. Der durchschnittliche Betrag lag bei knapp über 100 000 Reais, was etwa 100 Mindestlöhnen entspricht. Da die Familien der Opfer meist arme Favela-Bewohner*innen sind, würden höhere Entschädigungssummen eine „ungerechtfertigte Bereicherung“ darstellen, argumentieren die Richter. Der Rassismus in Brasilien wird von der Mittel- und Oberschicht verharmlost, aber es liegt auf der Hand, dass er einer der gewalttätigsten der Welt ist. Es ist höchste Zeit, diesem Genozid an der schwarzen Bevölkerung ein Ende zu setzen.