Norma, du lebst seit vier Jahren hier. Wie würdest du die Situation in Tumaco beschreiben?
Tumaco ist ein Ort, der sehr von Gewalt geprägt ist. Alle bewaffneten Gruppen Kolumbiens sind hier in der Region präsent und kämpfen um ihre Territorien und Einflussbereiche. Es gibt Kämpfe um die Straßenverbindungen, um die Kokaproduktion, es gibt Schutzgelderpressungen….all das verstärkt durch Tumacos Hafen und die Nähe zur ecuadorianischen Grenze. Die Stadt liegt weit entfernt von anderen Städten Kolumbiens und ist nicht leicht zu erreichen. Das Gesundheitssystem ist in einem katastrophalen Zustand. Für die Menschen hier ist es schwer, eine Arbeit zu finden, eine gute Schulausbildung zu bekommen oder sich beruflich zu entwickeln. Die staatlichen Behörden ziehen sich aus der Verantwortung und es gibt viel Korruption. Einige Menschen versuchen aktiv, die Situation zu verbessern, aber es ist schwierig. Der Krieg geht weiter, es gibt immer mehr Polizei und Armee, und jeden Tag werden Menschen ermordet.
Sind die Friedensverhandlungen, die gerade auf Kuba stattfinden, hier in Tumaco ein Thema?
Von den Verhandlungen bekommen die Leute hier nicht viel mit, und es interessiert sie auch nicht. Sie sind kein Thema. Was hier dominiert, ist die Gewalt. Eine Zeitlang gab es fast jedes Wochenende Bombenanschläge. Menschen werden ermordet und die Mörder bleiben straffrei.
Ich habe in Tumaco mit vielen Leuten gesprochen und mein Eindruck ist, dass die Gewalt hier einen alltäglichen Charakter angenommen hat, fast schon normal geworden ist. Wie bekommt ihr das im Alltag zu spüren?
Es kommt beispielsweise immer wieder vor, dass eine Schauspielerin oder ein Schauspieler nicht zur Probe kommt und danach erzählt, dass sie verhindert war, da ihr Vater ermordet wurde, oder ihr Onkel. Viele sind bereits Zeugen von Mordanschlägen geworden, manche kennen sogar die Mörder und werden selbst von ihnen bedroht. In Tumaco kann es sehr gefährlich sein, einen Mord anzuzeigen. Die Menschen sind daran gewöhnt, die Täter in aller Ruhe durch die Stadt laufen zu sehen. Die Morde sind hier so alltäglich geworden. Früher war es noch ein Skandal, wenn jemand ermordet wurde, heute möchte niemand hinsehen – aus Angst. Es ist so normal geworden, die Menschen haben sich daran gewöhnt. Aber unsere Theatergruppen wollen nicht schweigen, sondern die Dinge sichtbar machen. Wenn wir das nicht tun würden, würden wir uns auch daran gewöhnen.
Und wer ist für die Morde verantwortlich?
Viele unterschiedliche bewaffnete Gruppen. Meist sind es Auftragsmorde und die Menschen wissen gar nicht mehr, welche Gruppe hinter einem Mord steckt. „Umsonst werden sie ihn schon nicht umgebracht haben“, heißt es oft, „irgendeinen Grund wird es schon geben“. Dass ein Mordopfer unschuldig gewesen sein könnte, darüber denkt hier kaum jemand nach.
Wie in anderen Regionen Kolumbiens scheint es bei diesen Morden vor allem darum zu gehen, eine Atmosphäre von Terror und Angst zu schaffen. Letztlich eine Strategie der Machtausübung.
Ja. Das erste, was die paramilitärischen Gruppen hier gemacht haben, war, Menschen in aller Öffentlichkeit zu ermorden, am hellichten Tag. Inzwischen ist das Morden hier zur allgemeinen Praxis geworden: einfach nur, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Oder als Mittel im Kampf um Territorien und Einflussbereiche im Drogenhandel. Oder um einen Bürgermeisterkandidaten auszuschalten. Eifersüchtige Ehemänner ermorden ihre Frauen. Unternehmer ermorden Minenarbeiter, um sie nicht bezahlen zu müssen. Es gibt Menschen, die als illegalisierte Arbeiter kommen, ohne Dokumente, sie kehren nicht zurück, sie verschwinden einfach. Die Täter können dabei davon ausgehen, straffrei zu bleiben, sie können in Ruhe und vor aller Augen über die Straße gehen. Die Gewalt hat hier Vor- und Nachnamen und geht über die Straße.
Seit mittlerweile vier Jahren arbeitet ihr mit Theater, um die Dinge sichtbar zu machen, um die alltägliche Gewalt zu thematisieren, um die Erinnerung an die Opfer der Gewalt wachzuhalten. Letztlich, um Themen anzusprechen, die anzusprechen sich sonst niemand traut. Wie macht ihr das?
Die Diözese von Tumaco erstellt regelmäßig einen Bericht, in dem Menschenrechtsverletzungen dokumentiert werden. Dieser Bericht stellt das Material für unsere Theaterproduktionen dar. Viele Menschen in Tumaco kennen diesen Bericht nicht, sie haben ihn nicht gelesen. Wir sagen immer, dass wir mit unserem Theater dem Bericht ein Bild verleihen. Wir nehmen die Aussagen und Zeugnisse über die dokumentierten Menschenrechtsverletzungen zum Ausgangspunkt unserer Theaterarbeit. Unsere Stücke führen wir aus Sicherheitsgründen in Kirchen auf, nicht auf der Straße. Oft sogar während der Messe: anstelle der Predigt kommt dann ein Theaterstück. Wir spielen auch gelegentlich in Schulen oder im Rahmen von Menschenrechtsforen und Theaterfestivals außerhalb von Tumaco. Oft begleitet uns dabei der Bischof von Tumaco.
In eurer aktuellen Produktion El olvido está lleno de memoria (Das Vergessen ist voller Erinnerung) – ein Zitat von Mario Benedetti – bezieht ihr euch auf das afrokolumbianische Ritual des Chigualo. Der Chigualo wird in eurem Stück zur Metapher, um reale Fälle von Vergewaltigungen, Morden und Massakern zu thematisieren und den Blick auf die Unschuld der Opfer zu lenken.
Der Chigualo ist letztlich eine Form der Totenwache, aber für ein Kind. Wenn in Tumaco ein Kind stirbt, dann gibt es bei der Beerdigung keine Gebete, kein lautes Wehklagen wie nach dem Tod von Erwachsenen, sondern Spiele. Die Menschen spielen und singen, sie setzen dabei glückliche Gesichter auf. Erwachsene machen Kinderspiele, um sich an ein Kind zu erinnern, das beispielsweise an einer Krankheit gestorben ist. Der Chigualo ist eng mit einer Idee von Unschuld verbunden: der Unschuld eines verstorbenen Kindes. In unserer aktuellen Produktion greifen wir diese Symbolik auf, um an die Opfer der Gewalt zu erinnern.
Die Lieder und Spiele des Chigualo ziehen sich wie ein roter Faden durch euer Stück. Ihr arbeitet mit Originalzitaten aus persönlichen Zeugnissen, die Eingang in den Menschenrechtsbericht gefunden haben. Ihr macht den Text dieser Aussagen hörbar, untermalt ihn mit Bildern, dazwischen werden immer wieder Kinderspiele aus dem Chigualo dargestellt und Arrullos, die Wiegenlieder des Chigualo, gesungen.
Das sind Spiele und Lieder des Lebens, keine Klagelieder, sondern Wiegenlieder. Sie sollen den Opfern der Gewalt Würde verleihen, und sie thematisieren ihre Unschuld. All die Fälle, die wir in dem Stück thematisieren, sind reale Fälle aus der Region. Die Spiele und Lieder des Chigualo sind eine sehr interessante Symbolik, die die Menschen zum Nachdenken anregen kann.
Wie reagiert das Publikum auf eure Theaterstücke?
Als wir vor ein paar Jahren begannen, war das ganz neu. Viele Menschen hatten Angst, wenn wir aufführten, manche verließen sogar die Kirche. Es kamen aber auch von Beginn an Menschen nach Ende der Aufführung zu uns und weinten vor Dankbarkeit. Sie verstanden unsere Theaterarbeit als eine Form der Solidarität mit ihren Angehörigen, mit den Opfern. Wenn wir auf Menschenrechtskongressen auftreten und, anders als während der Messe, im Anschluss an das Stück der Menschenrechtsbericht vorgestellt wird oder eine Diskussion stattfindet, beginnen Menschen, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Eigentlich gibt es immer Menschen, die im Anschluss zu uns kommen und uns von sich selbst erzählen. Für manche kann es auch eine schwere Erfahrung sein, unsere Stücke zu sehen. Auch für die Theatergruppen war es am Anfang nicht einfach, insbesondere die Jugendlichen hatten Angst, die Dinge öffentlich beim Namen zu nennen. Das hat sich inzwischen geändert.
Warum glaubst du, dass ihr mit eurer Theaterarbeit Dinge thematisieren könnt, die sonst kaum thematisierbar wären?
Aus meiner Sicht vermittelt ein theatraler Raum ein Gefühl von Sicherheit. Die Theaterstücke geben einen Rahmen, um Dinge zu benennen, zu erzählen, zu sprechen, und die Menschen im Publikum spüren, dass wir von ihnen sprechen. Es sind ihre eigenen Themen und sie fühlen sich beteiligt. Die Themen sind ja nicht frei erfunden, es sind reale Fälle, und das Stück entsteht in einem Prozess der creación colectiva, der gemeinsamen Stückentwicklung, und mit Methoden des Theaters der Unterdrückten. Die Menschen erkennen sich und ihre Realität in den Stücken wieder.
Das Stück wird bei der Woche für den Frieden Premiere haben, die im September in Tumaco stattfindet.
Richtig. Diese Semana por la Paz gibt es in ganz Kolumbien, in Tumaco findet sie zum Jahrestag des Todes von Hermana Yolanda statt. Sie war Leiterin der Sozialpastorale der Diözese und wurde am 19. September 2001 ermordet. Während der Semana por la Paz spielen wir jeden Tag in einer anderen Kirche Tumacos. Während des Tages gibt es Demonstrationen, Veranstaltungen zur Erinnerung an Hermana Yolanda, Ausstellungen mit Bildern von Opfern, Tanzaufführungen, am Abend dann die Messe in der Kirche und unser Theaterstück. Die Woche ist ein Treffen von Initiativen für den Frieden, von Stimmen des Lebens. Ein Treffen, das Kraft gibt, die Stimme für den Frieden zu erheben. Tumaco braucht den Frieden.